VfGH G590/2023 ua

VfGHG590/2023 ua7.12.2023

Abweisung eines Gerichtsantrags auf Aufhebung einer Bestimmung des SPG und des WaffenG betreffend die Verpflichtung des Gefährders zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung sowie das damit ex lege eintretende vorläufige Waffenverbot nach Ausspruch eines Betretungs- und Annäherungsverbots; erweiterte Rechtsfolgen des Betretungs- und Annäherungsverbots nicht von Justiz- und Verfahrensgrundrecht erfasst; kein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) der — hinreichend determinierten — präventiven Administrativmaßnahmen zur Vermeidung von Gewalttaten; verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Prognoseentscheidung der Sicherheitsorgane auf Grundlage der maßgeblichen dokumentierten Umstände gegeben; Verhältnismäßigkeit des vorläufigen Waffenverbots vor dem Hintergrund zunehmender Gewaltbereitschaft

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art130 Abs1 Z2
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
EMRK Art6
EMRK Art13
StGG Art2
EU-Grundrechte-Charta Art47
SicherheitspolizeiG §16, §22, §25 Abs4, §35 Abs1 Z8, §38a, §56 Abs1 Z3, §56 Abs1 Z8, §58c, §84 Abs1b, §98
WaffenG 1996 §12, §13, §51
VfGG §7 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2023:G590.2023

 

Spruch:

Der Antrag wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art140 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, der Verfassungsgerichtshof möge

"- die Zeilen '§38a.Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt' und '§58c Zentrale Gewaltschutzdatei' im Inhaltsverzeichnis,

- §25 Abs4,

- die Wort- und Zeichenfolge 'oder eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach §38a' und das Wort 'derselben' in §35 Abs1 Z8,

- §38a (mitsamt der Überschrift),

- die Wort- und Zeichenfolgen 'sowie Beratungsstellen für Gewaltprävention (§25 Abs4)', 'oder zur Gewaltpräventionsberatung' und ', wobei im Falle der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots (§38a) die Dokumentation (§38a Abs6) sowie ansonsten die dem Inhalt einer solchen Dokumentation entsprechenden personenbezogenen Daten zu übermitteln sind' in §56 Abs1 Z3,

- §56 Abs1 Z8,

- §58c (mitsamt der Überschrift),

- §84 Abs1b und

- das Wort 'der' sowie die Wort- und Zeichenfolge '§38a Abs6 und' im letzten Halbsatz des §98 Abs2 des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG), BGBl 566/1991 idF BGBl I 206/2021,

und

§13 Abs1 zweiter Satz des Waffengesetzes 1996 (WaffG), BGBl I 12/1997 idF BGBl I 211/2021,

 

in eventu zusätzlich zu den vorgenannten Bestimmungen auch

- §382f Abs2 letzter Satz und die Wort- und Zeichenfolge ', der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach §38a Abs8 SPG teilgenommen hat,' in §382f Abs4,

- §382g (mitsamt der Überschrift) und

- die Wort- und Zeichenfolge 'oder nach §38a SPG bei Gericht erlegter' in §382i. Abs1 Z3 der Exekutionsordnung (EO), RGBl. 79/1896 idF BGBl I 202/2021,

 

in eventu die im Hauptantrag bezeichneten Bestimmungen des Sicherheitspolizeigesetzes, die im ersten Eventualantrag bezeichneten Bestimmungen der Exekutionsordnung und zusätzlich

- die Zeile '§13 Vorläufiges Waffenverbot' im Inhaltsverzeichnis

- §13 (mitsamt der Überschrift) und

- §51 Abs1 Z3 des Waffengesetzes 1996 (WaffG), BGBl I 12/1997 idF BGBl I 211/2021,"

 

als verfassungswidrig aufheben.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1. Die relevanten Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz – SPG), BGBl 566/1991, in der angefochtenen Fassung BGBl I 206/2021 (im Folgenden: SPG) lauten (die mit dem Hauptantrag angefochtenen Bestimmungen bzw Wortfolgen sind hervorgehoben):

"3. Hauptstück

Begriffsbestimmungen

Allgemeine Gefahr; gefährlicher Angriff; Gefahrenerforschung

§16. (1) Eine allgemeine Gefahr besteht

1. bei einem gefährlichen Angriff (Abs2 und 3)

oder

2. sobald sich drei oder mehr Menschen mit dem Vorsatz verbinden, fortgesetzt gerichtlich strafbare Handlungen zu begehen (kriminelle Verbindung).

 

(2) Ein gefährlicher Angriff ist die Bedrohung eines Rechtsgutes durch die rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestandes einer gerichtlich strafbaren Handlung, die vorsätzlich begangen und nicht bloß auf Verlangen eines Verletzten verfolgt wird, sofern es sich um einen Straftatbestand

1. nach dem Strafgesetzbuch (StGB), BGBl Nr 60/1974, ausgenommen die Tatbestände nach den §§278, 278a und 278b StGB, oder

2. nach dem Verbotsgesetz, StGBl. Nr 13/1945, oder

3. nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl I Nr 100, oder

4. nach dem Suchtmittelgesetz (SMG), BGBl I Nr 112/1997, ausgenommen der Erwerb oder Besitz von Suchtmitteln zum ausschließlich persönlichen Gebrauch (§§27 Abs2, 30 Abs2 SMG), oder

5. nach dem Anti-Doping-Bundesgesetz 2007 (ADBG 2007), BGBl I Nr 30, oder

6. nach dem Neue-Psychoaktive-Substanzen-Gesetz (NPSG), BGBl I Nr 146/2011,

handelt.

 

(3) Ein gefährlicher Angriff ist auch ein Verhalten, das darauf abzielt und geeignet ist, eine solche Bedrohung (Abs2) vorzubereiten, sofern dieses Verhalten in engem zeitlichen Zusammenhang mit der angestrebten Tatbestandsverwirklichung gesetzt wird.

 

(4) Gefahrenerforschung ist die Feststellung einer Gefahrenquelle und des für die Abwehr einer Gefahr sonst maßgeblichen Sachverhaltes.

 

[…]

 

Vorbeugender Schutz von Rechtsgütern

§22. (1) Den Sicherheitsbehörden obliegt der besondere Schutz

1. von Menschen, die tatsächlich hilflos sind und sich deshalb nicht selbst ausreichend vor gefährlichen Angriffen zu schützen vermögen;

2. der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit;

3. der Vertreter ausländischer Staaten, internationaler Organisationen und anderer Völkerrechtssubjekte, der diesen zur Verfügung stehenden amtlichen und privaten Räumlichkeiten sowie des ihnen beigegebenen Personals in dem Umfang, in dem dies jeweils durch völkerrechtliche Verpflichtung vorgesehen ist;

4. von Sachen, die ohne Willen eines Verfügungsberechtigten gewahrsamsfrei wurden und deshalb nicht ausreichend vor gefährlichen Angriffen geschützt sind;

5. von Menschen, die über einen gefährlichen Angriff oder eine kriminelle Verbindung Auskunft erteilen können und deshalb besonders gefährdet sind, sowie von allenfalls gefährdeten Angehörigen dieser Menschen;

6. von Einrichtungen, Anlagen, Systemen oder Teilen davon, die eine wesentliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Funktionsfähigkeit öffentlicher Informations- und Kommunikationstechnologie, die Verhütung oder Bekämpfung von Katastrophen, den öffentlichen Gesundheitsdienst, die öffentliche Versorgung mit Wasser, Energie sowie lebenswichtigen Gütern oder den öffentlichen Verkehr haben (kritische Infrastrukturen).

 

(1a) Die Entgegennahme, Aufbewahrung und Ausfolgung verlorener oder vergessener Sachen obliegt dem Bürgermeister als Fundbehörde. Der österreichischen Vertretungsbehörde obliegt die Entgegennahme der im Ausland verlorenen oder vergessenen Sachen und deren Übergabe an die Fundbehörde, in deren Wirkungsbereich der Eigentümer oder rechtmäßige Besitzer seinen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, zum Zweck der Ausfolgung.

 

(2) Die Sicherheitsbehörden haben gefährlichen Angriffen auf Leben, Gesundheit, Freiheit, Sittlichkeit, Vermögen oder Umwelt vorzubeugen, sofern solche Angriffe wahrscheinlich sind. Zu diesem Zweck können die Sicherheitsbehörden im Einzelfall erforderliche Maßnahmen mit Behörden und jenen Einrichtungen, die mit dem Vollzug öffentlicher Aufgaben, insbesondere zum Zweck des Schutzes vor und der Vorbeugung von Gewalt sowie der Betreuung von Menschen, betraut sind, erarbeiten und koordinieren, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass ein bestimmter Mensch eine mit beträchtlicher Strafe bedrohte Handlung (§17) gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Sittlichkeit eines Menschen begehen wird. (Sicherheitspolizeiliche Fallkonferenz).

 

(3) Nach einem gefährlichen Angriff haben die Sicherheitsbehörden, unbeschadet ihrer Aufgaben nach der Strafprozeßordnung 1975 (StPO), BGBl Nr 631/1975, die maßgebenden Umstände, einschließlich der Identität des dafür Verantwortlichen, zu klären, soweit dies zur Vorbeugung weiterer gefährlicher Angriffe erforderlich ist. Sobald ein bestimmter Mensch der strafbaren Handlung verdächtig ist, gelten ausschließlich die Bestimmungen der StPO; die §§53 Abs1, 53a Abs2 bis 4 und 6, 57, 58 und 58a bis d, sowie die Bestimmungen über den Erkennungsdienst bleiben jedoch unberührt.

 

(4) Hat die Sicherheitsbehörde Grund zur Annahme, es stehe ein gefährlicher Angriff gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Vermögen bevor, so hat sie die betroffenen Menschen hievon nach Möglichkeit in Kenntnis zu setzen. Soweit diese das bedrohte Rechtsgut deshalb nicht durch zumutbare Maßnahmen selbst schützen, weil sie hiezu nicht in der Lage sind, haben die Sicherheitsbehörden die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen. Verzichtet jedoch derjenige, dessen Rechtsgut gefährdet ist, auf den Schutz ausdrücklich, so kann er unterbleiben, sofern die Hinnahme der Gefährdung nicht gegen die guten Sitten verstößt.

 

[…]

 

Sicherheitspolizeiliche Beratung

§25. (1) Den Sicherheitsbehörden obliegt zur Vorbeugung gefährlicher Angriffe gegen Leben, Gesundheit und Vermögen von Menschen die Förderung der Bereitschaft und Fähigkeit des Einzelnen, sich über eine Bedrohung seiner Rechtsgüter Kenntnis zu verschaffen und Angriffen entsprechend vorzubeugen. Zu diesem Zweck können die Sicherheitsbehörden Plattformen auf regionaler Ebene unter Beiziehung von Menschen, die an der Erfüllung von Aufgaben im öffentlichen Interesse mitwirken, einrichten, in deren Rahmen erforderliche Maßnahmen erarbeitet und koordiniert werden (Sicherheitsforen).

 

(2) Darüber hinaus obliegt es den Sicherheitsbehörden, Vorhaben, die der Vorbeugung gefährlicher Angriffe auf Leben, Gesundheit oder Vermögen von Menschen dienen, zu fördern.

 

(3) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, bewährte geeignete Opferschutzeinrichtungen vertraglich damit zu beauftragen, Menschen, die von Gewalt einschließlich beharrlicher Verfolgung (§107a StGB) bedroht sind, zum Zwecke ihrer Beratung und immateriellen Unterstützung anzusprechen (Interventionsstellen). Sofern eine solche Opferschutzeinrichtung überwiegend der Beratung und Unterstützung von Frauen dient, ist der Vertrag gemeinsam mit dem Bundesminister für Gesundheit und Frauen abzuschließen, sofern eine solche Einrichtung überwiegend der Beratung und Unterstützung von Kindern dient, gemeinsam mit dem Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz.

 

(4) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, bewährte geeignete Einrichtungen für opferschutzorientierte Täterarbeit vertraglich damit zu beauftragen, Gefährder gemäß §38a Abs8 zu beraten (Beratungsstellen für Gewaltprävention). Die Beratung dient der Hinwirkung auf die Abstandnahme von Gewaltanwendung im Umgang mit Menschen und soll mindestens sechs Beratungsstunden umfassen (Gewaltpräventionsberatung).

 

[…]

 

Identitätsfeststellung

§35. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind zur Feststellung der Identität eines Menschen ermächtigt,

[…]

8. wenn dies für die Verhängung eines Betretungsverbots nach §36a oder eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach §38a sowie für die Überprüfung und Durchsetzung derselben notwendig ist;

9. wenn dies für die Verhängung eines Betretungsverbots in einem Sicherheitsbereich bei Sportgroßveranstaltungen gemäß §49a und die Durchsetzung desselben notwendig ist.

 

(2) - (3) […]

 

[…]

 

Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt

§38a. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einem Menschen, von dem auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass er einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, begehen werde (Gefährder), das Betreten einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, samt einem Bereich im Umkreis von hundert Metern zu untersagen (Betretungsverbot). Mit dem Betretungsverbot verbunden ist das Verbot der Annäherung an den Gefährdeten im Umkreis von hundert Metern (Annäherungsverbot).

 

(2) Bei Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes

1. dem Gefährder den Verbotsbereich nach Abs1 zur Kenntnis zu bringen;

2. dem Gefährder alle in seiner Gewahrsame befindlichen Schlüssel zur Wohnung gemäß Abs1 abzunehmen und ihn zu diesem Zweck erforderlichenfalls zu durchsuchen; §40 Abs3 und 4 gilt sinngemäß;

3. dem Gefährder Gelegenheit zu geben, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen und sich darüber zu informieren, welche Möglichkeiten er hat, unterzukommen;

4. den Gefährder über die Verpflichtung gemäß Abs8 und die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung sowie über die Möglichkeit eines Antrags gemäß Abs9 zu informieren;

5. vom Gefährder die Bekanntgabe einer Abgabestelle für Zwecke der Zustellung von Schriftstücken nach dieser Bestimmung oder der Exekutionsordnung (EO), RGBl Nr 79/1896, zu verlangen; unterlässt er dies, kann die Zustellung solcher Schriftstücke so lange durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch erfolgen, bis eine Bekanntgabe erfolgt; darauf ist der Gefährder hinzuweisen;

6. den Gefährder bei Aufenthalt in einem Verbotsbereich nach Abs1 wegzuweisen.

 

(3) Betrifft das Betretungsverbot eine vom Gefährder bewohnte Wohnung, ist besonders darauf Bedacht zu nehmen, dass dieser Eingriff in das Privatleben des Gefährders die Verhältnismäßigkeit (§29) wahrt. Sofern keine Ausnahme gemäß Abs9 vorliegt, darf der Gefährder den Verbotsbereich gemäß Abs1 nur in Gegenwart eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes aufsuchen.

 

(4) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind verpflichtet, den Gefährdeten über die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382c EO und geeignete Opferschutzeinrichtungen (§25 Abs3) zu informieren. Darüber hinaus sind sie verpflichtet,

1. sofern der Gefährdete minderjährig ist und es im Einzelfall erforderlich erscheint, jene Menschen, in deren Obhut er sich regelmäßig befindet, sowie

2. sofern ein Minderjähriger in der vom Betretungsverbot erfassten Wohnung wohnt, unverzüglich den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger

über die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots zu informieren.

 

(5) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, den Gefährder bei Verstoß gegen das Betretungs- und Annäherungsverbot wegzuweisen. Die Einhaltung eines Betretungsverbots ist zumindest einmal während der ersten drei Tage seiner Geltung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu kontrollieren.

 

(6) Bei der Dokumentation der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots ist auf die für das Einschreiten maßgeblichen Umstände sowie auf jene Bedacht zu nehmen, die für ein Verfahren nach §§382b und 382c EO oder für eine Abklärung der Gefährdung des Kindeswohls durch den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger von Bedeutung sein können.

 

(7) Die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots ist der Sicherheitsbehörde unverzüglich bekanntzugeben und von dieser binnen drei Tagen zu überprüfen. Stellt die Sicherheitsbehörde fest, dass das Betretungs- und Annäherungsverbot nicht hätte angeordnet werden dürfen, so hat sie unverzüglich den Gefährdeten über die beabsichtigte Aufhebung zu informieren und das Verbot gegenüber dem Gefährder aufzuheben. Die Information des Gefährdeten sowie die Aufhebung des Betretungs- und Annäherungsverbots haben nach Möglichkeit mündlich oder schriftlich durch persönliche Übergabe zu erfolgen.

 

(8) Der Gefährder hat binnen fünf Tagen ab Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbots eine Beratungsstelle für Gewaltprävention zur Vereinbarung einer Gewaltpräventionsberatung (§25 Abs4) zu kontaktieren und an der Beratung aktiv teilzunehmen, sofern das Betretungs- und Annäherungsverbot nicht gemäß Abs7 aufgehoben wird. Die Beratung hat längstens binnen 14 Tagen ab Kontaktaufnahme erstmals stattzufinden. Nimmt der Gefährder keinen Kontakt auf oder nicht (aktiv) an einer Gewaltpräventionsberatung teil, ist er zur Sicherheitsbehörde zum Zweck der Ermöglichung der Durchführung der Gewaltpräventionsberatung durch die Beratungsstelle für Gewaltprävention zu laden; §19 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 – AVG, BGBl Nr 51/1991, gilt.

 

(9) Die Sicherheitsbehörde ist ermächtigt, bei Vorliegen zwingender Notwendigkeit auf begründeten Antrag des Gefährders mit Bescheid örtliche oder zeitliche Ausnahmen von dem Betretungs- und Annäherungsverbot festzulegen, sofern schutzwürdige Interessen des Gefährdeten dem nicht entgegenstehen; zu diesem Zweck ist dem Gefährdeten Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Ausnahmen für die Wohnung, die vom Betretungsverbot betroffen ist, sind nicht zulässig. Die Entscheidung der Behörde ist dem Gefährdeten unverzüglich zur Kenntnis zu bringen.

 

(10) Das Betretungs- und Annäherungsverbot endet zwei Wochen nach seiner Anordnung oder, wenn die Sicherheitsbehörde binnen dieser Frist vom ordentlichen Gericht über die Einbringung eines Antrags auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382c EO informiert wird, mit dem Zeitpunkt der Zustellung der Entscheidung des ordentlichen Gerichts an den Antragsgegner, längstens jedoch vier Wochen nach seiner Anordnung. Im Falle einer Zurückziehung des Antrags endet das Betretungs- und Annäherungsverbot sobald die Sicherheitsbehörde von der Zurückziehung durch Mitteilung des ordentlichen Gerichts Kenntnis erlangt, frühestens jedoch zwei Wochen nach seiner Anordnung.

 

(11) Die nach Abs2 abgenommenen Schlüssel sind mit Aufhebung oder Beendigung des Betretungsverbots zur Abholung durch den Gefährder bereit zu halten und diesem auszufolgen. Werden die Schlüssel trotz nachweislicher Information des Gefährders über die Abholungsmöglichkeit nicht binnen einer Frist von zwei Wochen abgeholt, können die Schlüssel auch einem sonstigen Verfügungsberechtigten ausgefolgt werden. Sechs Wochen nach Aufhebung oder Beendigung des Betretungsverbots gelten diese als verfallen; §43 Abs2 gilt sinngemäß. Im Falle eines Antrags auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382c EO sind die nach Abs2 abgenommenen Schlüssel beim ordentlichen Gericht zu erlegen.

 

(12) Die Berechnung von Fristen nach dieser Bestimmung richtet sich nach §§32 und 33 Abs1 AVG.

 

[…]

 

Zulässigkeit der Übermittlung

§56. (1) Die Sicherheitsbehörden dürfen personenbezogene Daten nur übermitteln

1. wenn der Betroffene in die Übermittlung - bei besonderen Kategorien personenbezogener Daten (§39 DSG) ausdrücklich - eingewilligt hat, wobei ein Widerruf jederzeit möglich ist und die Unzulässigkeit der weiteren Verarbeitung der Daten bewirkt;

2. inländischen Behörden, soweit dies ausdrücklich gesetzlich vorgesehen ist oder für den Empfänger eine wesentliche Voraussetzung zur Wahrnehmung einer ihm gesetzlich übertragenen Aufgabe bildet;

3. an Interventionsstellen (§25 Abs3) sowie Beratungsstellen für Gewaltprävention (§25 Abs4), soweit dies zum Schutz gefährdeter Menschen oder zur Gewaltpräventionsberatung erforderlich ist, wobei im Falle der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots (§38a) die Dokumentation (§38a Abs6) sowie ansonsten die dem Inhalt einer solchen Dokumentation entsprechenden personenbezogenen Daten zu übermitteln sind;

3a. -7 […]

8. im Fall einer Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots gemäß §38a Abs1, wenn der Gefährdete minderjährig ist, an jene Menschen, in deren Obhut er sich regelmäßig befindet. Zu übermitteln sind ausschließlich der Name des Gefährders und des gefährdeten Minderjährigen sowie die Dauer des Verbots und die Information über eine allfällige Aufhebung desselben;

[…]

 

(3)-(5) […]

 

[…]

 

Zentrale Gewaltschutzdatei

§58c. (1) Die Sicherheitsbehörden sind als gemeinsam Verantwortliche ermächtigt, für den Vollzug von §38a hinsichtlich Personen, gegen die sich eine Maßnahme nach §38a richtet, Identifikationsdaten einschließlich der Erreichbarkeitsdaten und Vormerkungen wegen Gewaltdelikten, Angaben zu Grund und Umfang (räumlich und zeitlich) der verhängten Maßnahme einschließlich früherer Maßnahmen gemäß §38a und Verfahrensdaten, sowie hinsichtlich zu schützender Menschen ausschließlich Namen, Erreichbarkeitsdaten, Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit sowie Angehörigkeitsverhältnis zum Gefährder gemeinsam zu verarbeiten.

 

(2) Übermittlungen von Daten gemäß Abs1 sind an Sicherheitsbehörden für Zwecke des Vollzugs der §§8 und 12 Waffengesetz 1996, BGBl I Nr 12/1997, sowie an Staatsanwaltschaften und ordentliche Gerichte für Zwecke der Strafrechtspflege zulässig. Sofern besondere gesetzliche Regelungen dies vorsehen, ist darüber hinaus eine Übermittlung dieser Daten auch an Kinder- und Jugendhilfeträger in Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe zulässig.

 

(3) Die Daten sind zu löschen, wenn ein Betretungs- und Annäherungsverbot gemäß §38a Abs7 aufgehoben wurde. Sonst sind die Daten von Personen, gegen die sich eine Maßnahme nach §38a richtet, und der jeweils Gefährdeten drei Jahre nach Aufnahme in die zentrale Gewaltschutzdatei zu löschen, im Falle mehrerer Speicherungen drei Jahre nach der letzten.

 

[…]

 

Sonstige Verwaltungsübertretungen

§84. (1) – (1a) […]

 

(1b) Ein Gefährder (§38a), der

1. den vom Betretungsverbot gemäß §38a umfassten Bereich betritt,

2. sich sonst trotz Annäherungsverbots gemäß §38a einem Gefährdeten annähert,

3. einer Verpflichtung gemäß §38a Abs8 zur Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle für Gewaltprävention oder zur (aktiven) Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung nicht nachkommt,

begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 2 500 Euro, im Wiederholungsfall mit Geldstrafe bis zu 5 000 Euro, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen, zu bestrafen.

 

[…]

 

Vollziehung

§98. (1) Mit der Vollziehung der §§5a ausgenommen Abs3 Z1, 5b, 91 Abs2 und 93 ist die Bundesregierung betraut.

 

(2) Im übrigen ist mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes der Bundesminister für Inneres, hinsichtlich der §§25 Abs3, 31 Abs3 und 59 Abs3 im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministern, hinsichtlich der §§38a Abs6 und 47 Abs3 im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Justiz betraut."

 

2. Die relevanten Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Waffenpolizei (Waffengesetz 1996 – WaffG), BGBl I 12/1997, idF BGBl I 211/2021 lauten (die angefochtenen Wortfolgen sind hervorgehoben):

 

"Waffenverbot

§12. (1) Die Behörde hat einem Menschen den Besitz von Waffen und Munition zu verbieten (Waffenverbot), wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß dieser Mensch durch mißbräuchliches Verwenden von Waffen Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder fremdes Eigentum gefährden könnte.

 

(1a) Bestimmte Tatsachen im Sinne des Abs1 liegen jedenfalls bei einer Verurteilung wegen §278b bis §278g oder §282a StGB vor. Dies gilt auch, wenn diese bereits getilgt ist, sofern auf eine Freiheitsstrafe von mindestens 18 Monaten erkannt wurde.

 

(2) Die im Besitz des Menschen, gegen den ein Waffenverbot erlassen wurde, befindlichen

1. Waffen und Munition sowie

2. Urkunden (ausgenommen Jagdkarten), die nach diesem Bundesgesetz zum Erwerb, Besitz, Führen oder zur Einfuhr von Waffen oder Munition berechtigen,

sind unverzüglich sicherzustellen. Für die damit betrauten Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gilt §50 des Sicherheitspolizeigesetzes - SPG, BGBl Nr 566/1991.

 

(3) Eine Beschwerde gegen ein Waffenverbot hat keine aufschiebende Wirkung. Mit dem Eintritt der Rechtskraft des Waffenverbotes gelten

1. die sichergestellten Waffen und Munition als verfallen;

2. die im Abs2 Z2 angeführten Urkunden als entzogen.

 

(4) Die Behörde hat dem Betroffenen auf Antrag für die verfallenen Waffen und verfallene Munition, soweit er deren rechtmäßigen Erwerb glaubhaft macht, mittels Bescheides eine angemessene Entschädigung zuzuerkennen. Ein solcher Antrag ist binnen einem Jahr ab Eintritt der Rechtskraft des Verbotes nach Abs1 zu stellen.

 

(5) Die gemäß Abs2 sichergestellten Waffen und Munition gelten trotz eines rechtmäßig verhängten Waffenverbotes nicht als verfallen,

1.wenn das ordentliche Gericht, dem sie anläßlich eines Strafverfahrens vorgelegt worden sind, ihre Ausfolgung an deren Eigentümer verfügt oder

2.wenn jemand anderer als der Betroffene binnen sechs Monaten, vom Zeitpunkt der Sicherstellung an gerechnet, der Behörde das Eigentum an diesen Gegenständen glaubhaft macht

und dieser Eigentümer die Gegenstände besitzen darf.

 

(6) – (8) […] -

 

Vorläufiges Waffenverbot

§13. (1) Die Organe der öffentlichen Aufsicht sind bei Gefahr im Verzug ermächtigt, ein vorläufiges Waffenverbot auszusprechen, wenn sie Grund zur Annahme haben, dass der Betroffene durch missbräuchliches Verwenden von Waffen Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder fremdes Eigentum gefährden könnte. Zudem gilt mit Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes gemäß §38a SPG ein vorläufiges Waffenverbot als ausgesprochen. Darüber hinaus sind sie in diesen Fällen ermächtigt,

1. Waffen und Munition sowie

2. Urkunden (ausgenommen Jagdkarten), die nach diesem Bundesgesetz zum Erwerb, Besitz, Führen oder zur Einfuhr von Waffen oder Munition berechtigen,

sicherzustellen. Die Organe haben dem Betroffenen über die Aussprache des vorläufigen Waffenverbots sowie im Falle einer Sicherstellung über diese sofort eine Bestätigung auszustellen.

 

(1a) Soweit die Befugnis gemäß Abs1 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes wahrgenommen wird, gilt §50 SPG. Weigert sich ein Betroffener im Falle der Sicherstellung durch ein anderes Organ der öffentlichen Aufsicht Waffen, Munition oder Urkunden dem Organ zu übergeben, hat dieses unverzüglich die nächste Sicherheitsdienststelle zu verständigen.

 

(2) Die Organe der öffentlichen Aufsicht haben unverzüglich jene Behörde, in deren Sprengel die Amtshandlung geführt wurde, über das vorläufige Waffenverbot zu informieren und dieser die allenfalls sichergestellten Waffen, Munition und Urkunden vorzulegen; sie hat eine Vorprüfung vorzunehmen. Sind die Voraussetzungen für die Erlassung eines Waffenverbotes offensichtlich nicht gegeben, so hat die Behörde das vorläufige Waffenverbot aufzuheben, indem sie den Betroffenen darüber informiert und die allenfalls sichergestellten Gegenstände dem Betroffenen sofort ausfolgt. Andernfalls hat sie das Verfahren zur Erlassung des Verbotes (§12) durchzuführen, sofern sich hierfür aus §48 Abs2 nicht die Zuständigkeit einer anderen Behörde ergibt.

 

(3) Erweist sich in der Folge, dass die Voraussetzungen für das Waffenverbot doch nicht gegeben sind, so hat die Behörde den Betroffenen darüber zu informieren und ihm jene allenfalls sichergestellten Waffen, Munition und Urkunden ehestens auszufolgen, die er weiterhin besitzen darf.

 

(4) Gegen den Betroffenen gilt ab Aussprache des vorläufigen Waffenverbotes oder, sofern die Sicherstellung zu einem früheren Zeitpunkt erfolgte, ab diesem ein mit vier Wochen befristetes vorläufiges Waffenverbot, es sei denn, die Behörde hebt es gemäß Abs2 oder 3 früher auf oder die sichergestellten Waffen, Munition oder Urkunden werden von der Behörde vorher ausgefolgt.

 

[…]

 

Verwaltungsübertretungen

§51. (1) Sofern das Verhalten nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 3 600 Euro oder mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen zu bestrafen, wer entgegen diesem Bundesgesetz oder einer auf Grund dieses Bundesgesetzes erlassenen Verordnung

1. Schußwaffen führt;

2. verbotene Waffen gemäß §17 Abs1 Z9 oder 10 besitzt oder verbotene Waffen (§17), die er besitzen darf, führt;

3. Waffen oder Munition besitzt, obwohl ihm dies gemäß §13 Abs4 verboten ist;

4. Waffen (ausgenommen Kriegsmaterial) einführt oder anderen Menschen überläßt;

5. Munition anderen Menschen überläßt;

5a. Schusswaffen oder Munition jemandem wissentlich überlässt, dem der Erwerb, der Besitz und das Führen von Schusswaffen oder Munition gemäß §11a nicht erlaubt ist,

6. gegen Auflagen verstößt, die gemäß §§17 Abs3 oder 18 Abs3 erteilt worden sind;

7. eine gemäß §33 erforderliche Registrierung unterlässt;

8. eine gemäß §41 Abs1 erforderliche Meldung unterlässt oder einem mit Bescheid erlassenen Verwahrungsverbot (§41 Abs3) zuwiderhandelt;

9. Schusswaffen oder Munition nicht gemäß §16b sicher verwahrt;

10. es unterlässt, eine Kennzeichnung gemäß §58 Abs6 durchführen zu lassen,

11. entgegen einer gemäß §42 Abs5a mit Verordnung getroffenen Anordnung einen Gefahrenbereich nicht verlässt oder entgegen der Untersagung betritt.

Der Versuch ist strafbar.

 

(2)-(4) […]"

 

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegen insgesamt vier Fälle zugrunde, in denen Beschwerde gemäß Art130 Abs1 Z2 B‑VG iVm Art132 Abs2 B‑VG an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich erhoben wurde. Alle vier Beschwerden richten sich gegen die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes gemäß §38a Abs1 SPG durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes:

1.1. Der erste Sachverhalt betrifft einen polnischen Staatsangehörigen, über den am 21. April 2022 ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wurde.

Der zweite Sachverhalt betrifft einen österreichischen Staatsbürger, über den am 17. Dezember 2022 ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wurde.

Der dritte Sachverhalt betrifft einen österreichischen Staatbürger, über den am 27. Jänner 2023 ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wurde. Dieses Verbot wurde am 3. Februar 2023 teilweise behoben und dem Beschwerdeführer auf Grundlage des §38a Abs9 SPG eine örtlich und zeitlich näher bestimmte Ausnahme vom Betretungs- und Annäherungsverbot gewährt.

Der vierte Sachverhalt betrifft einen serbischen Staatsangehörigen, über den am 3. April 2023 ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wurde.

1.2. In Bezug auf den ersten Sachverhalt (Pkt. 1.1.) führt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich aus, dass diesbezüglich der Beschwerde – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 7. November 2022 – mit mündlich verkündetem und am 30. Dezember 2022 schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis Folge gegeben und das gegenüber dem Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich am 21. April 2022 ausgesprochene Betretungsverbot, das Annäherungsverbot an die Ehefrau und die beiden Kinder sowie das vorläufige Waffenverbot für rechtswidrig erklärt worden seien.

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich habe dies zusammengefasst damit begründet, dass weder der Dokumentation noch den (insbesondere auf Grundlage der Zeugenaussagen der einschreitenden Beamten und betreffend den Vorfall am 21. April 2022) getroffenen ergänzenden Feststellungen ein Gesamtbild zu entnehmen gewesen sei, das die Prognose künftiger gefährlicher Angriffe durch den Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich gegen das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit seiner Ehefrau – und erst recht nicht seiner Kinder – vertretbar erscheinen ließe. Ebenso habe es abgesehen von den Angaben der Ehefrau (also der Gefährdeten) an jeglichem Anhaltspunkt dafür gefehlt, dass die – grundsätzlich unbestrittenen – Aggressionshandlungen zwischen den Ehegatten (insbesondere Handgreiflichkeiten) jemals vom Beschwerdeführer ausgegangen wären (der dies bestritten habe), wobei die einschreitenden Beamten zumindest die am 21. April 2022 anwesende Tochter befragen hätten können (alternativ auch den älteren Sohn, der bei früheren Vorfällen zugegen gewesen sei). Aus diesem Grund habe der von den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes dem Betretungs- und Annäherungsverbot zugrunde gelegte Sachverhalt dessen Anordnung in der gebotenen objektiven ex‑ante‑Perspektive nicht rechtfertigen können.

1.3. Auf Grund einer außerordentlichen Amtsrevision der belangten Behörde hob der Verwaltungsgerichtshof dieses Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich in der Folge mit Erkenntnis vom 10. Mai 2023, Ra 2023/01/0038, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf: Gegenstand der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbot gemäß §38a SPG durch das Verwaltungsgericht sei lediglich, ob für die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes – auf Grund des sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietenden Gesamtbildes und ausgehend vom Wissensstand der Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens – hinreichende Gründe für das Bestehen einer vom Gefährder ausgehenden, das angeordnete Betretungsverbot rechtfertigenden Gefahr iSd §38a SPG vorgelegen seien. Dabei habe das Verwaltungsgericht nicht seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung des einschreitenden, das Verbot verhängenden Beamten zu setzen. Die Annahme eines bevorstehenden vom Gefährder ausgehenden gefährlichen Angriffs auf Leben, Gesundheit oder Freiheit sei nicht bereits dann unvertretbar und das verhängte Betretungsverbot nicht rechtswidrig, wenn das Verwaltungsgericht die Gefährdungslage an Hand des sich den eingeschrittenen Beamten gebotenen Gesamtbildes anders einschätze (mit Verweis auf VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163, Rn 14).

2. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar:

2.1. Der Verwaltungsgerichtshof habe mit seiner Entscheidung vom 10. Mai 2023, mit welcher das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 7. November bzw 30. Dezember 2022 aufgehoben worden sei, dem §38a Abs1 SPG einen über den Wortlaut der Bestimmung hinausgehenden Inhalt unterstellt. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich sei im fortgesetzten Verfahren gemäß §63 Abs1 VwGG an die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofes gebunden. Es bestünden nun Bedenken, dass die Bestimmung des §38a Abs1 SPG gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art6 EMRK), gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art47 GRC) sowie gegen Art130 Abs1 Z2 B‑VG, gegen "verfassungsrechtliche Determinierungsgebote (Art8 EMRK, Art1 Abs1 1. ZPEMRK, Art2 4. ZPEMRK; Art7, 17 und 45 GRC; Art18 B‑VG)", gegen das Recht auf Freizügigkeit (Art2 4. ZPEMRK) bzw das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit (Art45 GRC), gegen Art13 EMRK und das Rechtsstaatsprinzip und letztlich auch gegen das Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG, Art7 Abs1 B‑VG) bzw das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI BVG rassische Diskriminierung) verstoße:

"2. Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art6 EMRK), gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art47 GRC) sowie gegen Art130 Abs1 Z2 B‑VG

 

2.1. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vertritt zunächst die Auffassung, dass ein verwaltungsgerichtliches Beschwerdeverfahren, in dem über die Rechtmäßigkeit eines Betretungs- und Annäherungsverbotes entschieden wird, zivilrechtliche Ansprüche iSd Art6 Abs1 erster Satz EMRK zum Gegenstand hat.

 

Dies zeigen insbesondere die Anlassverfahren, in denen die Beschwerdeführer zumindest Miteigentümer der Wohnungen sind, deren Betreten ihnen durch die Betretungsverbote untersagt wurde. Die Entscheidung über das Betretungsverbot hat also die Rechtmäßigkeit einer Eigentumsbeschränkung zum Gegenstand. Darüber hinaus wurde den Beschwerdeführern durch die Annäherungsverbote auch der Kontakt zu Familienangehörigen untersagt, worauf sie ebenfalls zivilrechtliche Ansprüche haben (vgl insbesondere die §§44, 90 ff und 137 ff ABGB). Schließlich ergibt sich auch aus dem gemäß §13 Abs1 zweiter Satz WaffG ex lege mit dem Betretungs- und Annäherungsverbot verbundenen vorläufigen Waffenverbot eine Eigentumsbeschränkung.

 

Darüber hinaus könnte das Beschwerdeverfahren über ein Betretungs- und Annäherungsverbot im Hinblick auf die gesetzlichen Rechtsfolgen des §38 Abs8 SPG und des §13 Abs1 zweiter Satz WaffG auch als solches über eine strafrechtliche Anklage gesehen werden.

 

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich verkennt zwar nicht, dass in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Anwendbarkeit des Art6 EMRK auf Wegweisungen und Betretungsverbote gemäß §38a SPG verneint wurde (VwGH 14.12.2015, Ra 2015/01/0241; 26.04.2016, Ra 2015/03/0079). Jedoch betraf diese Rechtsprechung frühere Fassungen des §38a SPG, die insbesondere noch nicht die Rechtsfolgen des §38a Abs8 SPG und des §13 Abs1 zweiter Satz WaffG beinhalteten.

 

Abgesehen davon betont die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes den dem §38a SPG 'inhärenten Präventivcharakter' (vgl zB VwGH 24.02.2004, 2002/01/0280; 04.12.2020, Ra 2019/01/0163; 10.5.2023, Ra 2023/01/0038). Davon ausgehend ist auf Urteil des EGMR vom 23. Februar 2017, De Tommaso gegen Italien, Appl 43395/09, hinzuweisen, wo dieser ebenfalls mit der Verhängung von vorbeugenden Maßnahmen (dort konkret eine spezielle polizeiliche Überwachung für zwei Jahre) gegen eine Person, die eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Moral darstellte, befasst w[a]r. Der EGMR hielt in diesem Urteil fest, 'dass es einen Wandel seiner eigenen Rechtsprechung hin zur Anwendung des zivilrechtlichen Zweiges von Art6 EMRK auf Fälle gegeben hat, die zunächst kein ziviles Recht zu betreffen scheinen, die aber direkte und bedeutsame Auswirkungen auf ein persönliches Recht eines Individuums haben können'. Aus diesem Grund ging der EGMR davon aus, dass ua 'das Verbot, in der Nacht auszugehen' eindeutig in den Bereich von Persönlichkeitsrechten falle und daher ziviler Natur sei.

 

§38a SPG und auch §13 Abs1 zweiter Satz WaffG regeln also vorbeugende Maßnahmen, die jenen, welche Gegenstand des Urteils De Tommaso v. Italien waren, ihrer Art nach vergleichbar sind. Für das antragstellende Gericht folgt daraus, dass auch die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes sowie die daraus ex lege resultierenden Rechtsfolgen jedenfalls ziviler Natur iSd Rsp. des EGMR sind, sodass der Anwendungsbereich des Art6 EMRK eröffnet ist.

 

2.2. Art6 EMRK garantiert das Recht auf Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen sowie strafrechtliche Anklagen, wobei über die Sache in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt werden muss. Dieses Recht gilt nicht absolut; der Zugang zu einer gerichtlichen Überprüfung kann Beschränkungen unterworfen werden, solange mit diesen ein legitimes Ziel verfolgt, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprochen und nicht in den Wesensgehalt des Rechts eingegriffen wird (EGMR 15.11.2007, Khamidov, Appl 72.118/01).

 

Der Garantie des Art6 Abs1 EMRK ist bereits dann hinreichend Rechnung getragen, wenn eine einzige gerichtliche Instanz über die Sache entscheidet; Art6 Abs1 EMRK fordert nicht die Einrichtung eines Instanzenzuges. Entscheidet sich ein Staat allerdings dazu, ein Gerichtssystem mit mehreren Instanzen einzurichten, hat er sicherzustellen, dass die in Art6 Abs1 EMRK niedergelegten Garantien unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Verfahrens und der Stellung der übergeordneten Gerichte auch in den anderen Instanzen gewährleistet sind (VfGH 14.3.2017, G24[9]‑250/2016 mwN). Es kann jedoch im Hinblick auf die Vorgaben des Art6 EMRK gerechtfertigt sein, die Kognition vor Rechtsmittelgerichten auf eine reine Rechtskontrolle zu beschränken (EGMR 26.5.1988, Ekbatani, Appl 10.563/83).

 

2.3. Auf die aus §28 Abs1 und 6 VwGVG folgende Pflicht zur Sachentscheidung im Verfahren wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gemäß Art130 Abs1 Z2 B‑VG wurde bereits oben unter III.2. hingewiesen.

 

Sofern ein Verwaltungsgericht zur Entscheidung in der Sache selbst zuständig ist, ist damit grundsätzlich auch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine volle Tatsachenkognition des Verwaltungsgerichtes verbunden (vgl VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063). Ergänzende Ermittlungen des Verwaltungsgerichtes können demnach speziell dann erforderlich sein, wenn neue[] Tatsachen behauptet oder neue Beweismittel beantragt werden.

 

In dem im ersten Anlassverfahren ergangenen Erkenntnis vom 10. Mai 2023 (und zum Teil auch schon in seiner früheren Rechtsprechung) hat der Verwaltungsgerichtshof jedoch im Ergebnis aus §38a Abs1 SPG eine Beschränkung dieser im Allgemeinen bestehenden vollen Tatsachenkognition des Verwaltungsgerichts für das Verfahren über Beschwerden gegen Betretungs- und Annäherungsverbote abgeleitet. Diese ergibt sich konkret daraus, dass es dem Verwaltungsgericht in diesem Verfahren verwehrt ist, 'seine eigene Beurteilung des sich den einschreitenden Organen bietenden Gesamtbildes an die Stelle des Blickwinkels der Beamten' zu setzen, 'einzelne Details des Gesamtbildes mit besonderem Gewicht auszustatten' und zusätzliche Ermittlungen durch die einschreitenden Beamten zu verlangen.

 

Nach Ansicht des antragstellenden Gerichtes sind diese Beschränkungen mit Art6 Abs1 EMRK nicht vereinbar. Vielmehr muss ein diesem entsprechendes (erstinstanzliches) Gericht über volle Kognitionsbefugnis verfügen, also dazu befugt sein, sowohl den Sachverhalt als auch die Rechtsfragen uneingeschränkt zu prüfen (vgl dazu Grabenwarter/Frank B‑VG Art6 EMRK Rz 13 mwN). Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Erkenntnis vom 10. Mai 2023 ist es demgegenüber dem Verwaltungsgericht bei Prüfung der Voraussetzungen des §38a Abs1 SPG verwehrt, den Sachverhalt uneingeschränkt zu prüfen, denn es hat 'alleine vom Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens auszugehen, nach welchem zu beurteilen ist, ob hinreichende Gründe für das Bestehen einer vom Gefährder ausgehenden, das angeordnete Betretungsverbot rechtfertigenden Gefahr iSd §38a SPG vorlagen' (Rn 38, mwN).

 

Zudem hält der Verwaltungsgerichtshof auch fest, dass die 'Annahme der Beamten eines bevorstehenden vom Gefährder ausgehenden gefährlichen Angriffs auf Leben, Gesundheit oder Freiheit [...] somit nicht bereits dann unvertretbar und das verhängte Betretungsverbot rechtswidrig [ist], wenn das Verwaltungsgericht die Gefährdungslage an Hand des sich den eingeschrittenen Beamten gebotenen Gesamtbildes anders einschätzt' (Verweis auf VwGH 03.01.2023, Ra 2020/01/0030).

 

Somit wird das Verwaltungsgericht einerseits darin eingeschränkt, weitere Sachverhaltselemente, die zwar im Zeitpunkt der Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbotes vorlagen, aber von den einschreitenden Beamten – aus welchem Grund auch immer – nicht mitberücksichtigt bzw als relevant erachtet wurden bzw allenfalls auch nicht von ihnen selbst, wohl aber von Zeugen oder dem Beschwerdeführer bemerkt wurden, im Rahmen der Prüfung des Sachverhaltes bzw der sich stellenden Rechtsfragen zu berücksichtigen und ergänzende Feststellungen zu treffen.

 

Im Ergebnis normiert §38a Abs1 SPG daher einerseits eine mit Art6 EMRK unvereinbare absolute Bindung an den von den einschreitenden Beamten als maßgeblich erachteten Sachverhalt und verwehrt es dem Verwaltungsgericht, selbst naheliegende Beweismittel, die die Beamten nicht berücksichtigt haben (etwa von ihnen nicht befragte Zeugen eines Vorfalls, der zum Ausspruch eines Betretungs- und Annäherungsverbotes führte, oder Videos eines solchen Vorfalls), im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen und damit die Vollständigkeit des 'gebotenen Gesamtbildes' zu hinterfragen bzw dieses zu ergänzen. Dies erscheint besonders in Fällen, in denen hinsichtlich der Frage, ob der Gefährder gegenüber der gefährdeten Person Aggressionshandlungen gesetzt hat, 'Aussage gegen Aussage' steht, problematisch. Andererseits verbietet es §38a Abs1 SPG dem Verwaltungsgericht – ebenfalls mit Art6 EMRK unvereinbar – das 'Gesamtbild' eigenständig zu beurteilen, was jedoch der EGMR im Urteil de Tommaso für erforderlich erachtete ('in die Zukunft gerichteten Analyse durch die innerstaatlichen Gerichte', Rz 117).

 

2.4. §38a Abs1 SPG ist keine Beschränkung seines Anwendungsbereiches auf Personen mit österreichischer Staatsangehörigkeit zu entnehmen. Er findet daher insbesondere auch Anwendung auf sämtliche Unionsbürger iSd Art9 zweiter Satz EUV bzw des Art20 Abs1 AEUV, die in Österreich ihre aus dem Unionsrecht resultierenden Freizügigkeitsrechte in Anspruch nehmen Dies zeigt etwa der erste Anlassfall, der einen polnischen Staatsangehörigen betrifft. Daher fällt die Verhängung von Betretungs- und Annäherungsverboten gemäß Art51 GRC in den Anwendungsbereich der GRC.

 

Innerhalb dieses Anwendungsbereiches gewährleistet Art47 GRC ebenfalls die Garantien des Art6 EMRK (und geht noch darüber hinaus, vgl dazu noch unten). Daher erachtet das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich §38a Abs1 SPG (konkret die darin enthaltene Beschränkung seiner Tatsachenkognitionsbefugnis) auch mit Art47 GRC nicht vereinbar.

 

2.5. Die Schaffung der Verwaltungsgerichte durch die B‑VG-Novelle BGBl I 51/2012 verfolgte insbesondere das Ziel, eine dem Art6 EMRK und dem Art47 GRC konforme Vollziehung des Verwaltungsrechts zu gewährleisten (vgl schon die Vorbemerkung im Allgemeinen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage 1618 BlgNR XXIV. GP , S. 3). Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich geht daher davon aus, dass dem durch diese Novelle eingefügten Art130 B‑VG eine Art6 Abs1 EMRK und Art47 GRC entsprechende Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte zu Grunde liegt, die auch hinsichtlich der von Art130 Abs1 Z2 B‑VG geregelten Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt keine Ausnahme erfährt.

 

Beschränkungen der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte (insbesondere ihrer Tatsachenkognitionsbefugnis) erscheinen daher auch im Hinblick auf Art130 B‑VG nur insoweit zulässig, als sie mit Art6 Abs1 EMRK bzw Art47 GRC im Einklang stehen.

 

Treffen daher die in den vorstehenden Ausführungen insoweit dargelegten Bedenken des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich gegen §38a Abs1 SPG zu, dürfte dieser auch mit Art130 Abs1 Z2 B‑VG nicht vereinbar sein.

 

2.6. Zusammengefasst hegt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich also das Bedenken, dass es bei der vom Verwaltungsgerichtshof insbesondere im Erkenntnis vom 10. Mai 2023 vorgegebenen Auslegung des §38a Abs1 SPG im Verfahren über Beschwerden gegen Betretungs- und Annäherungsverbote nicht über die von Art6 Abs1 EMRK, Art47 GRC und Art130 Abs1 Z2 B‑VG gebotene volle Tatsachenkognitionsbefugnis verfügt. Eine Beschränkung auf eine reine Rechtskontrolle (wie im Fall Ekbatani) erscheint nicht zulässig, weil es sich bei den Verwaltungsgerichten um die erste gerichtliche Instanz, also nicht um Rechtsmittelgerichte handelt.

 

Zwar hat gemäß §38a Abs7 SPG (auch) die zuständige Sicherheitsbehörde die Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbotes zu überprüfen, wobei ihre Kognitionsbefugnis über jene des Verwaltungsgerichts hinausgeht (vgl dazu VfGH 25.09.2018, G414/201[7]). Abgesehen davon, dass diese Befugnis nur für die Dauer der Geltung des Betretungs- und Annäherungsverbotes besteht, handelt es sich bei dieser Behörde aber zweifelslos nicht um ein Gericht ('Tribunal') iSd Art6 EMRK bzw des Art47 GRC."

 

2.2. In Bezug auf einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Determinierungsgebot führt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich aus, dass aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in der Rechtssache De Tommaso gegen Italien (EGMR 23.2.2017, 43.395/09, De Tommaso) abzuleiten sei, dass Anordnungen von Präventivmaßnahmen, die ua in das Recht auf Privat- und Familienleben eingreifen, wie es auch für Betretungs- und Annäherungsverbote mit all ihren Rechtsfolgen zutreffe, nicht allein auf der Grundlage eines Verdachtes gesetzt werden dürfen, sondern " 'Tatsachenbeweise' oder die besonderen Verhaltensweisen [...], die berücksichtigt werden müssen, um die Gefahr zu beurteilen, welche das Individuum für die Gesellschaft darstellt, und die zu vorbeugenden Maßnahmen führen" klar bestimmt werden müssen, um Schutz vor willkürlichen Eingriffen zu bieten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe im Urteil De Tommaso aber auch eine genaue Determinierung der vorbeugenden Maßnahmen selbst gefordert. Insoweit erscheine die gesetzliche Rechtsfolge des §13 Abs1 zweiter Satz WaffG nicht hinreichend präzise.

2.3. In Bezug auf einen Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit (Art2 4. ZP EMRK) bzw das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit (Art45 GRC) bestehe für das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich kein Zweifel daran, dass es sich bei der in §38a Abs8 SPG als Rechtsfolge eines Betretungs- und Annäherungsverbotes nach §38a Abs1 SPG vorgesehenen Verpflichtung zur Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle für Gewaltprävention, zur Vereinbarung einer Gewaltpräventionsberatung und zur aktiven Teilnahme daran um einen Eingriff in das Recht auf Bewegungsfreiheit handle, weil einem Betroffenen die Pflicht auferlegt werde, einen bestimmten Ort zu besuchen.

Zudem falle die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes in den Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta, sodass nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich sowohl die Garantien des Art13 EMRK als auch jene des Art47 GRC erfüllt sein müssten. Die gerichtliche Überprüfung des Betretungs- und Annäherungsverbotes gemäß Art130 Abs1 Z2 B‑VG iVm §88 Abs1 SPG durch das zuständige Landesverwaltungsgericht betreffe jedoch zunächst nur die Anordnung an sich (also die Rechtmäßigkeit nach §38a Abs1 SPG), nicht jedoch die im Abs8 des §38a SPG normierte Verpflichtung zur aktiven Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung und auch nicht das vorläufige Waffenverbot gemäß §13 Abs1 zweiter Satz WaffG.

Bei beiden Bestimmungen handle es sich um gesetzliche Folgen, die ex lege mit der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes eintreten, ohne dass weitere Schritte dafür gesetzt werden müssten. Dies habe zur Folge, dass die beiden Rechtsfolgen auch "zwangsläufig" das rechtliche Schicksal des Ausganges eines Verfahrens gegen die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes teilten und die Rechtmäßigkeit der beiden Maßnahmen nicht eigens bekämpft werden könne. Die fehlende gesonderte Bekämpfbarkeit der Rechtsfolgen des §38a Abs8 SPG und des §13 Abs1 zweiter Satz WaffG, die aus der "zwangsläufigen" Verknüpfung mit dem Betretungs- und Annäherungsverbot resultierten, widerspreche nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich den Anforderungen des Art13 EMRK und Art47 GRC. Die einzige in §38a Abs8 SPG normierte Ausnahme von der verpflichtenden aktiven Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung sei nur dann verwirklicht, wenn das Betretungs- und Annäherungsverbot gemäß §38a Abs7 SPG durch die zuständige Sicherheitsbehörde aufgehoben würde. Darin liege jedoch einerseits kein gerichtlicher Rechtsbehelf iSd Art47 Abs1 GRC und andererseits – vor allem wegen der kurzen Fristen des §38a Abs8 SPG und der sofortigen Wirkung des vorläufigen Waffenverbotes nach §13 Abs1 zweiter Satz WaffG – auch keine wirksame Beschwerde iSd Art13 EMRK.

Besonders deutlich werde das Fehlen einer wirksamen Beschwerde aber in Fällen, in denen ex-post Tatsachen hervorkommen, die, wären sie bereits im Zeitpunkt des Ausspruches des Betretungs- und Annäherungsverbotes vorgelegen, dessen Verhängung ausgeschlossen hätten. Jedenfalls bestehe nach Ablauf der grundsätzlich zweiwöchigen Geltungsdauer des Betretungs- und Annäherungsverbotes (§38a Abs10 SPG) keine Möglichkeit mehr, solche Gründe geltend zu machen. Im Maßnahmenbeschwerdeverfahren seien sie wegen der gebotenen ex‑ante‑Perspektive irrelevant und §38a Abs7 SPG sei ab dem Ablauf der Geltungsdauer nicht mehr anwendbar.

Auf Grund der Einschränkung der Kognitionsbefugnis des zur Prüfung des Betretungs- und Annäherungsverbotes zuständigen Landesverwaltungsgerichtes durch §38a Abs1 SPG bezweifelt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich jedoch auch darüber hinaus die Wirksamkeit der Beschwerde bzw des gerichtlichen Rechtsbehelfs iSv Art13 EMRK und Art47 GRC.

Durch diese Beschränkungen binde §38a Abs1 SPG das Verwaltungsgericht alleine an die subjektiven Wahrnehmungen der Beamten bzw ihre subjektive Einschätzung, welche Beweismittel ihnen maßgeblich erschienen, und verunmögliche so eine objektive Prüfung des maßgeblichen Sachverhaltes.

2.4. Letztlich stelle die angefochtene Bestimmung des §38a SPG auch einen Verstoß gegen das Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG, Art7 Abs1 B‑VG) bzw das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI BVG rassische Diskriminierung) dar. Zunächst schränke §38a Abs1 SPG ohne erkennbare sachliche Rechtfertigung die Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichtes gegenüber dem Art130 Abs1 Z2 B‑VG zu entnehmenden Grundsatz, wonach den Verwaltungsgerichten auch im Maßnahmenbeschwerdeverfahren volle Tatsachenkognitionsbefugnis zukomme, ein. Gerade im Hinblick auf die dargestellten, regelmäßig mit dem Ausspruch eines Betretungs- und Annäherungsverbotes verbundenen Eingriffe in mehrere verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte erscheine jedoch eine volle Tatsachenkognitionsbefugnis geboten.

§38 Abs8 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG knüpften in unsachlicher und daher dem Gleichheitsgrundsatz widersprechender Weise an den Ausspruch eines Betretungs- und Annäherungsverbotes nach §38a Abs1 SPG unmittelbare Rechtsfolgen, die sofort (§13 Abs2 WaffG) bzw innerhalb von fünf Tagen (§38 Abs8 SPG) für den Gefährder wirksam werden, von ihm jedoch nicht gesondert angefochten werden können. Selbst der zuständigen Sicherheitsbehörde sei keine Möglichkeit eingeräumt, von der Rechtsfolge des §38a Abs8 SPG abzusehen, sofern sie nicht das Betretungs- und Annäherungsverbot insgesamt gemäß §38a Abs7 SPG aufhebe. Hinsichtlich der Rechtsfolge des §13 Abs1 zweiter Satz WaffG gelte Ähnliches, sofern man nicht §13 Abs2 bis 4 WaffG darauf für anwendbar erachte (wogegen jedoch die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes im Erkenntnis vom 10. Mai 2023 sprächen).

Es sei speziell keine sachliche Rechtfertigung dafür erkennbar, warum die Gewaltpräventionsberatung nach §38a Abs8 SPG als zwingende Rechtsfolge des Betretungs- und Annäherungsverbotes vorgesehen sei, während sie nach §382f Abs4 EO in das Ermessen des Gerichtes gestellt sei.

3. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie den im Antrag erhobenen Bedenken wie folgt entgegentritt (ohne die Hervorhebungen im Original):

"1. Zu den Bedenken gegen §38a Abs1 und 8 SPG sowie §13 Abs1 zweiter Satz WaffG in Hinblick auf Art6 EMRK sowie Art130 Abs1 Z2 B‑VG:

 

1.1. Das antragstellende Gericht vertritt die Ansicht, dass die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes zusammen mit den nach §38a Abs8 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG daraus ex lege resultierenden Rechtsfolgen direkte Auswirkungen auf zivilrechtliche Ansprüche des Gefährders im Sinne des Art6 EMRK habe. Wenn – wie vorliegend – der Gefährder Miteigentümer jener Wohnung sei, auf die sich das Betretungsverbot beziehe, habe er durch dieses eine Eigentumsbeschränkung zu gewärtigen. Analoges gelte für das vorläufige Waffenverbot. Das Annäherungsverbot berühre zudem den Anspruch des Gefährders auf Kontakt zu seinen Familienangehörigen. Im Übrigen könne das Verfahren über ein Betretungs- und Annäherungsverbot im Hinblick auf die gesetzlichen Rechtsfolgen auch als Verfahren über eine strafrechtliche Anklage angesehen werden. Der die Anwendbarkeit des Art6 EMRK auf vorbeugende Maßnahmen wie Wegweisungen und Betretungsverbote gemäß §38a SPG verneinenden ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hält das antragstellende Gericht das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 23. Februar 2017, Appl 43395/09, De Tommaso gg. Italien, entgegen. Danach sei im Fall der Verhängung von vorbeugenden Maßnahmen, die zunächst kein ziviles Recht betreffen, die aber direkte und bedeutsame Auswirkungen auf ein persönliches Recht eines Individuums haben, – etwa des Verbots, in der Nacht auszugehen – der Anwendungsbereich des zivilrechtlichen Zweiges des Art6 EMRK eröffnet. Davon ausgehend hegt das Gericht das Bedenken, dass §38a Abs1 SPG in dem diesem vom Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung gegebenen Verständnis insofern eine mit Art6 EMRK sowie Art130 Abs1 Z2 B‑VG unvereinbare Beschränkung der vollen Tatsachenkognition des Verwaltungsgerichts für das Verfahren über Beschwerden gegen Betretungs- und Annäherungsverbote begründe, als dem Verwaltungsgericht verwehrt sei, den zugrundeliegenden Sachverhalt uneingeschränkt zu prüfen, zusätzliche Ermittlungen durch die einschreitenden Beamten zu verlangen, seine eigene Beurteilung des sich den einschreitenden Organen bietenden Gesamtbildes an die Stelle des Blickwinkels der Beamten zu setzen oder einzelne Details des Gesamtbildes mit besonderem Gewicht auszustatten. Das Verwaltungsgericht werde somit darin eingeschränkt, im Rahmen der Prüfung des Sachverhaltes bzw der sich stellenden Rechtsfragen Sachverhaltselemente zu berücksichtigen, die im Zeitpunkt der Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbotes vorgelegen, aber von den einschreitenden Beamten nicht berücksichtigt worden seien, und darauf bezogene ergänzende Feststellungen zu treffen.

 

1.2. Nach Auffassung der Bundesregierung ist hinsichtlich der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes bereits der Anwendungsbereich des Art6 EMRK nicht eröffnet.

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wird sowohl bei einem Betretungs- und Annäherungsverbot als auch bei einem Waffenverbot nicht über eine strafrechtliche Anklage im Sinn des Art6 EMRK entschieden, vielmehr handelt es sich dabei um eine administrativrechtliche Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Ordnung (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/01/0241; 26.6.2014, Ro 2014/03/0063). Auch eine Betroffenheit in zivilrechtlichen Ansprüchen im Sinne des Art6 EMRK wird nicht schon per se durch ein solches Verbot hergestellt (erneut VwGH 15.12.2015, Ra 2015/01/0241).

 

Dem vom Verwaltungsgericht angeführten Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall de Tommaso lag eine staatsanwaltliche Anordnung einer vorbeugenden Maßnahme (besondere polizeiliche Überwachung) zugrunde, in deren Rahmen dem Beschwerdeführer eine Vielzahl von Verpflichtungen auferlegt wurde; diese umfassten etwa die Verpflichtung, sich für den Zeitraum von zwei Jahren wöchentlich bei der Polizei zu melden, seinen Wohnsitz nicht zu verlegen, zwischen 22 und 6 Uhr seine Wohnunterkunft – außer im Notfall – nicht zu verlassen, nicht mit Personen zu verkehren, die vorbestraft und vorbeugenden oder Sicherheitsmaßnahmen unterworfen waren, keine Waffen zu besitzen oder zu tragen, keine Mobiltelefone oder Funkgeräte zu verwenden und keine öffentlichen Versammlungen zu besuchen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, dass insbesondere das nächtliche Ausgehverbot, das Verbot, den Wohnbezirk zu verlassen, das Verbot der Teilnahme an öffentlichen Versammlungen sowie das Verbot der Nutzung von Mobiltelefonen und Funkgeräten unzweifelhaft Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers betroffen haben und daher ziviler Natur im Sinne des Art6 EMRK sind (EGMR 23.2.2017, Appl 43395/09, De Tommaso gg. Italien, Rz 154).

 

Ersichtlich liegen diesem Urteil sowie den gegenständlichen Anlassverfahren in Umfang und Intensität gänzlich unvergleichbare vorbeugende Maßnahmen zugrunde. Der oben demonstrativ aufgezählten Vielzahl von mit erheblichen Einschränkungen der Lebensführung verbundenen Verpflichtungen für die Dauer von zwei Jahren im Fall De Tommaso stehen fallgegenständlich das sich lediglich über einen Zeitraum von zwei bis maximal vier Wochen erstreckende Betretungs- und Annäherungsverbot zum Zweck einer vorläufigen räumlichen Trennung zwischen gefährdender und gefährdeter Person, die damit ex lege einhergehende Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung im Umfang von mindestens sechs Stunden sowie das ex lege eintretende auf maximal vier Wochen beschränkte vorläufige Waffenverbot gegenüber. Bereits aufgrund dieser auffälligen Verschiedenheit kann aus der Bejahung des zivilen Charakters der diesem Urteil zugrundeliegenden vorbeugenden Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht auf einen solchen des Betretungs- und Annäherungsverbots und seiner gesetzlichen Rechtsfolgen geschlossen werden.

 

1.3. Unbeschadet einer Verneinung der Frage, ob hinsichtlich §38a Abs1 SPG der Anwendungsbereich des Art6 EMRK eröffnet ist, mangelt es ferner an der vom Verwaltungsgericht behaupteten Beschränkung dessen Befugnis zur Tatsachenkognition.

 

Der Lehre zufolge verzichtet die Bundesverfassung hinsichtlich der Maßnahmenbeschwerde auf die Festlegung eines reformatorischen oder kassatorischen Modells für die Sachentscheidung (vgl Kneihs in Kneihs/Lienbacher [Hrsg], Rill‑Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (2020), Art130 B‑VG, Rz 45). Die Kompetenz der Verwaltungsgerichte zur Entscheidung über Maßnahmenbeschwerden wird durch §28 Abs6 VwGVG näher ausgeführt (siehe Leeb in Hengstschläger/Leeb, AVG §28 VwGVG [Stand 15.2.2017] Rz 161). Gemäß §28 Abs1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, dh in der Sache zu entscheiden, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Ist über eine Maßnahmenbeschwerde in der Sache zu entscheiden, hat das Verwaltungsgericht gemäß §28 Abs6 VwGVG den bekämpften Verwaltungsakt für rechtswidrig zu erklären (und gegebenenfalls aufzuheben) oder die Beschwerde als unbegründet abzuweisen (vgl Leeb in Hengstschläger/Leeb, AVG §28 VwGVG [Stand 15.2.2017] Rz 167). 'Sache' des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens über eine Maßnahmenbeschwerde ist daher ausschließlich die Rechtmäßigkeit des bekämpften Verwaltungsaktes, dh das Verhältnis des in die Setzung des Verwaltungsaktes mündenden Verwaltungshandelns zu den für dieses normative Vorgaben enthaltenden Rechtsvorschriften.

 

Da die Sicherheitsbehörden zur Wahrnehmung der sicherheitspolizeilichen Aufgaben – wie etwa des vorbeugenden Schutzes von Rechtsgütern – verpflichtet sind, sind sie dies auch zur Ausübung der dazu eingeräumten Befugnisse. Daher ist die Ausübung der Befugnis zur Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots insoweit nicht in das Ermessen der einschreitenden Beamten gestellt, als die Voraussetzungen des §38a Abs1 SPG vorliegen und die Aufgabe nicht mit gelinderen Mitteln gleichwertig erfüllt werden kann; gerade in den Fallkonstellationen des §38a SPG kommen solche gelinderen Mittel jedoch kaum in Betracht (vgl Bauer/Keplinger, Gewaltschutzgesetz6, §38a Anm. 24).

 

Voraussetzung für die Anordnung eines Betretungsverbots ist die aufgrund bestimmter Tatsachen bestehende Annahme, dass ein gefährlicher Angriff im Sinne des §16 Abs2 und 3 SPG gegen Leben, Gesundheit oder Freiheit bevorsteht. Welche Tatsachen in Frage kommen, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Diese Tatsachen müssen die Annahme rechtfertig[]en, dass plausibel und nachvollziehbar bestimmte künftige Verhaltensweisen zu erwarten sein werden. Auf Grund des sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietenden Gesamtbildes muss mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein, dass ein gefährlicher Angriff im genannten Sinn durch die – dadurch als Gefährder sich präsentierende – betroffene Person bevorstehe (vgl VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163). Es ist also ausgehend vom Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens eine Prognose – auf Grundlage der allgemeinen Lebenserfahrung und der besonderen Erfahrungswerte der Sicherheitsexekutive – vorzunehmen (vgl Keplinger/Pühringer, SPG20, §38a Anm. 8).

 

Die Prüfbefugnis des Verwaltungsgerichts im Sinne des §27 VwGVG ist – auch im Verfahren über eine Maßnahmenbeschwerde (vgl Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte2 (2017) §27 VwGVG Rz 1 und 5) – durch die 'Sache' des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens beschränkt. Die Tatsachenkognition des Verwaltungsgerichts im Rahmen einer Maßnahmenbeschwerde betreffend die Anordnung eines Betretungsverbots kann sich insofern lediglich auf die Feststellung des für dessen Anordnung maßgeblichen Sachverhalts erstrecken. Der damit angesprochene Sachverhalt umfasst nun gerade die von den einschreitenden Beamten als für die Anordnung als maßgeblich erachteten Tatsachen sowie deren Wissensstand im Zeitpunkt der Anordnung. Der 'Zuschnitt der Sache' bedingt so zwangsläufig die verwaltungsgerichtliche Kognitionsbefugnis.

 

Im Gegensatz zu der Entscheidung darüber, ob die Befugnis des §38a Abs1 SPG auszuüben ist, ist die Entscheidung darüber, welche Elemente in die Prognose bzw ex ante-Beurteilung einfließen, dh darüber, woraus sich das sich den einschreitenden Beamten darbietende Gesamtbild zusammensetzt, zwangsläufig in deren Ermessen gestellt. Diese für das Einschreiten maßgeblichen Umstände sind nach §38a Abs6 SPG (und §10 erster Satz der Richtlinien-Verordnung – RLV, BGBl Nr 266/1993) zu dokumentieren, wodurch deren nachträgliche Nachvollziehbarkeit gewährleistet werden soll. Nach Art130 Abs3 B‑VG liegt Rechtswidrigkeit nicht vor, soweit das Gesetz der Verwaltungsbehörde Ermessen einräumt und sie dieses im Sinne des Gesetzes geübt hat. In der Maßnahmenbeschwerde kommt eine Ermessensausübung durch das Verwaltungsgericht höchstens dann in Betracht, wenn es nicht bloß die Maßnahme der Verwaltungsbehörde zu beurteilen, sondern positiv auf deren Abwandlung oder Beendigung zu erkennen hat; für die bloße Beurteilung des angefochtenen Verwaltungsaktes gilt aber jedenfalls Art130 Abs3 B‑VG (Kneihs in Kneihs/Lienbacher [Hrsg], Rill‑Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (2020), Art130 B‑VG, Rz 38). Insofern ist es dem Verwaltungsgericht daher schon von Verfassung wegen verwehrt, sein eigenes Ermessen in der Beurteilung der für die Anordnung des Betretungsverbots maßgeblichen Umstände an die Stelle desjenigen der einschreitenden Beamten zu setzen.

 

Bei dem skizzierten Umfang der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte im Rahmen der Überprüfung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes handelt es sich im Übrigen um eine der Systematik der Maßnahmenbeschwerde im Anwendungsbereich der Sicherheitsverwaltung als solcher immanente Schranke. So ist im Anwendungsbereich des §88 SPG für die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Aktes unmittelbarer sicherheitsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt sowohl nach ständiger Rechtsprechung als auch der Literatur zufolge einhellig jene Sachlage zugrunde zu legen, wie sie dem ei[n]geschrittenen Organ im Handlungszeitpunkt bekannt war bzw – insbesondere im Hinblick auf den Zeitfaktor – bei zumutbarer Sorgfalt bekannt sein musste. Im Ergebnis ist daher im Sinne einer ex ante‑Beurteilung lediglich zu prüfen, ob das Organ zumindest vertretbarerweise vom Vorliegen der Voraussetzungen für sein Einschreiten ausgehen durfte (vgl Thanner/Vogl, Sicherheitspolizeirecht2 §88 S 808 f mwN; Keplinger/Pühringer, SPG20 §88 Anm. 2b).

 

Im Übrigen verabsäumt das antragstellende Gericht, den 'Zuschnitt der Sache' im Verfahren über eine Maßnahmenbeschwerde betreffend die Anordnung eines Betretungsverbots als mit Art6 EMRK unvereinbare Beschränkung geltend zu machen. Dadurch benimmt es seinen Bedenken, sofern sie nicht wie im oben ausgeführten Sinn verstanden werden, jedoch ihre Nachvollziehbarkeit.

 

1.4. Ungeachtet der Frage, ob mit dem 'Zuschnitt der Sache' – und der damit einhergehenden Abgrenzung der Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichts – überhaupt eine Beschränkung der Verfahrensgarantie des Art6 EMRK vorliegt, wird damit ein legitimes Ziel in nicht unverhältnismäßiger Weise verfolgt und in den Wesensgehalt der Verfahrensgarantie des Art6 EMRK nicht eingegriffen (vgl Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 §24 Rz 53).

 

Für die Wahrnehmung der sicherheitspolizeilichen Aufgabe des vorbeugenden Schutzes vor Gewalt besteht die besondere Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Effizienz der vorbeugenden Maßnahmen zu gewährleisten, um die Rechte der gefährdeten Personen erfolgreich zu wahren (vgl EGMR vom 25.9.2008, Appl 26664/03, K.T. gg. Norwegen, Rz 98 f). Die Abgrenzung der Kognitionsbefugnis – wie oben dargestellt – steht im Zeichen dieser Notwendigkeit und benimmt dem Gericht in Verfahren über Maßnahmenbeschwerden gegen die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots nicht die Kompetenz, die für das Verfahren rechtserheblichen Tatsachen zu ermitteln und den so festgestellten Sachverhalt unter die entsprechenden Rechtsvorschriften zu subsumieren.

 

[…]

 

3. Zu den Bedenken gegen §38a Abs8 SPG in Hinblick auf Art2 des 4. ZPEMRK:

 

3.1. Nach Ansicht des antragstellenden Gerichts bestehe kein Zweifel daran, dass es sich bei der in §38a Abs8 SPG als Rechtsfolge eines Betretungs- und Annäherungsverbotes nach §38a Abs1 SPG vorgesehenen Verpflichtung zur Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle für Gewaltprävention zur Vereinbarung einer Gewaltpräventionsberatung und zur aktiven Teilnahme daran um einen Eingriff in das Recht auf Bewegungsfreiheit handle, weil einem Betroffenen die Pflicht auferlegt werde, einen bestimmten Ort zu besuchen. Die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes bzw die Verpflichtung zur Kontaktaufnahme sowie zur aktiven Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung würden zwar mit §38a SPG eine gesetzliche Grundlage aufweisen und mit der Verhütung von allfälligen (weiteren) Straftaten, sowie dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, der Moral, der Gesundheit sowie der Rechte und Freiheiten anderer ein legitimes Ziel im Sinne des Art2 Abs3 des 4. ZPEMRK verfolgen. Der durch die Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung erfolgende Eingriff sei jedoch unverhältnismäßig. Dies ergebe sich zunächst aus den in §38a Abs8 SPG vorgesehenen sehr kurzen Fristen zur Kontaktaufnahme bzw zum Beginn der Gewaltpräventionsberatung, deren Nichtbeachtung unter administrativ- und verwaltungsstrafrechtlicher Sanktion stehe. Innerhalb derart kurzer Fristen seine Lebensführung, insbesondere eine berufliche Tätigkeit, aber auch zB länger geplante Abwesenheiten vom Wohnort auf die Absolvierung der Beratung ausrichten zu müssen, erscheine unverhältnismäßig, zumal der zuständigen Sicherheitsbehörde gesetzlich keine Möglichkeit einer Fristerstreckung aus berücksichtigungswürdigen Gründen eingeräumt sei. Die Unvereinbarkeit der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung mit Art2 des 4. ZPEMRK ergebe sich zudem aus dem unzureichenden Rechtsschutz speziell in Hinblick auf diese Rechtsfolge.

 

3.2. Die Bundesregierung weist zunächst darauf hin, dass das Verwaltungsgericht zwar anscheinend sowohl die Anordnung eines Betretungsverbotes als auch die in §38a Abs8 SPG normierte gesetzliche Rechtsfolge einer solchen Anordnung als Eingriff in das Recht auf Bewegungsfreiheit erachtet, jedoch lediglich in Bezug auf die Verpflichtung zur Teilnahme an der Gewaltpräventionsberatung Gründe für eine behauptete Unverhältnismäßigkeit anführt. Dass diese Gründe auf die Bestimmung des §38a Abs1 SPG durchschlügen, macht das Gericht hingegen nicht geltend.

 

3.3. Nach Auffassung der Bundesregierung erfolgt durch §38a Abs8 SPG selbst kein Eingriff in das Recht auf Bewegungsfreiheit: Art2 Abs1 des 4. ZPEMRK gewährleistet das Recht, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen (Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 §21 Rz 73). Voraussetzung dafür ist lediglich, dass sich die betreffende Person rechtmäßig, dh entsprechend den nationalen Gesetzen, im Hoheitsgebiet des Vertragsstaats aufhält (Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 §21 Rz 72). Eingriffe in die Bewegungsfreiheit lassen sich in zwei Gruppen einteilen: in staatliche Anordnungen, die dem Grundrechtsträger den Aufenthalt an einem bestimmten Ort verbindlich vorschreiben oder ihm verbieten, einen Ort zu verlassen, sowie in staatliche Verbote, bestimmte Orte oder Gegenden zu betreten. Solche Eingriffe liegen beispielsweise vor, wenn dem Betroffenen die Pflicht auferlegt wird, seine Wohnung nicht ohne Verständigung der Behörden zu verlassen oder ihm der Besuch bestimmter Orte gänzlich untersagt wird (vgl Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 §21 Rz 76). Durch die Verpflichtung zur Teilnahme an der Gewaltpräventionsberatung wird dem Betroffenen weder der Aufenthalt an einem bestimmten Ort vorgeschrieben noch verboten, einen bestimmten Ort zu verlassen. Sowohl die konkrete Vereinbarung der Termine für die Beratung als auch die örtliche Auswahl einer der bundesweit zur Verfügung stehenden Beratungsstellen für Gewaltprävention ist von der betroffenen Person selbst vorzunehmen (vgl Bauer/Keplinger, Gewaltschutzgesetz6, §38a Anm. 109). Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte legt diese Sichtweise nahe, kommt es dieser zufolge doch auch durch die Vorladung, zum Zwecke der Einvernahme vor dem Staatsanwalt zu erscheinen, nicht zu einem Eingriff in das Recht auf Bewegungsfreiheit (vgl EGMR vom 6.6.2002 [E], Appl 58939/00, Kuzmin gg. Russland, Rz 12).

 

Der im Gegensatz dazu durch §38a Abs1 SPG bewirkte Eingriff in das Recht auf Bewegungsfreiheit ist für sich genommen unzweifelhaft verhältnismäßig: Die Ermächtigung zur Anordnung eines Betretungsverbotes gegenüber einem Gefährder stellt insofern einen Eingriff in dessen Bewegungsfreiheit dar, als den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes dadurch die Befugnis eingeräumt wird, ein an den Gefährder gerichtetes staatliches Verbot auszusprechen, einen bestimmten Ort – konkret die betreffende Wohnung sowie den jeweiligen Aufenthaltsort des Gefährdeten – zu betreten. Diese Befugnis dient der Wahrnehmung der sicherheitspolizeilichen Aufgabe der Vorbeugung gefährlicher Angriffe im Sinn von §22 Abs2 und 4 SPG (Hauer/Keplinger, Sicherheitspolizeigesetz4, §38a Rz 2), ihre Ausübung dem Schutz der öffentlichen Ordnung (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/01/0241). Mit ihr verfolgt die Gesetzgebung mithin legitime Ziele im Sinne des Art2 Abs3 des 4. ZPEMRK, konkret die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Verhütung von Straftaten, den Schutz der Gesundheit sowie den Schutz der Rechte und Freiheiten der gefährdeten Person. Ersichtlich ist diese Befugnis auch ein zur Aufgabenerfüllung geeignetes Instrument, dh die Anordnung eines Betretungsverbotes kann im Einzelfall geeignet sein, einem gefährlichen Angriff vorzubeugen bzw eine vom Gefährder ausgehende Gefahr abzuwehren. Die Ermächtigung des §38a Abs1 SPG ist zur Verfolgung des öffentlichen Interesses auch erforderlich: gerade im Falle häuslicher Gewalt kann die Anordnung eines Betretungsverbotes im Einzelfall die einzige Maßnahme darstellen, die den raschen vorbeugenden Schutz der genannten Rechtsgüter unmittelbar bewirkt sowie die Begehung von Straftaten effektiv verhindert. Die Ermächtigung zum Eingriff in die Bewegungsfreiheit des Gefährders steht in abstracto auch nicht außer Verhältnis zu den sich aus Art2 EMRK ergebenden Schutzpflichten des Staates und zu der sicherheitspolizeilichen Aufgabe des vorbeugenden Schutzes von Rechtsgütern der gefährdeten Person wie deren Gesundheit und Freiheit. Vielmehr ist die Verhältnismäßigkeit letztlich anhand jener konkreten, aus einer ex ante‑Sicht festzustellenden Umstände, insbesondere der vom Gefährder ausgehenden Gefahr, zu beurteilen, unter denen es im Einzelfall zur Ausübung der Befugnis kommt. Diesem Beurteilungsrahmen entspricht, dass von den einschreitenden Beamten bei der Anordnung eines Betretungsverbotes der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anzuwenden ist (Bauer/Keplinger, Gewaltschutzgesetz6 §38a Anm. 24). Auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lässt sich entnehmen, dass mit der Anordnung eines Betretungsverbotes als einer präventiven Schutzmaßnahme ein Eingriff in Art2 des 4. ZPEMRK des Gefährders erfolgt, dessen Verhältnismäßigkeit maßgeblich von der Art und dem Gewicht der vom Gefährder ausgehenden Gefahr abhängt (EGMR [GK] vom 15.6.2021, Kurt gg. Österreich, Appl 62903/15, Rz 183). Im Ergebnis erweist sich daher die gesetzliche Ermächtigung des §38a Abs1 SPG zur Anordnung eines Betretungsverbots als verhältnismäßig im engeren Sinn.

 

Vor diesem Hintergrund kann der vom antragstellenden Gericht ins Treffen geführte, durch §38a Abs8 SPG dem Gefährder vorgegebene zeitliche Ablauf von der Kontaktnahme mit einer Beratungsstelle bis zur (erstmaligen) Teilnahme an der Gewaltpräventionsberatung nach Auffassung der Bundesregierung nicht die Unverhältnismäßigkeit des durch §38a Abs1 SPG bewirkten Eingriffs in die Bewegungsfreiheit des Gefährders begründen. Da die praktischen Auswirkungen der gesetzlichen Rechtsfolge des §38a Abs8 SPG den durch §38a Abs1 SPG bewirkten Eingriff in die Bewegungsfreiheit, der mit der Anordnung des Betretungsverbotes einhergeht, mangels Zusammenhangs mit dem Aufenthalt in oder der Nutzung der vom Betretungsverbot betroffenen Wohnung nicht verschärfen (und auch im Hinblick auf die behauptete Verletzung der anderen im Antrag genannten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte nicht erheblich sind), sind sie bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Ermächtigung nach Auffassung der Bundesregierung auch nicht zu berücksichtigen.

 

4. Zu den Bedenken gegen §38a Abs1 und 8 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG in Hinblick auf Art13 EMRK und das Rechtsstaatsprinzip des B‑VG:

 

4.1. Das antragstellende Gericht ist der Auffassung, dass die fehlende gesonderte Bekämpfbarkeit der gesetzlichen Rechtsfolgen nach §38a Abs8 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG, die seiner Ansicht nach einen Eingriff in Art8 EMRK, Art1 Abs1 des 1. ZPEMRK und Art2 des 4. ZPEMRK bewirken würden, den Anforderungen des Art13 EMRK widerspreche. Eine Maßnahmenbeschwerde gegen die diese Rechtsfolgen auslösende Anordnung eines Betretungsverbots stelle deshalb keinen wirksamen Rechtsbehelf dar, weil zum einen die (aktive) Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung ja bereits zuvor stattgefunden haben müsste, um nicht verwaltungsstrafrechtliche Sanktionen gemäß §84 Abs1b Z3 SPG nach sich zu ziehen, und zum anderen das vorläufige Waffenverbot sofort wirksam werde. Die einzige theoretische Möglichkeit, diese Rechtsfolgen zu vermeiden, läge in der sofortigen Erhebung einer Beschwerde nach Art130 Abs1 Z2 B‑VG, mit der auch ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß §22 Abs1 VwGVG gestellt wird. Eine sofort zu erhebende Beschwerde könne aber nicht als wirksame Abhilfe angesehen werden.

Infolge der (behaupteten) Einschränkung der Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichts durch §38a Abs1 SPG habe das antragstellende Gericht jedoch auch darüber hinaus Bedenken gegen die Wirksamkeit der Beschwerde. So sei es dem Verwaltungsgericht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sowohl verwehrt, die Rechtmäßigkeit der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes im Hinblick darauf zu beurteilen, ob den einschreitenden Beamten zusätzliche – auch einfach durchzuführende bzw naheliegende – Ermittlungsschritte möglich gewesen wären, als auch selbst ergänzende Feststellungen zu den Wahrnehmungen der Beamten zu treffen. Durch diese Beschränkungen binde §38a Abs1 SPG das Verwaltungsgericht alleine an die subjektiven Wahrnehmungen der Beamten bzw ihre subjektive Einschätzung, welche Beweismittel ihnen maßgeblich erscheinen, und verunmögliche so eine objektive Prüfung des maßgeblichen Sachverhalts.

 

Aus den dargelegten Gründen stehen nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes §38a Abs1 und 8 SPG sowie §13 Abs1 zweiter Satz WaffG auch in einem Spanungsverhältnis zu dem dem B‑VG zu Grunde liegenden Rechtsstaatsprinzip, welches im vorliegenden Zusammenhang vor allem in Gestalt des Art130 Abs1 Z2 B‑VG zum Ausdruck komme, insbesondere dem daraus resultierenden Gebot der faktischen Effizienz des Rechtsschutzes.

 

4.2. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte kommt den Konventionsstaaten bei der Ausgestaltung einer im Sinne des Art13 EMRK wirksamen Beschwerde ein gewisser Gestaltungsspielraum zu. Die Beschwerdemöglichkeit muss für den Einzelfall adäquat ausgestaltet sein. Die Anforderungen an die Wirksamkeit hängen im konkreten Fall vom geltend gemachten Konventionsrecht und der Intensität der behaupteten Verletzung ab. Die Wirksamkeit einer Beschwerdemöglichkeit muss sich nicht zwingend aus einem einzigen Rechtsmittel ergeben, sondern kann aus der Kombination mehrerer Behelfe folgen (vgl Lukan in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht B‑VG und Grundrechte Art13 EMRK [Stand 1.1.2021] Rz 8).

 

Das antragstellende Gericht konzentriert sich in seinen Bedenken ausschließlich auf die Auswirkungen der Ausgestaltung des Rechtsschutzes auf den Gefährder und versäumt dabei, den Zweck der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes (mit) zu berücksichtigen. Bei der Frage, ob sich die nachträgliche Überprüfung im Wege der Maßnahmenbeschwerde (allenfalls in Kombination mit einer darauf gestützten Amtshaftungsklage) für die vorliegende Konstellation als adäquat darstellt, ist jedoch zu beachten, dass das Betretungs- und Annäherungsverbot sowie die daran gemäß §38a Abs8 SPG und §13 Abs1 WaffG geknüpften gesetzlichen Rechtsfolgen präventive Maßnahmen darstellen, deren Effektivität – im Hinblick auf die damit verfolgten öffentlichen Interessen (vgl Punkt III.1.3.) – maßgeblich von ihrer sofortigen Wirkung abhängt.

 

4.3. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind Einschränkungen von Art13 EMRK möglich, wenn die Beschränkung des akzessorischen Konventionsrechts gerechtfertigt ist. Das ist zB der Fall, wenn nach Art8 Abs2 EMRK gerechtfertigte geheime Überwachungsmaßnahmen durch die Eröffnung einer ansonsten nach Art13 EMRK geforderten Beschwerdemöglichkeit behindert oder vereitelt würden (siehe Lukan in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht B‑VG und Grundrechte Art13 EMRK [Stand 1.1.2021] Rz 16).

 

Dies trifft auch auf die vorliegende Konstellation zu: In Anbetracht des Zieles der raschen Unterbrechung einer Gewaltspirale sowie der Nutzung des eng begrenzten „window of opportunity“ für eine effektive Intervention zum Zweck der Prävention von Gewaltanwendung im familiären Kontext würde die vom antragstellenden Gericht geforderte Einräumung von der Maßnahmenbeschwerde zuvorkommenden Rechtsbehelfen die Wahrnehmung den effektiven Schutz der mit der Maßnahme geschützten Rechtsgüter unterminieren.

 

Vor diesem Hintergrund gebietet nach Auffassung der Bundesregierung weder Art13 EMRK noch das Gebot der faktischen Effizienz des Rechtsschutzes eine gesonderte Bekämpfbarkeit der in den §38a Abs8 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG angeordneten gesetzlichen Rechtsfolgen des Betretungs- und Annäherungsverbotes."

 

Zu den Bedenken gegen §38a Abs1 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG im Hinblick auf "verfassungsrechtliche Determinierungsgebote" führt die Bundesregierung aus, dass sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 23. Februar 2017, 43.395/09, De Tommaso, für die Anordnung von in bestimmte persönliche Rechte eingreifenden Präventivmaßnahmen ergebe, dass diese nicht allein auf der Grundlage eines Verdachtes gesetzt werden dürften. Zweifelsfrei müssen die Regelungen sicherstellen, dass vorbeugende Maßnahmen nicht willkürlich gesetzt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe in dem zitierten Fall jedoch die dem Verfahren zugrunde liegende nationale Regelung deshalb als unzureichend eingestuft, weil keine hinreichend klaren Bestimmungen vorgesehen gewesen seien, die den Eingriffstatbestand präzisierten, aber insbesondere auch deshalb, weil die möglichen Eingriffe, auf welche Individuen die vorbeugende Maßnahme potentiell anwendbar gewesen seien, äußerst vage und unbestimmt gehalten und sehr weitreichend gewesen seien (EGMR aaO., Rz 117 bis 125). All dies treffe jedoch auf §38a Abs1 SPG nicht zu; in §38a Abs1 SPG sei unzweideutig normiert, dass die Annahme eines von der gefährdenden Person ausgehenden bevorstehenden gefährlichen Angriffes auf Leben, Gesundheit oder Freiheit unabdingbare Voraussetzung für die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes sei.

Zudem seien auch die mit der Aussprache eines Betretungs- und Annäherungsverbotes einhergehenden Rechtsfolgen gesetzlich klar festgelegt: Neben dem Verbot des Betretens der Wohnung, in der die gefährdete Person wohnt, samt einem Bereich im Umkreis von hundert Metern sowie der Annäherung an diese Person im Umkreis von hundert Metern seien in §38a Abs8 SPG die Verpflichtung der gefährdenden Person, binnen fünf Tagen ab Anordnung eine Beratungsstelle für Gewaltprävention zur Vereinbarung einer Gewaltpräventionsberatung zu kontaktieren, sowie die weiteren Modalitäten hinsichtlich der Absolvierung der Beratung festgelegt. Das mit der Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbotes ex lege eintretende vorläufige Waffenverbot sei – der allgemeinen Gesetzessystematik folgend – in §13 Abs1 zweiter Satz WaffG verankert.

Zu den Bedenken gegen §38a Abs1 und 8 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG im Hinblick auf das Sachlichkeitsgebot führt die Bundesregierung aus, dass zur sachlichen Begründung für die Normierung der gesetzlichen Rechtsfolgen auf die einschlägigen Gesetzesmaterialien zu verweisen sei: Mit der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltschutzberatung durch geeignete Beratungsstellen für Gewaltprävention gemäß §38a Abs8 SPG sei eine neue, besondere Maßnahme zur Vorbeugung künftiger Gewalttaten durch opferschutzorientierte Täterarbeit geschaffen worden, um nach der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes das "window of opportunity" zu nützen und eine rasche Beratung des Gefährders zur Deeskalation und Vorbeugung von Gewalt zu bewirken. Ziel der Gewaltpräventionsberatung sei es, auf die Abstandnahme von (weiterer) Gewaltanwendung im Umgang mit Menschen hinzuwirken und eine nachhaltige Veränderung im Verhalten der Klienten zu erreichen, die zu Gewaltstopp und Deeskalation führe (vgl IA 970/A BlgNR 26. GP 26). Das vorläufige Waffenverbot gemäß §13 Abs1 zweiter Satz WaffG diene ebenfalls dem präventiven Opferschutz und der Erhöhung der öffentlichen Sicherheit.

In Bezug auf die Nichtanwendbarkeit der Grundrechte-Charta führt die Bundesregierung aus, dass es eines unionsrechtlichen Anknüpfungspunktes bedürfe, der die jeweils konkrete Fallgestaltung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit auch in den Anwendungsbereich der für das Unionsrecht grundrechtlich maßgeblichen Grundrechte-Charta bringe. Nach Auffassung der Bundesregierung würden durch die angefochtenen Bestimmungen weder Grundfreiheiten beschränkt noch Angehörige eines Mitgliedstaates in ihrer Unionsbürgerschaft berührt. So schränke das Betretungsverbot (sowie die daran geknüpften Rechtsfolgen) schon auf Grund seines eng gefassten temporären Charakters weder die Niederlassungsfreiheit noch die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Dienstleistungsfreiheit des Gefährders ein. Das antragstellende Gericht habe auch in keiner Weise dargelegt, inwiefern die betroffenen Beschwerdeführer durch die angefochtenen Bestimmungen in ihren Grundfreiheiten beschränkt sein sollten. Aus diesem Grund sei der Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta hinsichtlich der angefochtenen Bestimmungen nicht eröffnet.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

1.2. Die Bundesregierung zieht in ihrer Äußerung die Zulässigkeit des zweiten Eventualantrages in Zweifel. Bedenken gegen die Zulässigkeit des Hauptantrages werden nicht vorgebracht.

1.3. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, was an der Präjudizialität zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Hauptantrag daher als zulässig.

2. In der Sache

Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B‑VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den im Antrag dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

Der Antrag ist nicht begründet:

2.1. Zum rechtlichen Hintergrund des §38a SPG

Zum Schutz vor Gewalt im häuslichen Bereich, insbesondere innerhalb der Familie, wurde mit 1. Mai 1997, BGBl 759/1996, in §38a SPG die Bestimmung "Wegweisung und Rückkehrverbot bei Gewalt in Wohnungen" erstmals eingefügt. Bis zur Einführung dieser Bestimmung konnte der vorbeugende Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, wie er in §22 Abs2 und 4 SPG als Aufgabe der Sicherheitsbehörden konzipiert ist, bei Gewaltakten, die sich in der häuslichen Sphäre ereigneten, nur eingeschränkt erfüllt werden: Das SPG bot vor der Einführung des §38a SPG in Fällen, in denen der Verdacht bestand, dass ein gefährlicher Angriff bevorstehe, kein ausreichendes Instrumentarium zur Gewährleistung eines angemessenen vorbeugenden Schutzes der gefährdeten Menschen. Die Möglichkeiten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes waren in Situationen, in denen es zu Gewaltakten in der Wohnsphäre gekommen war und mit weiteren gefährlichen Angriffen gerechnet werden musste, im Wesentlichen darauf beschränkt, der gefährdeten Person lediglich zu raten, sich in Sicherheit zu bringen.

Seit seiner Einführung wurde §38a SPG mehrmals mit dem Ziel novelliert, den Schutz gefährdeter Personen zu erweitern.

§38a SPG in der aktuell geltenden Fassung BGBl I 124/2021 ermächtigt die einschreitenden Sicherheitsbeamten, einem Menschen, von dem auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass er einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, begehen werde (Gefährder), das Betreten einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, samt einem Bereich im Umkreis von hundert Metern zu untersagen (Betretungsverbot). Mit dem Betretungsverbot verbunden ist seit der SPG‑Novelle BGBl I 105/2019 auch das Verbot der Annäherung an den Gefährdeten im Umkreis von hundert Metern (Annäherungsverbot).

Vorauszuschicken ist, dass sich aus §22 Abs4 SPG ableiten lässt, dass es sich bei der in §38a leg cit genannten Ermächtigung um keine solche handelt, die den Sicherheitsorganen Ermessensspielraum einräumt, vielmehr handelt es sich um eine Verpflichtung zur Anordnung eines solchen Betretungs- und Annäherungsverbotes, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind (vgl Keplinger, §38a SPG, in: Bauer/Keplinger [Hrsg.], Gewaltschutzgesetz Praxiskommentar, 2020, 146; s. auch Keplinger/Pühringer, Sicherheitspolizeigesetz Praxiskommentar20, 2021, §38a SPG Anm. 4; Hauer/Keplinger, Sicherheitspolizeigesetz4, 2011, §38a Rz 2).

Die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes setzt das Vorliegen bestimmter Tatsachen voraus, auf Grund derer anzunehmen ist, dass ein gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in der Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, bevorstehe. Diese Tatsachen müssen die Annahme rechtfertigen, dass plausibel und nachvollziehbar bestimmte künftige "gefährliche" Verhaltensweisen zu erwarten sein werden. Bei dieser Prognose ist vom Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens auszugehen. Die einschreitenden Beamten sind verpflichtet, in ihrer Prognoseentscheidung eine eigenständige, proaktive und umfassende Risikobewertung vorzunehmen und dabei die Besonderheiten häuslicher Gewalt unter Einbeziehung der besonderen Erfahrungswerte der Sicherheitsexekutive zu berücksichtigen (vgl Keplinger/Pühringer, aaO., §38a SPG Anm. 8). Die Sicherheitsorgane müssen selbst Verhaltensweisen oder bestimmte Tatsachen unmittelbar wahrnehmen, die auf eine bevorstehende Gefährdung schließen lassen können (vgl in diesem Zusammenhang auch VfSlg 12.745/1991 mwH).

Das Verwaltungsgericht hat somit die Rechtmäßigkeit eines gemäß §38a SPG angeordneten Betretungs- und Annäherungsverbotes im Sinne einer objektivierten ex ante‑Betrachtung aus dem Blickwinkel der einschreitenden Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Zeitpunkt ihres Einschreitens zu prüfen. Dabei hat es zu beurteilen, "ob die eingeschrittenen Organe entsprechend der dargelegten Grundsätze vertretbar annehmen konnten, dass ein vom Gefährder ausgehender gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit bevorsteht" (jüngst VwGH 24.7.2023, Ra 2023/01/0074 mwH; s. auch Keplinger/Pühringer, aaO. §38a SPG Anm. 43).

Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht, dass diese Ersteinschätzung nicht immer zweifelsfrei zu fällen ist und gerade im Rahmen einer häuslichen Konfliktsituation oft sich die an dem Konflikt Beteiligten mit "Aussage gegen Aussage" gegenüberstehen. Gerade in solchen Situationen besteht für die einschreitenden Organe jedoch die Verpflichtung, auf Basis des sich ihnen bietenden Gesamtbildes ex ante einzuschätzen, ob mit einiger Wahrscheinlichkeit ein gefährlicher Angriff – also ein Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit (zumindest) einer gefährdeten Person – durch den Wegzuweisenden bevorstehen könnte. Dass dabei vom Wissenstand des Beamten zum Zeitpunkt des Einschreitens und der dabei zu fällenden Prognoseentscheidung auszugehen ist, setzt §38a SPG voraus; auch – und nichts Anderes kann dem Gesetzgeber unterstellt werden, wenn er Regelungen zur Vermeidung von Gewalt im häuslichen Umfeld trifft – nimmt die Regelung zur Vermeidung von Gewalteskalationen hin, dass diese Prognose in Einzelfällen unscharf sein kann. Neben zahlreichen Verpflichtungen, etwa über die Rechtsfolgen des Betretungs- und Annäherungsverbotes aufzuklären, sind auch gemäß §38a Abs6 SPG die für das Einschreiten maßgeblichen Umstände (für sich anschließende Verfahren) zu dokumentieren. Diese Dokumentation beschreibt somit die für die Verhängung des Betretungs- und Annäherungsverbotes maßgeblichen Umstände (vgl Bauer/Keplinger [Hrsg.], Gewaltschutzgesetz Praxiskommentar, 2020, 168 f.).

§38a SPG regelt in seinem Absatz 10 die Geltungsdauer: So endet ein Betretungs- und Annäherungsverbot nach Abs1 leg cit grundsätzlich ex lege nach zwei Wochen, in manchen Fällen auch erst nach vier Wochen.

2.2. Zu den Bedenken in Bezug auf Art6 EMRK und Art130 Abs1 Z2 B‑VG:

2.2.1. Das antragstellende Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vertritt nun die Auffassung, dass in Fällen etwa, in denen der "Gefährder", über den ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wird, (Mit)Eigentümer jener Wohnung sei, auf die sich das Betretungsverbot beziehe, für ihn eine Eigentumsbeschränkung vorliege und auch der Ausspruch eines vorläufigen Waffenverbotes zu einer Eigentumsbeschränkung führe.

Daraus folge, dass ein verwaltungsgerichtliches Verfahren, in dem über die Rechtmäßigkeit eines Betretungs- und Annäherungsverbotes entschieden wird, zivilrechtliche Ansprüche iSd Art6 Abs1 EMRK zum Gegenstand habe. Die gesetzlichen Rechtsfolgen (§38a Abs8 SPG und §13 Abs1 WaffG) könnten sogar als ein Verfahren über eine strafrechtliche Anklage gesehen werden.

2.2.2. Diese Auffassung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich trifft jedoch nicht zu:

Art6 EMRK gewährleistet ein Justiz- und Verfahrensgrundrecht, dessen Anwendungsbereich auf Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche oder die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage begrenzt ist. Beim Betretungs- und Annäherungsverbot (und auch der Wegweisung) handelt es sich – nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes – um eine administrativ-rechtliche Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Ordnung und nicht um eine strafrechtliche Anklage im Sinne des Art6 EMRK (VwGH 26.4.2016, Ra 2015/03/0079 mwH). Auch eine Betroffenheit in zivilrechtlichen Ansprüchen im Sinne des Art6 EMRK wird nicht schon per se durch ein solches Verbot hergestellt (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/01/0241).

Wenn nun das antragstellende Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 23. Februar 2017, 43.395/09, De Tommaso, davon ausgeht, dass die Rechtsfolgen eines Betretungs- und Annäherungsverbotes derart weitreichend sind, dass Art6 EMRK anzuwenden ist, übersieht es, dass die Sach- und Rechtslage hier mit jener dem Fall De Tommaso zu Grunde liegenden nicht vergleichbar ist: Das im Fall De Tommaso anzuwendende italienische Gesetz ermöglicht die Verhängung vorbeugender Maßnahmen gegen Personen, die eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Moral darstellen. Der Beschwerdeführer in dieser Rechtssache war nach Verbüßung einer Haftstrafe wegen mehrerer Verurteilungen wegen Tabakschmuggels, Drogenhandels und Umganges mit illegalen Waffen durch staatsanwaltliche Anordnung einer zweijährigen polizeilichen Überwachung unterstellt worden. Diese "vorbeugende Maßnahme" umfasste ua Meldeverpflichtungen, Ausgangsverbote sowie Ausgangsbeschränkungen, Handyverbote und zahlreiche weitere Einschränkungen, wie beispielsweise sogar das Verbot der Teilnahme an öffentlichen Versammlungen, die damit begründet wurden, dass der Beschwerdeführer den Großteil seines Lebensunterhaltes durch eine hohe kriminelle Aktivität erworben habe.

2.2.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schloss in diesem Fall zunächst die Anwendbarkeit des Art5 EMRK aus und erkannte in Folge, dass in Bezug auf Art2 des 4. ZPEMRK eine Verletzung stattgefunden habe, da der Eingriff in das Recht auf Freizügigkeit auf Grund der Unbestimmtheit der gesetzlichen Grundlage nicht auf gesetzlichen Normen beruhte. In Bezug auf Art6 EMRK sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, eine Anwendung des zivilrechtlichen Zweiges von Art6 EMRK sei auch auf Fälle möglich, die zunächst kein ziviles Recht zu betreffen scheinen, die aber direkte und bedeutsame Auswirkungen auf ein persönliches Recht eines Individuums haben können. Die nach dem italienischen Gesetz verhängten vorbeugenden Maßnahmen griffen nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte derart intensiv in die persönlichen Rechte des Betroffenen ein, dass der Anwendungsbereich des Art6 EMRK im vorliegenden Fall eröffnet war und auch eine Verletzung teilweise bejaht wurde. Eine Verletzung von Art13 EMRK konnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Folge allerdings nicht erkennen.

Dieser im Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich mehrfach bezogene Fall ist weder hinsichtlich der Sach- noch der Rechtslage mit Blick auf die Dauer und Intensität der vorbeugenden Maßnahmen mit den Rechtsfolgen, die in §38a SPG vorgesehen sind, vergleichbar.

2.2.4. Die mit der Novelle 2019, BGBl I 105, in §38a SPG normierten Weiterungen bei der Verhängung von Betretungs- und Annäherungsverboten haben – trotz der neu eingeführten Rechtsfolgen, nämlich der verpflichtenden Teilnahme an einer Beratung und eines vorläufigen Waffenverbotes – an der Beurteilung, dass das Verfahren gemäß §38a SPG nicht dem Art6 EMRK unterfällt, nichts geändert. Mit der im Gesetz vorgesehenen Administrativmaßnahme des §38a SPG, die allein präventiven Charakter (VwGH 10.5.2023, Ra 2023/01/0038) hat, soll sichergestellt werden, dass die einschreitenden Sicherheitsorgane eine Maßnahme zur Vermeidung von Gewalttaten ohne Verzögerung setzen können.

Zu dem vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vorgebrachten Argument von kurzfristigen Auswirkungen eines Betretungs- und Annäherungsverbotes auf die Verfügungsgewalt über Eigentum ist bloß darauf zu verweisen, dass dies Begleiterscheinungen sind, die (noch) nicht geeignet sind, die Anwendbarkeit des Art6 EMRK im Verfahren nach §38a SPG zu eröffnen. Aus §38a Abs10 SPG ergibt sich zudem, dass es sich um eine administrativrechtliche provisorische Maßnahme handelt.

2.2.5. Auf die angefochtene Regelung des §38a SPG ist daher weder Art6 EMRK noch Art47 Abs2 GRC anwendbar.

2.2.6. Darüber hinaus bringt das antragstellende Landesverwaltungsgericht eine Verletzung von Art130 Abs1 Z2 B‑VG vor, weil – so die Behauptung – seine Tatsachenkognitionsbefugnis beschränkt sei.

Vorauszuschicken ist, dass das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich in Bezug auf dieses Bedenken den Sitz der Verfassungswidrigkeit – ausgehend von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (etwa VwGH 10.5.2023, Ra 2023/01/0038; 4.12.2020, Ra 2019/01/0163) – ebenfalls in §38a SPG verortet, wobei es hier übersieht, dass diese Bestimmung keine Aussage über die Kognitionsbefugnis der Landesverwaltungsgerichte im Rahmen der nachprüfenden Kontrolle enthält. Schon aus diesem Grund geht das Bedenken ins Leere.

Wenn das antragstellende Gericht – unabhängig von dem vorgebrachten Sitz der Verfassungswidrigkeit in §38a SPG – davon ausgeht, es müsse von Verfassungs wegen zumindest dann, wenn ein behördlicher (Befehls- und Zwangs-)Akt bekämpft wird, dem eine Prognoseentscheidung des einschreitenden Organs zugrunde liegt, seine eigene Beurteilung an dessen Stelle setzen können, trifft dies nicht zu; es handelt sich um einen – wie auch in anderen Verfahren üblichen – dem Charakter der Prognoseentscheidung entsprechenden Prüfungsmaßstab, innerhalb dessen das Verwaltungsgericht die durch die einschreitenden Organe ausgesprochene Anordnung umfassend zu überprüfen hat.

Das Verfahren gemäß §38a SPG stellt jedenfalls sicher, dass die Kontrolle der vom Sicherheitsorgan verhängten Maßnahme dahingehend erfolgt, ob dessen Entscheidung dem Zweck des Gesetzes entsprechend (Gewaltprävention) und unter Einhaltung der im §38a SPG vorgegebenen Verfahren und deren Dokumentation – also rechtmäßig – erfolgt ist.

Jedoch ist dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich insoweit zuzustimmen, als ein Verwaltungsgericht im Verfahren betreffend die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes die Anordnung zu überprüfen und allenfalls zu ermitteln hat, ob die einschreitenden Organe auf Grund bestimmter Tatsachen auf Basis des dokumentierten Sachverhaltes das Vorliegen einer Gefahrensituation annehmen konnten, welche die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes geboten hat.

In diese Rechtmäßigkeitskontrolle ist nur miteinzubeziehen, welche Sachverhaltselemente den einschreitenden Organen mit der im Hinblick auf den Zeitfaktor zumutbaren Sorgfalt im konkreten Kontext bekannt sein mussten.

2.3. Zum vorgebrachten Verstoß gegen das Determinierungsgebot und Art18 B‑VG:

Das in Art18 Abs1 B‑VG

verankerte Rechtsstaatsprinzip gebietet, dass Gesetze einen Inhalt haben müssen, durch den das Verhalten der Behörde vorherbestimmt ist. Dass der Gesetzgeber bei der Beschreibung und Formulierung dieser Kriterien unbestimmte Gesetzesbegriffe verwendet, dadurch zwangsläufig Unschärfen in Kauf nimmt und von einer exakten Determinierung des Behördenhandelns Abstand nimmt, kann im Hinblick auf den Regelungsgegenstand erforderlich sein und steht grundsätzlich in Einklang mit Art18 Abs1 B‑VG (vgl die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zum "differenzierten Legalitätsprinzip" VfSlg 13.785/1994 mwN, 20.130/2016, 20.192/2017, 20.476/2021).

Die Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe allein belastet eine Regelung noch nicht mit Verfassungswidrigkeit (vgl zB VfSlg 3981/1961, 18.550/2008, 19.530/2011 und 20.070/2016). Entscheidend ist vielmehr, ob der Anordnungsgehalt einer Regelung unter Heranziehung aller Auslegungsmethoden geklärt werden kann (vgl zB VfSlg 8395/1978, 10.296/1984, 13.785/1994, 18.821/2009, 19.530/2011, 20.476/2021).

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich verweist auch in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall De Tommaso, in welchem eine genaue Determinierung für die Anordnung von Präventivmaßnahmen für erforderlich erachtet wurde.

Wie bereits oben dargelegt, unterscheidet sich der der Rechtssache De Tommaso zugrunde liegende Sachverhalt deutlich von den hier vorliegenden Sachverhalten und ist auch die der anzuordnenden Präventivmaßnahme zugrunde liegende Rechtslage eine völlig andere. §38a Abs1 SPG ermächtigt zur Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes, wenn "auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass [die als Gefährder bezeichnete Person] einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, begehen werde […]". Mit Blick auf die umfassende und gefestigte Rechtsprechung (etwa VwGH 31.5.2012, 2012/01/0018; 21.12.2000, 2000/01/0003; 24.2.2004, 2002/01/0280; ebenso EGMR 4.7.2019, 62.903/15, Kurt) sowie auf die Erläuterungen ist der Begriff der "bestimmten Tatsachen" jedenfalls einer Auslegung zugänglich und daher im Sinne des Art18 B‑VG hinreichend bestimmt. Auch mit Blick auf das Determinierungsgebot erkennt der Verfassungsgerichtshof keinen Verstoß gegen Art18 B‑VG.

2.4. Zum vorgebrachten Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit:

Die rechtmäßige Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes nach §38a SPG sowie insbesondere die Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung stelle – so der Vorwurf des antragstellenden Landesverwaltungsgerichtes – einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Freizügigkeit dar.

In diesem Zusammenhang genügt es, auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 7. Dezember 2023, G105/2023 ua zu verweisen: Die Gewaltpräventionsberatung stellt zunächst eine Beratungsleistung dar, die den Betroffenen Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung – sowohl des aktuellen Konfliktes als auch zukünftiger Konflikte – aufzeigen und den Betroffenen Halt in Krisensituation geben soll. Der durch §38a Abs1 und Abs8 SPG bewirkte Eingriff in die Bewegungsfreiheit verfolgt das legitime Ziel des in §22 Abs2 und 4 SPG genannten Schutzes vor gefährlichen Angriffen auf Leben, Gesundheit, Freiheit, Sittlichkeit, Vermögen oder Umwelt, ist verhältnismäßig und auch erforderlich, um etwa im Bereich der häuslichen Gewalt rasch eine Deeskalation zu bewirken und letztlich die Begehung von Straftaten zu verhindern.

2.5. Zum vorgebrachten Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot:

In diesem Zusammenhang bringt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich zunächst vor, dass §38a Abs1 SPG ohne erkennbare sachliche Rechtfertigung die Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichtes gegenüber dem Art130 Abs1 Z2 B‑VG zu entnehmenden Grundsatz einschränke, wonach Verwaltungsgerichten auch im Maßnahmenbeschwerdeverfahren volle Tatsachenkognitionsbefugnis zukomme. Darüber hinaus würden §38a Abs8 SPG und §13 Abs1 zweiter Satz WaffG in unsachlicher Weise an den Ausspruch eines Betretungs- und Annäherungsverbotes unmittelbare Rechtsfolgen knüpfen, die sofort bzw innerhalb von fünf Tagen für den Gefährder wirksam würden, von ihm jedoch nicht gesondert angefochten werden könnten.

Die behauptete Beschränkung der Kognitionsbefugnis liegt – wie bereits oben erläutert – nicht vor.

Zur sachlichen Rechtfertigung für die Normierung der gesetzlichen Rechtsfolgen der verpflichtenden Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung genügt es, auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 7. Dezember 2023, G105/2023 ua zu verweisen.

2.6. Zu dem Bedenken in Bezug auf Art13 EMRK bzw Art47 GRC sowie das Rechtsstaatsprinzip:

In diesem Zusammenhang bringt das antragstellenden Landesverwaltungsgericht vor, dass die fehlende gesonderte Anfechtbarkeit einzelner Rechtsfolgen des §38a SPG (die Gewaltpräventionsberatung gemäß §38a Abs8 SPG sowie das vorläufige Waffenverbot nach §13 Abs1 zweiter Satz WaffG), die ihrerseits einen Eingriff ua in Art8 EMRK bewirkte, den Anforderungen des Art13 EMRK widerspreche.

Der Umstand, dass nicht jede Rechtsfolge der Maßnahme gesondert anfechtbar ist bzw im Falle der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme nicht mehr lückenlos rückgängig gemacht werden kann, macht die Regelung als solche im gegebenen Zusammenhang nicht bereits verfassungswidrig (vgl ebenfalls VfGH 7.12.2023, G105/2023 ua).

2.7. In Bezug auf die Abnahme von Waffen (§13 Abs1 zweiter Satz WaffG) führt die Bundesregierung aus, dass diese Bestimmung im Rahmen der Umsetzung des zweiten Anti‑Terror-Maßnahmenpaketes eingeführt wurde. Vor dem Hintergrund zunehmender Gewaltbereitschaft sollen laut den Materialien im Falle einer Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes die gleichen Rechtsfolgen wie bei alleiniger Aussprache eines vorläufigen Waffenverbotes eintreten, sodass die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in diesen Fällen ermächtigt sind, sämtliche Waffen, Munition und waffenrechtliche Urkunden des Betroffenen sicherzustellen und die Waffenbehörde über das vorläufige Waffenverbot zu informieren.

Im gegebenen Kontext kann der Verfassungsgerichtshof – auch mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 4. Juli 2019, 62.903/15, Kurt – nicht finden, dass das mit einem Betretungs- und Annäherungsverbot verbundene Waffenverbot unverhältnismäßig oder überschießend wäre; daher kann er auch dieses Bedenken nicht teilen.

V. Ergebnis

1. Die ob der Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Bestimmungen des SPG, insbesondere des §38a SPG, und des §13 Abs1 WaffG erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Der Antrag ist daher abzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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