Normen
EIRAG 2000 §5
EIRAG 2000 §5 Abs1
SPG 1991 §38a
SPG 1991 §38a Abs1
VwGG §23 Abs1
VwRallg
WaffG 1996 §13 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023010038.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Angefochtenes Erkenntnis
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Maßnahmenbeschwerde des Mitbeteiligten gegen ein am 21. April 2022 ausgesprochenes Betretungs- und Annäherungsverbot Folge gegeben und das am 21. April 2022 um 8:05 Uhr von einem Beamten der Polizeiinspektion Bruck an der Leitha gegenüber dem Beschwerdeführer ausgesprochene Betretungs- und Annäherungsverbot für eine näher bezeichnete Wohnung in Bruck an der Leitha sowie das damit verbundene vorläufige Waffenverbot für rechtswidrig erklärt (Spruchpunkt 1.). Der Bund wurde verpflichtet, dem Mitbeteiligten gemäß § 35 VwGVG Aufwendungen zu ersetzen, wobei deren Bestimmung der Höhe nach einem besonderen Beschluss vorbehalten blieb (Spruchpunkt 2.). Eine Revision wurde für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt 3.).
2 Begründend stellte das Verwaltungsgericht zunächst (unter anderem) fest, der Mitbeteiligte und seine Ehefrau bewohnten gemeinsam mit ihren beiden minderjährigen Kindern ein Reihenhaus. Zwischen den beiden Ehegatten habe es seit Anfang 2020 regelmäßig Streitereien gegeben. Auch am Morgen des 21. April 2022 sei es im Haus zu einem Streit zwischen den beiden gekommen, im Zuge dessen die Ehefrau kurz nach 07:30 Uhr die Polizei verständigt habe. Etwa 15 min später seien zwei Polizeibeamte der Polizeiinspektion Bruck an der Leitha eingetroffen. Um 08:05 Uhr seien gegenüber dem Mitbeteiligten auf Grundlage des § 38a Abs. 1 SPG ein Betretungsverbot für das Reihenhaus sowie ein Annäherungsverbot „an“ die Ehefrau und die beiden gemeinsamen Kinder (jeweils samt einem Umkreis von 100 m) ausgesprochen worden.
3 In der im Anschluss an die Amtshandlung erstellten „Dokumentation gemäß § 38 SPG“ heiße es unter anderem, dass beide Ehegatten lautstark versucht hätten, den Beamten ihre Version der Geschichte zu präsentieren, wobei beide auf mittlerweile fast tägliche Streitereien hingewiesen hätten. Der Mitbeteiligte habe bestritten, jemals gegenüber seiner Frau gewalttätig geworden zu sein. Die Streitereien seien meist lediglich verbal verlaufen, „körperlich sei es maximal zu einem Schubsen gekommen“. Die Ehefrau habe angegeben, der Mitbeteiligte „würde sie ständig verbal provozieren, wodurch es zu gegenseitigen Handgreiflichkeiten komme, bei denen sie sich lediglich verteidige und deshalb zurückschlage“. Die Tochter habe angegeben, dass ihre Eltern sehr oft streiten würden und „dabei aufeinander losgehen und auch aufeinander einschlagen würden“. Aktuell habe die Ehefrau den Mitbeteiligten „von hinten mit den Händen attackiert und auf den Rücken geschlagen, wobei er zwar nicht sichtbar verletzt worden sei, jedoch in einer Drehbewegung den warmen Kaffee verschüttet habe“ (so der Mitbeteiligte), bzw. habe der Mitbeteiligte „absichtlich Kaffee über sie geschüttet, wobei auch die Tochter getroffen worden sei“ (so die Ehefrau); die Tochter „sei nicht verletzt und der Kaffee vom aktuellen Vorfall sei warm, aber nicht heiß gewesen“ (so die Tochter).
4 Als Tatsachen für die Annahme eines zu erwartenden gefährlichen Angriffs seien in der Dokumentation gemäß § 38a [Abs. 6] SPG angeführt: „Ehestreit mit drohender Eskalation und insbesondere der Behauptung vorangegangener gefährlicher Angriffe sowie der Annahme, das[s] ein weiterer gefährlicher Angriff zu erwarten sei.“ Zusätzliche Indikatoren für einen solchen gefährlichen Angriff seien die von der Ehefrau behaupteten (jedoch nicht angezeigten) früheren Handgreiflichkeiten im Zuge von Streitereien, das seit ca. zwei Jahren kaputte Eheleben, wobei jedoch die Trennung noch nicht vollzogen sei, sowie die Streitereien seit ca. einem Jahr, deren Intensität stetig zunehme. Weiters habe der Mitbeteiligte den Sachverhalt ins Lächerliche gezogen, was den Beamten T. zum Ankreuzen des Feldes „Verharmlosung von Gewalt“ veranlasst habe.
5 „Ergänzend bzw. präzisierend“ stellte das Verwaltungsgericht fest, dass von den Beamten „keine Spuren des verschütteten Kaffee auf der Kleidung der“ Ehefrau „vorgefunden werden konnten, die für ein gezieltes Anschütten aus der Nähe ... sprechen ... Vielmehr befanden sich auf der Kleidung der“ Ehefrau „sowie ihrer Tochter ebenso wie im gesamten Vorzimmer diffus verteilte Kaffeespritzer“. Weiters wurde festgestellt, dass der Mitbeteiligte das von den Beamten in der Dokumentation beschriebene aufbrausende, genervte und unkooperative Verhalten erst nach dem Ausspruch des Betretungs- und Annäherungsverbotes an den Tag gelegt habe.
6 In rechtlicher Hinsicht verwies das Verwaltungsgericht (u.a.) auf § 38a Sicherheitspolizeigesetz, BGBl. Nr. 566/1991 idF BGBl. I Nr. 148/2021 (SPG), sowie § 13 Abs. 1 zweiter Satz Waffengesetz 1996, BGBl. I Nr. 12/1997 idF BGBl. I Nr. 211/2021 (WaffG), und weiter auf die maßgebliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 38a SPG (VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163).
7 Sodann führte das Verwaltungsgericht aus, für die Rechtmäßigkeit des Betretungs- und Annäherungsverbotes komme es auf Umstände, die sich nach seinem Ausspruch (ex post) ereignet hätten, nicht an, weshalb es nicht von Relevanz sei, wenn sich der Mitbeteiligte gegenüber den einschreitenden Beamten nach Ausspruch des Betretungs- und Annäherungsverbotes ‑ „etwa aus Verärgerung darüber“ ‑ unkooperativ verhalten oder Unmutsäußerungen getätigt habe.
8 Die „Wahrscheinlichkeitsprognose“ müsse sich nicht nur auf einen bevorstehenden gefährlichen Angriff, sondern auch auf den Gefährder beziehen. Es bedürfe auch einer „Zuordnung dieser Wahrscheinlichkeit“ zu einem Gefährder, dem gegenüber das Verbot dann auszusprechen sei.
9 Aus der gebotenen objektiven ex‑ante‑Perspektive vor dem Ausspruch des Betretungs- und Annäherungsverbotes aus dem Blickwinkel der eingeschrittenen Beamten sei „festzuhalten, dass sich selbst unter Zugrundelegung der in der Dokumentation festgehaltenen Angaben ... keine Anhaltspunkte für frühere gefährliche Angriffe des“ Mitbeteiligten „iSd § 16 SPG gegen seine Frau oder sonstige Personen (insbesondere die beiden Kinder) ergeben. Zwar berichtete die Zeugin“ (Ehefrau) „von verbalen Provokationen und von Handgreiflichkeiten, dass sie dabei jemals insbesondere (iSd § 83 StGB) verletzt, (iSd § 105 StGB) genötigt oder (iSd § 107 StGB) gefährlich bedroht worden wäre, kann ihren damals dokumentierten Angaben jedoch nicht entnommen werden“.
10 Dasselbe gelte für den Vorfall am 21. April 2022, bei dem der vom Mitbeteiligten „verschüttete Kaffee nach den Angaben der Tochter nicht heiß und daher nicht geeignet“ gewesen sei, „eine Verletzung (konkret Verbrennung) herbeizuführen“.
11 Daher sei weder der Dokumentation noch den (auf Grundlage der Zeugenaussagen der eingeschrittenen Beamten) getroffenen ergänzenden Feststellungen ein Gesamtbild zu entnehmen, das die Prognose künftiger gefährlicher Angriffe durch den Mitbeteiligten gegen das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit seiner Ehefrau ‑ und erst recht nicht seiner Kinder ‑ vertretbar erscheinen ließe.
12 Im Hinblick auf die „Handgreiflichkeiten wie Halten oder Stoßen“ fehlte abgesehen von den Angaben der Ehefrau im Zeitpunkt des Ausspruches des Betretungs- und Annäherungsverbotes „jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass die Aggressionshandlungen jemals vom“ Mitbeteiligten „ausgegangen wären, er sich also dabei nicht nur verteidigte“.
13 Es bleibe zudem offen, „warum die Beamten nicht zumindest die Tochter (selbstverständlich in einer ihrem Alter angemessenen Art und Weise) näher dazu befragten, von wem die körperlichen Angriffe ausgingen“. „Entsprechende Angaben (allenfalls auch des beim Einschreiten in einer nahegelegenen Schule befindlichen 13-jährigen Sohnes, der bei früheren Streitsituationen zugegen war) hätten entscheidend dafür sein können, das Vorbringen der“ Ehefrau „zu werten oder zu entkräften“. Insoweit sei das Bild, auf dessen Grundlage die Beamten das Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen hätten, ohne erkennbaren Grund unvollständig geblieben.
14 Es könne auch nicht gegen den Mitbeteiligten ins Treffen geführt werden, „wenn in der Dokumentation angeführt ist, er habe Gewalt verharmlost bzw. ins Lächerliche gezogen (sofern damit überhaupt vor Verhängung des Betretungs- und Annäherungsverbotes gemeint ist, ...), lagen doch keine hinreichenden Anhaltspunkte“ für vom Mitbeteiligten „ausgehende Gewalt iSd § 38a Abs. 1 SPG vor“.
15 Zusammengefasst habe der von den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes dem Betretungs- und Annäherungsverbot zu Grunde gelegte Sachverhalt dessen Ausspruch (in der gebotenen objektiven ex‑ante‑Perspektive) nicht gerechtfertigt, weshalb das Betretungs‑ und Annäherungsverbot (und damit auch das gemäß § 13 Abs. 1 zweiter Satz WaffG ex lege damit verbundene vorläufige Waffenverbot) rechtswidrig gewesen sei, was gemäß § 28 Abs. 6 VwGVG auszusprechen gewesen sei.
16 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht unter anderem damit, dass die Entscheidung nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche.
17 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
18 Der Mitbeteiligte erstattete durch die ausgewiesene Rechtsvertreterin nach Aufforderung durch den Verwaltungsgerichtshof eine Revisionsbeantwortung (vgl. zum erforderlichen Nachweis nach § 5 EIRAG nur bei absolutem Anwaltszwang den Wortlaut des § 5 Abs. 1 Einleitungssatz EIRAG: „In Verfahren, in denen sich die Partei durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen ... muss“, die Erläuterungen zu § 5 EIRAG [RV 59 BlgNR 21. GP 15 mit Verweis auf die Erläuterungen zu § 4 EWR‑RAG 1992 RV 777 BlgNR 18. GP 8] sowie RIS‑Justiz RS0130040, insbesondere OGH 18.2.2015, 3 Ob 210/14z, 2.2.‑2.5, mwN; vgl. zum [nur] relativen Anwaltszwang für Mitbeteiligte nach § 23 Abs. 1 erster Satz VwGG VwGH 13.2.2020, Ro 2018/01/0016).
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
19 Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit ‑ mit näherer Begründung ‑ im Wesentlichen vor, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 38a SPG ab, wonach zu beurteilen sei, ob die Ansicht der Beamten über bestimmte Tatsachen, welche für die Bewertung hätten herangezogen werden können, um die Annahme zu rechtfertigen, dass ein gefährlicher Angriff bevorstehe, vertretbar gewesen sei (Verweis auf VwGH 21.12.2000, 2000/01/0003), und wonach die Einschätzung nicht bereits dann unvertretbar und das verhängte Betretungsverbot rechtswidrig sei, wenn das Verwaltungsgericht die Gefährdungslage an Hand des sich den eingeschrittenen Beamten gebotenen Gesamtbildes anders einschätze (Verweis auf VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163).
20 Die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichtes würde nach Auffassung der Amtsrevisionswerberin „erhebliche Veränderungen bei den Abwägungen polizeilicher Maßnahmen bewirken“. Auf Grund des sich im Zuge des Einschreitens den Beamten bietenden Gesamtbildes vor Ort sowie der erhobenen Tatsachen seien die Beamten ‑ mit näherer Begründung ‑ zur Aussprache eines Betretungs- und Annäherungsverbotes verpflichtet gewesen und sei dieses auch gerechtfertigt gewesen.
21 Der Mitbeteiligte bringt in seiner Revisionsbeantwortung vor, das Verwaltungsgericht sei nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, sondern habe diese „exakt“ angewendet. So zeige die Aussage der Tochter, „dass die Eltern sehr oft streiten würden, dabei aufeinander losgehen und auch aufeinander einschlagen würden“, dass beide Ehepartner „involviert“ gewesen seien und die Aggression nicht einseitig vom Mitbeteiligten ausgegangen sei. Keine „dieser Handlungen“ habe „die Qualität einer strafrechtlich relevanten Tat“ und keine Strafanzeige zur Folge gehabt. Das Verwaltungsgericht habe diese Aussage völlig richtig interpretiert und „auf das Gesamtbild einer zerrütteten Ehe abgestellt“.
22 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
Rechtslage
23 § 38a SPG, BGBl. Nr. 566/1991 idF BGBl. I Nr. 124/2021, lautet auszugsweise:
„Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt
§ 38a. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einem Menschen, von dem auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass er einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, begehen werde (Gefährder), das Betreten einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, samt einem Bereich im Umkreis von hundert Metern zu untersagen (Betretungsverbot). Mit dem Betretungsverbot verbunden ist das Verbot der Annäherung an den Gefährdeten im Umkreis von hundert Metern (Annäherungsverbot).
...
(6) Bei der Dokumentation der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots ist auf die für das Einschreiten maßgeblichen Umstände sowie auf jene Bedacht zu nehmen, die für ein Verfahren nach §§ 382b und 382c EO oder für eine Abklärung der Gefährdung des Kindeswohls durch den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger von Bedeutung sein können.“
24 § 13 Abs. 1 WaffG, BGBl. I Nr. 12/1997 idF BGBl. I Nr. 211/2021, lautet (Unterstreichung durch den Verwaltungsgerichtshof):
„Vorläufiges Waffenverbot
§ 13. (1) Die Organe der öffentlichen Aufsicht sind bei Gefahr im Verzug ermächtigt, ein vorläufiges Waffenverbot auszusprechen, wenn sie Grund zur Annahme haben, dass der Betroffene durch missbräuchliches Verwenden von Waffen Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder fremdes Eigentum gefährden könnte. Zudem gilt mit Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes gemäß § 38a SPG ein vorläufiges Waffenverbot als ausgesprochen. Darüber hinaus sind sie in diesen Fällen ermächtigt,
1. Waffen und Munition sowie
2. Urkunden (ausgenommen Jagdkarten), die nach diesem Bundesgesetz zum Erwerb, Besitz, Führen oder zur Einfuhr von Waffen oder Munition berechtigen,
sicherzustellen. Die Organe haben dem Betroffenen über die Aussprache des vorläufigen Waffenverbots sowie im Falle einer Sicherstellung über diese sofort eine Bestätigung auszustellen.“
Rechtsprechung des VwGH zu § 38a SPG
25 Der Verwaltungsgerichtshof hat zu dem in § 38a Abs. 1 erster Satz SPG normierten Betretungsverbot (mit dem seit der SPG‑Novelle BGBl. I Nr. 105/2019 auch ein Annäherungsverbot verbunden ist) in seiner Rechtsprechung bereits ausreichende Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festgelegt (vgl. zur Leitfunktion des Verwaltungsgerichtshofes im Revisionsmodell etwa VwGH 7.7.2022, Ra 2022/01/0153, mwN). Dabei ist insbesondere auf die Rechtsprechung hinzuweisen, in welcher der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf seine bisherige ständige Rechtsprechung den Gegenstand der Überprüfung eines Betretungsverbotes nach § 38a SPG durch das Verwaltungsgericht klargestellt hat (vgl. VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163, mwN). Diese grundlegende Rechtsprechung ist auch für die vorliegende Rechtslage des § 38a SPG weiterhin maßgeblich (vgl. etwa VwGH 14.2.2023, Ra 2022/01/0334, mit Verweis auf VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163).
26 Vorliegend hat das Verwaltungsgericht diese Rechtsprechung zwar wiedergegeben, jedoch die vom Verwaltungsgerichtshof in dieser Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze aus folgenden Erwägungen nicht beachtet:
Abweichen von der Rechtsprechung zu § 38a SPG
Gegenstand der Überprüfung
27 Nach den oben angeführten Leitlinien ist Gegenstand der Überprüfung durch das Verwaltungsgericht, ob für die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes auf Grund des sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietenden Gesamtbildes und ausgehend vom Wissensstand der Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens hinreichende Gründe für das Bestehen einer vom Gefährder ausgehenden, das angeordnete Betretungsverbot rechtfertigenden Gefahr iSd § 38a SPG vorlagen. Dabei hat das Verwaltungsgericht nicht seine eigene Beurteilung des sich den einschreitenden Organen bietenden Gesamtbildes und nicht seinen eigenen Wissensstand an die Stelle des Blickwinkels der Beamten zu setzen. Die Annahme der Beamten eines bevorstehenden vom Gefährder ausgehenden gefährlichen Angriffs auf Leben, Gesundheit oder Freiheit ist somit nicht bereits dann unvertretbar und das verhängte Betretungsverbot rechtswidrig, wenn das Verwaltungsgericht die Gefährdungslage an Hand des sich den eingeschrittenen Beamten gebotenen Gesamtbildes anders einschätzt (vgl. VwGH Ra 2019/01/0163, Rn. 14).
28 Vorliegend hat das Verwaltungsgericht jedoch ‑ wie von der Amtsrevision zu Recht vorgebracht ‑ seine eigene Beurteilung des sich den einschreitenden Organen bietenden Gesamtbildes an die Stelle des Blickwinkels der Beamten gesetzt.
29 Wenn das Verwaltungsgericht zum Ergebnis kommt, weder der Dokumentation noch den ergänzenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts sei ein Gesamtbild zu entnehmen, das die Prognose künftiger gefährlicher Angriffe vertretbar erscheinen ließe, so geht das Verwaltungsgericht bei dieser Einschätzung zunächst nicht von dem durch die einschreitenden Beamten als wesentlich wahrgenommenen und daher in der Dokumentation auch festgehaltenen Gesamtbild aus. Vielmehr traf das Verwaltungsgericht (wenn auch nach Befragung der einschreitenden Beamten) ergänzende Feststellungen und ergänzte somit das von den Beamten wahrgenommene Gesamtbild. Entscheidend ist aber das sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietende Gesamtbild nach dem Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt seines Einschreitens (vgl. VwGH Ra 2019/01/0163, Rn. 10).
30 Die vom Verwaltungsgericht gewählte Vorgangsweise, einzelne Details des Gesamtbildes mit besonderem Gewicht auszustatten, ist problematisch. So rügt die Amtsrevision zutreffend, „dass für die Polizeiorgane, welche die Situation und Eskalation vor Ort zu bewerten haben, nicht ausschließlich die Kaffeeflecken am Boden oder auf der Kleidung maßgeblich sind für die Beurteilung und haben diese dazu auch nicht die Möglichkeit, Schüttbilder in einem ruhigen Verhandlungsraum sechs Stunden lang zu erörtern“. Die Hervorhebung dieses Details steht im Gegensatz zur minderen Gewichtung anderer Aspekte des sich den einschreitenden Beamten bietenden Gesamtbildes durch das Verwaltungsgericht, wie den (von der Ehefrau des Mitbeteiligten gewählten) Polizei-Notruf, der nach dem Vorbringen der Amtsrevision eine „Schwelle“ darstelle, „die man nicht grundlos übertritt und somit jedenfalls ein Indiz für einen dringenden Hilferuf“ sei, oder das sich den Beamten bietende Erscheinungsbild der Ehefrau des Mitbeteiligten.
31 Dass das Verwaltungsgericht seine eigene Beurteilung des Gesamtbildes an die Stelle des Blickwinkels der Beamten gesetzt hat, wird aber insbesondere deutlich, wenn das Verwaltungsgericht die Angabe der Ehefrau, wonach „es zu gegenseitigen Handgreiflichkeiten komme, bei denen sie sich lediglich verteidige und deshalb zurückschlage“, dahingehend neu bewertet, dass es dieser Angabe kein Gewicht zumisst, sondern festhält, im Hinblick auf die „Handgreiflichkeiten wie Halten oder Stoßen“ fehlte abgesehen von den Angaben der Ehefrau im Zeitpunkt des Ausspruches des Betretungs- und Annäherungsverbotes „jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass die Aggressionshandlungen jemals vom“ Mitbeteiligten „ausgegangen wären“.
Anwendung von Gewalt in Form „bloßer“ Misshandlungen ohne Verletzungserfolg
32 Was nun die festgestellten „Handgreiflichkeiten“ angeht, hält das Verwaltungsgericht selbst fest, der Mitbeteiligte habe angegeben, die Streitereien seien meist lediglich verbal verlaufen, „körperlich sei es maximal zu einem Schubsen gekommen“. Als entscheidend führt das Verwaltungsgericht auch an, die Ehefrau habe zwar „von verbalen Provokationen und von Handgreiflichkeiten“ berichtet, „dass sie dabei jemals insbesondere (iSd § 83 StGB) verletzt, (iSd § 105 StGB) genötigt oder (iSd § 107 StGB) gefährlich bedroht worden wäre, kann ihren damals dokumentierten Angaben jedoch nicht entnommen werden“. Das (für das Verwaltungsgericht entscheidende Gesamtbild) wird damit umschrieben, dass die von den Beamten wahrgenommene und dokumentierte Situation klar „das Bild einer schon seit längerem zerrütteten Ehe mit ständigen Streitereien zwischen den Ehepartnern zeige, bei denen es zuletzt auch zu Handgreiflichkeiten wie Halten oder Stoßen (jedoch nicht darüber hinaus) kam“ (Unterstreichung durch den Verwaltungsgerichtshof).
33 Mit dieser solcherart zum Ausdruck kommenden Auffassung verkennt das Verwaltungsgericht, dass nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch die Anwendung von Gewalt in Form „bloßer“ Misshandlungen ohne Verletzungserfolg, wie etwa Stoßen, Niederwerfen, Fußtritte, auf ein erhöhtes Aggressionspotential hinweisen und im Zusammenhang mit dem sich den Beamten bietenden Gesamtbild die Prognose eines drohenden gefährlichen Angriffs begründen kann (vgl. VwGH Ra 2019/01/0163, Rn. 12, mwN; Unterstreichung durch den Verwaltungsgerichtshof).
34 Dasselbe gilt für die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, der vom Mitbeteiligten verschüttete Kaffee sei nach den Angaben der Tochter nicht heiß und daher nicht geeignet gewesen, „eine Verletzung (konkret Verbrennung) herbeizuführen“. Darauf kommt es nach dem Obgesagten nicht an, sondern darauf, ob ein Hinweis auf ein erhöhtes Aggressionspotential vorliegt.
35 Wie der Verwaltungsgerichtshof festgehalten hat, soll nach der Intention des Gesetzgebers die sicherheitspolizeiliche Intervention bereits greifen, bevor eine strafrechtlich relevante Handlung gesetzt wird. Nur so kann der Zweck des § 38a SPG als vorbeugende Schutzmaßnahme Sinn ergeben (vgl. VwGH Ra 2019/01/0163, Rn. 13, mit Hinweis auf die Erläuterungen).
36 Daher kommt es auch nicht ‑ wie in der Revisionsbeantwortung vorgebracht ‑ darauf an, ob die Handlungen „die Qualität einer strafrechtlich relevanten Tat“ oder eine Strafanzeige zur Folge gehabt haben.
Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens
37 Das Verwaltungsgericht ist zudem der Auffassung, das Gesamtbild wäre durch die einschreitenden Beamten nicht ausreichend ermittelt worden, und vermisst eine nähere Befragung der Tochter, „von wem die körperlichen Angriffe ausgingen“, und „allenfalls auch“ die Befragung „des beim Einschreiten in einer nahegelegenen Schule befindlichen 13-jährigen Sohnes, der bei früheren Streitsituationen zugegen war“, zu diesem Thema.
38 Diese Auffassung verkennt, dass zusätzliche Ermittlungen durch die einschreitenden Beamten angesichts des Präventionscharakters eines Betretungsverbotes nicht zu verlangen sind. Vielmehr ist alleine vom Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens auszugehen, nach welchem zu beurteilen ist, ob hinreichende Gründe für das Bestehen einer vom Gefährder ausgehenden, das angeordnete Betretungsverbot rechtfertigenden Gefahr iSd § 38a SPG vorlagen (vgl. idS zu vermissten Feststellungen anlässlich eines Betretungsverbotes bereits VwGH 3.1.2023, Ra 2020/01/0030, Rn. 9, mwH auf VwGH Ra 2019/01/0163).
Waffenverbot nach § 13 Abs. 1 zweiter Satz WaffG
39 Letztlich hat das Verwaltungsgericht auch verkannt, dass gemäß § 13 Abs. 1 zweiter Satz WaffG mit Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes gemäß § 38a SPG ein vorläufiges Waffenverbot als ausgesprochen gilt und dieses Verbot daher nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung nur eine gesetzliche Folge der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes gemäß § 38a SPG und somit keine eigens verfügte und bekämpfbare Maßnahme darstellt (arg.: „gilt ... als ausgesprochen“). Daher teilt diese Form des vorläufigen Waffenverbotes zwangsläufig das rechtliche Schicksal des Betretungsverbotes, sodass es nicht geboten war, das vorläufige Waffenverbot für rechtswidrig zu erklären (vgl. anders zur Sicherstellung nach § 13 WaffG als bekämpfbare Maßnahme etwa VwGH 19.3.2021, Ra 2020/03/0130, mwN).
Ergebnis
40 Aus diesen Erwägungen hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 10. Mai 2023
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