OGH 1Ob169/15g

OGH1Ob169/15g22.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K***** W*****, vertreten durch Dr. Johannes Öhlböck, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Stadt W*****, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Rechtsanwalt in Wien, wegen 100.000 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. Mai 2015, GZ 14 R 140/14g‑16, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 21. August 2014, GZ 31 Cg 14/14b‑12, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0010OB00169.15G.1222.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.147,04 EUR (darin 357,84 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Begründung

Der Kläger wurde im Mai 1955 geboren. Mit Erklärung vom 30. 4. 1971 übergab ihn sein Vater wegen eines „Erziehungsnotstands“ in die Pflege und Erziehung der beklagten Stadt. Vom 3. 5. 1971 bis 13. 9. 1972 war er sodann in verschiedenen Heimen der Beklagten untergebracht. Vom 13. 9. 1972 bis 6. 10. 1972 befand er sich wegen einer Lungenentzündung in stationärer Behandlung einer Klinik. Am 6. 10. 1972 wurde er in die Obsorge seiner Eltern entlassen.

Dem Kläger wurde mit Schreiben einer Opferhilfeorganisation vom November 2011 eine Entschädigung von 30.000 EUR durch die Beklagte und die Kostenübernahme für 80 Therapiestunden zuerkannt. Im Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass diese Entschädigungsleistung von der Beklagten in Wahrnehmung ihrer Verantwortung finanziert werde und als Anerkennung für das am Kläger begangene Unrecht gedacht sei, ohne den Anspruch zu erheben, dieses Unrecht aufzuwiegen. Es enthielt auch den Hinweis: „Natürlich steht Ihnen auch weiterhin der Rechtsweg offen.“

In einem undatierten Bericht der Kinder‑ und Jugendanwaltschaft (W*****) in ihrer Funktion als Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder wird mehrfach betont, die Beklagte anerkenne „ihre Verantwortung für das begangene Unrecht; [die Opferhilfeorganisation] als unabhängige Opfereinrichtung solle Schmerzengeldzahlungen an die Opfer durchführen, wobei ihnen der Rechtsweg erhalten bleiben solle“. Im Schreiben der Opferhilfeorganisation vom 21. 2. 2011 wird deren Präsident zitiert: „... die Entschädigungszahlungen, die wir dank der Stadt W***** ‑ trotz rein rechtlicher Verjährung in den meisten Fällen ‑ unbürokratisch leisten können, sind ein Zeichen für diese Anerkennung des Opferstatus.“ Weiters heißt es: „Die Höhe der finanziellen Entschädigungen orientiert sich an der gängigen Schadenersatzjudikatur, je nach individuellem Fall kann davon auch abgewichen werden. Jedem Opfer steht der Zivilrechtsweg weiter offen; …“ Diese Schreiben enthalten keine konkreten Zusagen bestimmter Entschädigungen an bestimmte Personen oder Verzichtserklärungen in Ansehung einer Verjährung.

Der Kläger forderte die Beklagte mit Schreiben vom 6. 2. 2013 auf, seine Forderungen anzuerkennen. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 30. 4. 2013 ab.

Mit seiner am 28. 3. 2014 eingebrachten Klage begehrte er von der Beklagten 100.000 EUR sA an Schadenersatz und die Feststellung ihrer Haftung für sämtliche Schäden aus seiner körperlichen, seelischen und sexuellen Misshandlung während seines Aufenthalts in Kinder‑ und Jugendheimen der Beklagten und in solchen Heimen, in die ihn die Beklagte geschickt habe.

Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren infolge Verjährung ab. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil keine Rechtsprechung zur Frage bestehe, ob in Ansehung bloß mithaftender (juristischer) Personen doch die lange Verjährungsfrist zum Tragen komme, falls die dreijährige Verjährungsfrist erst nach dem Ablauf der langen Frist ablaufen oder überhaupt erst zu laufen beginnen würde, und ob im Fall qualifiziert strafbarer Handlungen im Sinn des § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB die kurze Verjährungsfrist überhaupt zur Anwendung gelangen könne, indem sie erst nach dem Ablauf der langen 30‑jährigen Verjährungsfrist ablaufe oder überhaupt erst zu laufen beginne.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) ‑ Ausspruch des Berufungsgerichts hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ab; gemäß § 510 Abs 3 ZPO kann sich der Oberste Gerichtshof auf die Ausführung der wesentlichen Zurückweisungsgründe beschränken:

1. Einer Stellungnahme zu den Fragen, ob der Fall einer Dissoziation infolge eines sexuellen Missbrauchs (also einer Abspaltung der Erinnerung an den Missbrauch vom Bewusstsein des Klägers) von § 1494 ABGB erfasst ist oder nicht, ob allenfalls die ‑ objektive ‑ dreißigjährige Frist des § 1489 Satz 2 ABGB zur Anwendung gelangt oder im Hinblick auf einen allfälligen Amtshaftungsanspruch die zehnjährige Verjährungsfrist des § 6 Abs 1 AHG und ob die Ablaufhemmung nach § 1494 Satz 2 ABGB auch auf die dreißig- bzw zehnjährige Verjährung anzuwenden ist oder nicht, bedarf es im vorliegenden Verfahren nicht.

2. Nach § 1494 Satz 1 ABGB kann die Verjährungszeit unter anderem gegen Minderjährige nicht anfangen, sofern diesen ein gesetzlicher Vertreter nicht bestellt ist. Der Kläger wurde am 26. 5. 1974 volljährig (vgl § 21 Abs 2 ABGB idF BGBl 1973/108). Weder der Akteninhalt noch das Vorbringen des Klägers bieten jedoch einen Anhaltspunkt dafür, dass er damals nicht (zumindest durch seinen Vater) gesetzlich vertreten gewesen wäre oder dass sein gesetzlicher Vertreter sich in einer Interessenkollision befunden hätte (vgl dazu § 147 ABGB idF BGBl 1973/108 [„väterliche Gewalt“] und 6 Ob 234/13z mwN). Derartiges behauptet er auch in der Revision nicht. Damit begann ‑ selbst wenn die dreißigjährige Verjährungsfrist des § 1489 Satz 2 ABGB zur Anwendung gelangen sollte ‑ diese Frist spätestens Mitte September 1972 zu laufen. Am 13. 9. 1972, dem unstrittig letztmöglichen Zeitpunkt seelischer und körperlicher Misshandlungen und eines sexuellen Missbrauchs des Klägers, erfolgte seine „endgültige“ Entlassung aus den Heimen der Beklagten. Nach seinen Klagsbehauptungen erlitt er zahlreiche Körperverletzungen, litt ständig an psychischen Problemen, die auch deshalb eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich machten, und bei ihm setzte eine Dissoziation ein. Die mit der erst Ende März 2014 gerichtsanhängigen Klage geltend gemachten Schadenersatzansprüche wären infolge Ablaufs der dreißigjährigen Verjährungsfrist jedenfalls verjährt.

3. Erlangt der Geschädigte vor Ablauf der objektiven zehnjährigen Verjährungsfrist des § 6 Abs 1 Satz 2 AHG Kenntnis vom Schaden, hat er seinen Anspruch bei sonstiger Verjährung dennoch innerhalb dieser Frist geltend zu machen, sofern die dreijährige (subjektive) Frist nicht noch früher abläuft und die Verjährung herbeiführt (1 Ob 41/15h = RIS‑Justiz RS0130160). Schon 1951 hat Klang (in Klang 2 VI 638 mwN) zum Verhältnis der langen (objektiven) und kurzen (subjektiven) Frist des § 1489 ABGB die Auffassung vertreten, dass mit Ablauf der langen Frist der späteste Zeitpunkt für die Geltendmachung des Anspruchs verstrichen ist. Dieser Rechtsansicht hat sich der erkennende Senat bereits angeschlossen (1 Ob 41/15h mwN). Die langen Verjährungszeiten von dreißig Jahren nach § 1489 ABGB oder von zehn Jahren nach § 6 Abs 1 AHG, absolute Höchstfristen, laufen unabhängig von der Kenntnis ab, weshalb es nicht darauf ankommt, ob und wann der (frühere) gesetzliche Vertreter des Klägers Kenntnis von den behaupteten Misshandlungen erlangt hat; gleiches gilt für die Kenntnis des Geschädigten (vgl 1 Ob 38/10k = RIS‑Justiz RS0034502 [T2]; 1 Ob 41/15h).

4. Nach § 1494 Satz 2 ABGB läuft die einmal angefangene Verjährungsfrist zwar fort, sie kann aber nie früher als binnen zwei Jahren nach dem Wegfall des Hemmungsgrundes nach Satz 1 vollendet werden. Die vom Kläger behauptete Dissoziation fiel spätestens im November 2011 weg. Zu diesem Zeitpunkt erhielt er eine Entschädigung von der Beklagten und (jedenfalls) seit damals erinnert er sich wieder an die Vorfälle. Selbst wenn man eine (allfällige) Dissoziation bis November 2011 als von § 1494 ABGB erfasst ansehen würde, wäre die Ablaufshemmung nach dessen Satz 2 im Jahr 2013 und selbst unter Berücksichtigung der allenfalls nach § 6 Abs 1 Satz 3 iVm § 8 Abs 1 AHG zusätzlich zu berücksichtigenden Fortlaufshemmung von hier knapp zwei Monaten der Fristablauf spätestens Ende Jänner 2014 eingetreten (vgl 6 Ob 234/13z). Selbst wenn § 1494 Satz 2 ABGB auf die lange (objektive) Verjährungsfrist zur Anwendung gelangte und deren Ablauf gehemmt wäre, wäre der mit Klage vom 28. 3. 2014 begehrte Schadenersatzanspruch verjährt.

5. Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass die Anwendung der vierzigjährigen Verjährungsfrist des § 1485 iVm § 1472 ABGB auf die Schadenersatzansprüche des Klägers sowohl dem Wortlaut als auch dem Zweck dieser Bestimmungen widerspräche.

6. Dass die von der Beklagten erhobene Verjährungseinrede weder gegen Treu und Glauben verstößt, noch ein Verzicht darauf vorliegt und die Beklagte die Forderung auch nicht anerkannt hat, hat bereits das Berufungsgericht zutreffend dargelegt, auf dessen Ausführungen verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO).

7. Im gegenständlichen Fall besteht kein Unionsrechtsbezug (in diesem Sinn auch 2 Ob 219/14s). Im Übrigen ist nicht erkennbar, inwiefern durch die Anwendung der Verjährungsbestimmungen gegen Art 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („Nichtdiskriminierung“) verstoßen worden sein sollte. Dass in diesem Zusammenhang eine im nationalen Recht vorgesehene Verjährungsfrist von dreißig Jahren nicht gegen den Äquivalenzgrundsatz verstößt, hat der EuGH bereits ausgesprochen (Urteile C‑429/12, Pohl, ECLI:EU:C:2014:12, Rn 27 ff; C‑417/13, ÖBB‑Personenverkehr, ECLI:EU:C:2015:38, Rn 66 f).

Auch der Anregung, ein Gesetzesprüfungsverfahren beim VfGH dahingehend zu beantragen, „ob die Verjährungsbestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (insbesondere § 1494 ABGB, § 1472 ABGB, § 1489 ABGB, § 6 AHG) wegen Verletzung“ verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte als verfassungswidrig aufzuheben seien, ist nicht zu folgen. Der Kläger vermag nicht darzulegen, inwiefern auch nur annähernd eine Verfassungswidrigkeit der pauschal genannten Bestimmungen vorliegen soll.

8. Die Revision ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 und § 50 Abs 1 ZPO. Die Beklagte hat in der Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen, sodass ihr Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung dient.

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