Normen
B-VG Art133 Abs4
StbG 1985 §10 Abs1 Z6
StbG 1985 §20 Abs1
StbG 1985 §20 Abs2
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022010153.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte stellte am 4. März 2020 den Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.
2 Mit Bescheid der Amtsrevisionswerberin vom 25. September 2020 wurde dem Mitbeteiligten die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 20 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) für den Fall zugesichert, dass er binnen zwei Jahren den Nachweis des Ausscheidens aus dem türkischen Staatsverband erbringt.
3 Am 30. Dezember 2020 übermittelte der Mitbeteiligte der Amtsrevisionswerberin die „Genehmigung zum Austritt aus der türkischen Staatsangehörigkeit“, ausgestellt am 29. Dezember 2020 von der Generaldirektion für Meldewesen und Staatsangehörigkeiten der Republik Türkei, wonach dem Mitbeteiligten gemäß Art. 25 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 5901 mit dem Beschluss des Innenministeriums vom 22. Dezember 2020, Nr. 2020/22, die Genehmigung zur Entlassung aus dem türkischen Staatsverband erteilt wurde und ihm mit dem Nachweis der Einbürgerung in den österreichischen Staatsverband die Entlassungsurkunde aus der türkischen Staatsangehörigkeit ausgehändigt wird.
4 Mit Bescheid vom 26. Mai 2021 widerrief die Amtsrevisionswerberin den Zusicherungsbescheid gemäß § 20 Abs. 2 StbG (Spruchpunkt I.) und wies den Antrag des Mitbeteiligten auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 iVm § 11 StbG ab.
5 Begründend verwies die Amtsrevisionswerberin auf die insgesamt 14 zeitlich vor der Erlassung des Zusicherungsbescheides gelegenen verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen, nämlich wegen 4 Übertretungen des KFG, 7 Übertretungen der StVO, davon vier Geschwindigkeitsübertretungen und jeweils eine Übertretung des § 9 Abs. 2 StVO, § 38 Abs. 1 lit. a StVO und § 38 Abs. 5 iVm § 38 Abs. 1 lit. a StVO, und jeweils einer Übertretung des § 26 Abs. 1 Z 1 iVm § 14 Abs. 1, § 18 Abs. 1 und § 27 Abs. 2 Z 10 iVm § 21 Abs. 1 Steiermärkisches Jugendgesetz, des § 111 Abs. 1 Z 1 iVm § 33 Abs. 1 und 2 ASVG sowie des § 33 Abs. 1 Z 3 iVm § 16 des Steiermärkischen Feuer‑ und Gefahrenpolizeigesetzes (StFGPG), und auf vier zeitlich nach der Erlassung des Zusicherungsbescheides gelegene verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen jeweils wegen Übertretungen der zulässigen Geschwindigkeit gemäß § 52 lit. a Z 10a StVO bzw. § 20 Abs. 2 StVO. Demnach sei die Verleihungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Z 6 iVm § 11 StbG nicht mehr gegeben.
6 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Landesverwaltungsgericht Steiermark (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis statt, behob den Bescheid der Amtsrevisionswerberin in beiden Spruchpunkten ersatzlos (Spruchpunkt I.) und sprach aus, dass die Kosten des beigezogenen Dolmetschers vom Mitbeteiligten zu tragen seien (Spruchpunkt II.) und gegen dieses Erkenntnis eine ordentliche Revision unzulässig sei (Spruchpunkt III.).
7 Begründend führte das Verwaltungsgericht, auf das Wesentliche zusammengefasst, aus, es sei unbestritten, dass der Mitbeteiligte eine Vielzahl verwaltungsstrafrechtlicher Vormerkungen aufweise, und zwar 4 Übertretungen des § 103 Abs. 2 KFG, 11 Übertretungen der StVO und je eine Übertretung des Steiermärkischen Jugendgesetzes, des ASVG und des Steiermärkischen Feuer- und Gefahrenpolizeigesetzes (StFGPG). Die Übertretungen nach dem § 103 Abs. 2 KFG sowie jene nach der StVO, insgesamt sohin 15 verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen, habe nicht der Mitbeteiligte selbst begangen, sondern die Angestellten seines von ihm betriebenen Restaurants. Diese Übertretungen seien daher bei der Beurteilung nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG nicht heranzuziehen. Der Bestrafung wegen Übertretung des Steiermärkischen Jugendgesetzes liege zugrunde, dass der Sohn des Mitbeteiligten vor dessen 16. Geburtstag geraucht habe. Für die Beurteilung iSd § 10 Abs. 1 Z 6 StbG blieben lediglich die Übertretungen des ASVG bzw. des StFGPG über. Anonymverfügungen seien hingegen nicht zu berücksichtigen.
In Anbetracht unter anderem des langen Aufenthalts des Mitbeteiligten in Österreich und der aktiven Teilnahme am Wirtschaftsleben könne aus den beiden Verwaltungsübertretungen nicht darauf geschlossen werden, dass der Mitbeteiligte eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstelle. Ebenso ergebe sich aus dem persönlichen Eindruck des Mitbeteiligten auf das Verwaltungsgericht, dass der Mitbeteiligte zur Republik Österreich bejahend eingestellt sei und keine öffentlichen Interessen gefährde. Der angefochtene Bescheid sei daher in beiden Punkten ersatzlos zu beheben.
8 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
9 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
10 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
11 Nach § 34 Abs. 1a VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
12 Die Amtsrevisionswerberin bringt zur Zulässigkeit der Revision zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht habe durch die mangelnde Berücksichtigung sämtlicher Verwaltungsübertretungen nach der StVO und dem KFG die Bindung an die diesbezüglich rechtskräftigen Bestrafungen des Mitbeteiligten nicht beachtet.
Selbst wenn man davon ausgehe, der Mitbeteiligte habe diese Übertretung nicht selbst begangen, sei zu beachten, dass der Mitbeteiligte durch das Einstehen für diese Übertretungen anstelle seiner Angestellten die Strafbehörde vorsätzlich in die Irre geführt habe. Die unrichtige Erteilung von Lenkerauskünften stelle ihrerseits eine Verwaltungsübertretung (§ 103 Abs. 2 iVm § 134 KFG) dar. Überdies habe der Mitbeteiligte durch die regelmäßige Bezahlung von Strafmandaten seiner Mitarbeiter indirekt zur Begehung von Verwaltungsübertretungen angestiftet. Es sei erkennbar, dass für ihn sein Unternehmen gegenüber den öffentlichen Interessen im Vordergrund stehe. Als „ordentlicher Gewerbetreibender“ hätte er seine Mitarbeiter diesbezüglich vielmehr ermahnen müssen.
Wer (zumindest bedingt) vorsätzlich veranlasse, dass ein anderer eine Verwaltungsübertretung begehe, unterliege „gemäß § 7 VStG der auf solchen Übertretungen gesetzten Strafe“. Zusätzlich erzeuge der Mitbeteiligte durch das sorglose Fahrverhalten seiner Mitarbeiter eine Gefahr auf den öffentlichen Straßen sowie Aufwand und Kosten für die öffentliche Hand. Sämtliche oben angeführten Verwaltungsübertretungen einschließlich der Übertretung des Steiermärkischen Jugendgesetzes hätten daher in die Beurteilung gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG einfließen müssen.
13 Die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft gemäß § 20 Abs. 1 StbG setzt voraus, dass ‑ abgesehen vom Ausscheiden aus dem bisherigen Staatsverband binnen zwei Jahren ‑ beim Fremden alle Verleihungsvoraussetzungen vorliegen. Dementsprechend begründet sie einen nur noch durch den Nachweis des Ausscheidens aus dem fremden Staatsverband bedingten Rechtsanspruch auf Verleihung.
14 Gemäß § 20 Abs. 2 StbG ist jedoch trotz dieses bereits bestehenden bedingten Anspruchs auf Verleihung der Staatsbürgerschaft die Zusicherung zu widerrufen, wenn der Fremde auch nur eine für die Verleihung der Staatsbürgerschaft erforderliche Voraussetzung ‑ mit Ausnahme derjenigen des Erfordernisses des hinreichend gesicherten Lebensunterhaltes nach § 10 Abs. 1 Z 7 StbG ‑ nicht mehr erfüllt (vgl. zu alldem VwGH 25.2.2022, Ra 2018/01/0159, Rn. 16 und 17, mwN).
15 Vorliegend vermeint die Amtsrevision im Gegensatz zum Verwaltungsgericht die Verleihungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG als nicht erfüllt.
16 Gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG darf die Staatsbürgerschaft einem Fremden, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, nur verliehen werden, wenn er nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür bietet, dass er zur Republik bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt noch andere in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte öffentliche Interessen gefährdet.
17 § 10 Abs. 1 Z 6 StbG enthält zwei Tatbestände. Nach dem ersten Fall des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG wird vom Gesetz eine positive Einstellung zur Republik Österreich gefordert. Das Vorliegen dieser Voraussetzung ist somit davon abhängig, ob ‑ vom Gesamtverhalten des Einbürgerungswerbers her ‑ auf eine grundsätzlich negative Einstellung zur Republik Österreich bzw. zu deren grundlegenden Institutionen geschlossen werden kann oder nicht. Zum zweiten Fall des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf das Gesamtverhalten des Verleihungswerbers, insbesondere auch auf von ihm begangene Straftaten, Bedacht zu nehmen. Maßgebend ist, ob es sich dabei um Rechtsbrüche handelt, die den Schluss rechtfertigen, der Verleihungswerber werde auch in Zukunft wesentliche, zum Schutz vor Gefahren für das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung ‑ oder andere in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte Rechtsgüter ‑ erlassene Vorschriften missachten. In der Art, der Schwere und der Häufigkeit solcher Verstöße kommt die ‑ allenfalls negative ‑ Einstellung des Betreffenden gegenüber den zur Hintanhaltung solcher Gefahren erlassenen Gesetzen zum Ausdruck (vgl. zu alldem VwGH 10.12.2021, Ra 2021/01/0291, Rn. 31, 33, 35, mwN).
18 Für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Widerruf gemäß § 20 Abs. 2 StbG bedarf es in Bezug auf die Verleihungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG im Gegensatz zur Prüfung dieser Verleihungsvoraussetzung in einem Verfahren um Verleihung der Staatsbürgerschaft besonders gewichtiger und neu hinzutretender Umstände (vgl. VfGH 13.3.2019, E 4081/2018, mit Verweis auf VfGH 29.9.2011, G 154/10).
19 Dabei handelt es sich um eine einzelfallbezogene Beurteilung (vgl. etwa zu § 10 Abs. 1 Z 6 StbG VwGH 22.7.2019, Ra 2019/01/0258; 18.3.2022, Ra 2022/01/0056, jeweils mwN).
20 Wie ein Verfahren um Verleihung der Staatsbürgerschaft (vgl. aus der ständigen hg. Rechtsprechung etwa VwGH 19.5.2021, Ra 2021/01/0058, Rn. 8, mwN) bietet auch das Verfahren wegen Widerruf der Zusicherung nach § 20 Abs. 2 StbG keinen Raum, ein rechtskräftig abgeschlossenes Strafverfahren neu aufzurollen. Das Verwaltungsgericht hatte daher sämtliche rechtskräftige Bestrafungen des Mitbeteiligten in seiner einzelfallbezogenen Beurteilung zu berücksichtigen.
21 Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist daher nach dem Revisionsmodell nicht dazu berufen, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern ‑ diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten (vgl. VwGH 21.2.2022, Ra 2021/01/0277, Rn. 12, mwN).
22 Die Amtsrevision verweist zwar im Zulässigkeitsvorbringen berechtigt auf die rechtskräftigen Bestrafungen des Mitbeteiligten wegen Verstößen gegen das KFG und die StVO, wovon jedoch lediglich vier Bestrafungen wegen Geschwindigkeitsübertretungen nach Erlassung des Zusicherungsbescheides erfolgten, die vom Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen gewesen wären. Ausgehend davon und der wiedergegebenen Rechtsprechung vermag die Amtsrevision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen nicht darzulegen, dass das Verwaltungsgericht in Bezug auf das Nichtvorliegen besonders gewichtiger und neu hinzutretender Umstände, die die Annahme eines nachträglichen Wegfalles der hier einschlägigen Verleihungsvoraussetzung gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG rechtfertigen, den vorliegenden Einzelfall im Ergebnis entgegen der oben dargestellten Grundsätze bzw. Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes krass oder unvertretbar unrichtig beurteilt hat.
23 In der Revision werden somit vor diesem Hintergrund keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
24 Soweit der Mitbeteiligte im Hinblick auf den Zusicherungsbescheid der Amtsrevisionswerberin die „Genehmigung zum Austritt aus der türkischen Staatsangehörigkeit“, ausgestellt am 29. Dezember 2020 von der Generaldirektion für Meldewesen und Staatsangehörigkeiten der Republik Türkei, vorgelegt hat, wird im weiteren Verleihungsverfahren zu beachten sein, dass damit die Entlassung aus dem türkischen Staatsverband nicht nachgewiesen wird (vgl. VwGH 26.2.2021, Ro 2021/01/0009, Rn. 28).
Wien, am 7. Juli 2022
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