Normen
B-VG Art130 Abs1 Z2
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
EMRK Art5, Art6, Art8
SicherheitspolizeiG §22, §25, §26, §27, §27a, §28, §28a, §29, §30, §32, §33, §38a Abs2, §38a Abs8, §84, §88
EO §382f Abs4
VfGG §7 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2023:G105.2023
Spruch:
Die Anträge werden abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Anträge
A. Zu G105/2023, G108/2023
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG gestützten und zu G105/2023, G108/2023 protokollierten Antrag begehrt das Verwaltungsgericht Wien, der Verfassungsgerichtshof möge
"1) den Abs8 des §38a SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022,
2) die Wortfolge 'über die Verpflichtung gemäß Abs8 und die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung sowie' in §38a Abs2 Z4 SPG, obzitierte Fassung,
3) §84 Abs1b Z3 SPG, obzitierte Fassung,
4) den Abs4 des §25 SPG, obzitierte Fassung, und
5) die Wortfolge 'der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach §38a Abs8 SPG teilgenommen hat,' samt vorangestelltem Komma in §382f Abs4 der Exekutionsordnung, BGBl Nr 79/1896 idF BGBl I Nr 202/2021,
in eventu
die unter 1) bis 5) genannten Bestimmungen bzw Wortfolgen sowie §38a Abs7 zweiter und dritter Satz SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022,
in eventu
die unter 1) bis 5) genannten Bestimmungen bzw Wortfolgen sowie Abs6 und Abs7 zweiter und dritter Satz des §38a SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022,
in eventu
§38a zur Gänze, den Abs1b des §84 sowie die Worte 'oder 1b' in §84 Abs2, die Wortfolge
'oder eines Betretungs- und Annäherungsverbotes nach §38a' sowie das Wort 'derselben' in §35 Abs1 Z8 SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022, weiters die unter 5) genannte Wortfolge und die Wortfolge 'aus Anlass eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach §38a', in §382g der Exekutionsordnung, BGBl Nr 79/1896 idF BGBl I Nr 202/2021,"
als verfassungswidrig aufheben.
B. Zu G239-240/2023
Mit ähnlich lautendem, auf Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG gestützten und zu G239‑240/2023 protokollierten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, der Verfassungsgerichtshof möge
"1) den Abs8 des §38a SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022,
2) die Wortfolge 'über die Verpflichtung gemäß Abs8 und die Rechtsfolgen einer
Zuwiderhandlung sowie' in §38a Abs2 Z4 SPG, obzitierte Fassung,
3) §84 Abs1b Z3 SPG, obzitierte Fassung,
4) den Abs4 des §25 SPG, obzitierte Fassung, und
5) die Wortfolge 'der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach §38a Abs8 SPG teilgenommen hat,' samt vorangestelltem Komma in §382f Abs4 der Exekutionsordnung, BGBl Nr 79/1896 idF BGBl I Nr 202/2021,
in eventu
die unter 1) bis 5) genannten Bestimmungen bzw Wortfolgen sowie §38a Abs7 zweiter und dritter Satz SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022,
in eventu
die unter 1) bis 5) genannten Bestimmungen bzw Wortfolgen sowie Abs6 und Abs7 zweiter und dritter Satz des §38a SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022,
in eventu
§38a zur Gänze, den Abs1b des §84 sowie die Worte 'oder 1b' in §84 Abs2, die Wortfolge 'oder eines Betretungs- und Annäherungsverbotes nach §38a' sowie das Wort 'derselben' in §35 Abs1 Z8 SPG, BGBl Nr 566/1991 idF BGBl I Nr 147/2022, weiters die unter 5) genannte Wortfolge und die Wortfolge 'aus Anlass eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach §38a', in §382g der Exekutionsordnung, BGBl Nr 79/1896 idF BGBl I Nr 202/2021,"
als verfassungswidrig aufheben.
II. Rechtslage
1. Die relevanten Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz – SPG), BGBl 566/1991 idF BGBl I 147/2022 lauten auszugsweise wie folgt (die jeweils mit dem Hauptantrag angefochtenen Bestimmungen bzw Wortfolgen sind hervorgehoben):
"Vorbeugender Schutz von Rechtsgütern
§22.
(1) Den Sicherheitsbehörden obliegt der besondere Schutz
1. von Menschen, die tatsächlich hilflos sind und sich deshalb nicht selbst ausreichend vor gefährlichen Angriffen zu schützen vermögen;
2. der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit;
3. der Vertreter ausländischer Staaten, internationaler Organisationen und anderer Völkerrechtssubjekte, der diesen zur Verfügung stehenden amtlichen und privaten Räumlichkeiten sowie des ihnen beigegebenen Personals in dem Umfang, in dem dies jeweils durch völkerrechtliche Verpflichtung vorgesehen ist;
4. von Sachen, die ohne Willen eines Verfügungsberechtigten gewahrsamsfrei wurden und deshalb nicht ausreichend vor gefährlichen Angriffen geschützt sind;
5. von Menschen, die über einen gefährlichen Angriff oder eine kriminelle Verbindung Auskunft erteilen können und deshalb besonders gefährdet sind, sowie von allenfalls gefährdeten Angehörigen dieser Menschen;
6. von Einrichtungen, Anlagen, Systemen oder Teilen davon, die eine wesentliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Funktionsfähigkeit öffentlicher Informations- und Kommunikationstechnologie, die Verhütung oder Bekämpfung von Katastrophen, den öffentlichen Gesundheitsdienst, die öffentliche Versorgung mit Wasser, Energie sowie lebenswichtigen Gütern oder den öffentlichen Verkehr haben (kritische Infrastrukturen).
(1a) Die Entgegennahme, Aufbewahrung und Ausfolgung verlorener oder vergessener Sachen obliegt dem Bürgermeister als Fundbehörde. Der österreichischen Vertretungsbehörde obliegt die Entgegennahme der im Ausland verlorenen oder vergessenen Sachen und deren Übergabe an die Fundbehörde, in deren Wirkungsbereich der Eigentümer oder rechtmäßige Besitzer seinen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, zum Zweck der Ausfolgung.
(2) Die Sicherheitsbehörden haben gefährlichen Angriffen auf Leben, Gesundheit, Freiheit, Sittlichkeit, Vermögen oder Umwelt vorzubeugen, sofern solche Angriffe wahrscheinlich sind. Zu diesem Zweck können die Sicherheitsbehörden im Einzelfall erforderliche Maßnahmen mit Behörden und jenen Einrichtungen, die mit dem Vollzug öffentlicher Aufgaben, insbesondere zum Zweck des Schutzes vor und der Vorbeugung von Gewalt sowie der Betreuung von Menschen, betraut sind, erarbeiten und koordinieren, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass ein bestimmter Mensch eine mit beträchtlicher Strafe bedrohte Handlung (§17) gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Sittlichkeit eines Menschen begehen wird. (Sicherheitspolizeiliche Fallkonferenz).
(3) Nach einem gefährlichen Angriff haben die Sicherheitsbehörden, unbeschadet ihrer Aufgaben nach der Strafprozeßordnung 1975 (StPO), BGBl Nr 631/1975, die maßgebenden Umstände, einschließlich der Identität des dafür Verantwortlichen, zu klären, soweit dies zur Vorbeugung weiterer gefährlicher Angriffe erforderlich ist. Sobald ein bestimmter Mensch der strafbaren Handlung verdächtig ist, gelten ausschließlich die Bestimmungen der StPO; die §§53 Abs1, 53a Abs2 bis 4 und 6, 57, 58 und 58a bis d, sowie die Bestimmungen über den Erkennungsdienst bleiben jedoch unberührt.
(4) Hat die Sicherheitsbehörde Grund zur Annahme, es stehe ein gefährlicher Angriff gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Vermögen bevor, so hat sie die betroffenen Menschen hievon nach Möglichkeit in Kenntnis zu setzen. Soweit diese das bedrohte Rechtsgut deshalb nicht durch zumutbare Maßnahmen selbst schützen, weil sie hiezu nicht in der Lage sind, haben die Sicherheitsbehörden die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen. Verzichtet jedoch derjenige, dessen Rechtsgut gefährdet ist, auf den Schutz ausdrücklich, so kann er unterbleiben, sofern die Hinnahme der Gefährdung nicht gegen die guten Sitten verstößt.
[…]
Sicherheitspolizeiliche Beratung
§25. (1) Den Sicherheitsbehörden obliegt zur Vorbeugung gefährlicher Angriffe gegen Leben, Gesundheit und Vermögen von Menschen die Förderung der Bereitschaft und Fähigkeit des Einzelnen, sich über eine Bedrohung seiner Rechtsgüter Kenntnis zu verschaffen und Angriffen entsprechend vorzubeugen. Zu diesem Zweck können die Sicherheitsbehörden Plattformen auf regionaler Ebene unter Beiziehung von Menschen, die an der Erfüllung von Aufgaben im öffentlichen Interesse mitwirken, einrichten, in deren Rahmen erforderliche Maßnahmen erarbeitet und koordiniert werden (Sicherheitsforen).
(2) Darüber hinaus obliegt es den Sicherheitsbehörden, Vorhaben, die der Vorbeugung gefährlicher Angriffe auf Leben, Gesundheit oder Vermögen von Menschen dienen, zu fördern.
(3) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, bewährte geeignete Opferschutzeinrichtungen vertraglich damit zu beauftragen, Menschen, die von Gewalt einschließlich beharrlicher Verfolgung (§107a StGB) bedroht sind, zum Zwecke ihrer Beratung und immateriellen Unterstützung anzusprechen (Interventionsstellen). Sofern eine solche Opferschutzeinrichtung überwiegend der Beratung und Unterstützung von Frauen dient, ist der Vertrag gemeinsam mit dem Bundesminister für Gesundheit und Frauen abzuschließen, sofern eine solche Einrichtung überwiegend der Beratung und Unterstützung von Kindern dient, gemeinsam mit dem Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz.
(4) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, bewährte geeignete Einrichtungen für opferschutzorientierte Täterarbeit vertraglich damit zu beauftragen, Gefährder gemäß §38a Abs8 zu beraten (Beratungsstellen für Gewaltprävention). Die Beratung dient der Hinwirkung auf die Abstandnahme von Gewaltanwendung im Umgang mit Menschen und soll mindestens sechs Beratungsstunden umfassen (Gewaltpräventionsberatung).
Streitschlichtung
§26. Um gefährlichen Angriffen auf Leben, Gesundheit oder Vermögen von Menschen vorzubeugen, haben die Sicherheitsbehörden auf die Beilegung von Streitigkeiten hinzuwirken. Kann die Streitigkeit nicht beigelegt werden, so haben die Sicherheitsbehörden auf eine sonst mögliche Gefahrenminderung hinzuwirken.
3. Hauptstück
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung
§27. (1) Den Sicherheitsbehörden obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung an öffentlichen Orten. Hiebei haben sie auf das Interesse des Einzelnen, seine Grund- und Freiheitsrechte ungehindert auszuüben, besonders Bedacht zu nehmen.
(2) Öffentliche Orte sind solche, die von einem nicht von vornherein bestimmten Personenkreis betreten werden können.
4. Hauptstück
Besonderer Überwachungsdienst
§27a. Den Sicherheitsbehörden obliegt im Rahmen des Streifen- und Überwachungsdienstes (§5 Abs3) die besondere Überwachung gefährdeter Vorhaben, Menschen oder Sachen in dem Maße, in dem der Gefährdete oder der für das Vorhaben oder die Sache Verantwortliche nicht bereit oder in der Lage ist, durch zumutbare Vorkehrungen den erforderlichen Schutz zu gewährleisten und die dadurch entstehende Gefahr im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit nicht hingenommen werden kann.
3. Teil
Befugnisse der Sicherheitsbehörden und der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Rahmen der Sicherheitspolizei
1. Hauptstück
Allgemeines
Vorrang der Sicherheit von Menschen
§28. Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben haben die Sicherheitsbehörden und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes dem Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen vor dem Schutz anderer Güter Vorrang einzuräumen.
Sicherheitspolizeiliche Aufgabenerfüllung
§28a. (1) Wenn bestimmte Tatsachen die Annahme einer Gefahrensituation rechtfertigen, obliegt den Sicherheitsbehörden, soweit ihnen die Abwehr solcher Gefahren aufgetragen ist, die Gefahrenerforschung.
(2) Die Sicherheitsbehörden und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes dürfen zur Erfüllung der ihnen in diesem Bundesgesetz übertragenen Aufgaben alle rechtlich zulässigen Mittel einsetzen, die nicht in die Rechte eines Menschen eingreifen.
(3) In die Rechte eines Menschen dürfen sie bei der Erfüllung dieser Aufgaben nur dann eingreifen, wenn eine solche Befugnis in diesem Bundesgesetz vorgesehen ist und wenn entweder andere Mittel zur Erfüllung dieser Aufgaben nicht ausreichen oder wenn der Einsatz anderer Mittel außer Verhältnis zum sonst gebotenen Eingriff steht.
Verhältnismäßigkeit
§29. (1) Erweist sich ein Eingriff in Rechte von Menschen als erforderlich (§28a Abs3), so darf er dennoch nur geschehen, soweit er die Verhältnismäßigkeit zum Anlaß und zum angestrebten Erfolg wahrt.
(2) Insbesondere haben die Sicherheitsbehörden und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes
1. von mehreren zielführenden Befugnissen jene auszuwählen, die voraussichtlich die Betroffenen am wenigsten beeinträchtigt;
2. darauf Bedacht zu nehmen, ob sich die Maßnahme gegen einen Unbeteiligten oder gegen denjenigen richtet, von dem die Gefahr ausgeht oder dem sie zuzurechnen ist;
3. darauf Bedacht zu nehmen, daß der angestrebte Erfolg in einem vertretbaren Verhältnis zu den voraussichtlich bewirkten Schäden und Gefährdungen steht;
4. auch während der Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt auf die Schonung der Rechte und schutzwürdigen Interessen der Betroffenen Bedacht zu nehmen;
5. die Ausübung der Befehls- und Zwangsgewalt zu beenden, sobald der angestrebte Erfolg erreicht wurde oder sich zeigt, daß er auf diesem Wege nicht erreicht werden kann.
Rechte des Betroffenen bei der Ausübung von Befugnissen
§30. (1) Bei der Ausübung von Befugnissen im Rahmen der Sicherheitsverwaltung ist der Betroffene
1. auf sein Verlangen von Anlaß und Zweck des Einschreitens zu informieren;
2. auf sein Verlangen von den Dienstnummern der einschreitenden Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Kenntnis zu setzen;
3. berechtigt, eine Person seines Vertrauens beizuziehen;
4. berechtigt, für die Amtshandlung bedeutsame Tatsachen vorzubringen und deren Feststellung zu verlangen.
(2) Dies gilt nicht, solange dadurch die Erfüllung der Aufgabe gefährdet wäre. Die Rechte von Zeugen, Beteiligten und Parteien im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens bleiben unberührt.
2. Hauptstück
Befugnisse für die erste allgemeine Hilfeleistungspflicht und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit
1. Abschnitt
Allgemeine Befugnisse
Eingriffe in Rechtsgüter im Rahmen der ersten allgemeinen Hilfeleistungspflicht
§32. (1) Soweit es zur Hilfeleistung im Sinne von §19 erforderlich ist, sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ermächtigt, in Rechtsgüter einzugreifen, sofern der abzuwendende Schaden die Rechtsgutsverletzung offenkundig und erheblich übersteigt.
(2) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ferner ermächtigt, zur Hilfeleistung im Sinne von §19 in die Rechtsgüter desjenigen einzugreifen, der die Gefährdung zu verantworten hat. Lebensgefährdende Maßnahmen sind jedoch nur zur Rettung des Lebens von Menschen zulässig.
Beendigung gefährlicher Angriffe
§33. Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einem gefährlichen Angriff durch Ausübung von unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt ein Ende zu setzen.
Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt
§38a.
(1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einem Menschen, von dem auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass er einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, begehen werde (Gefährder), das Betreten einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, samt einem Bereich im Umkreis von hundert Metern zu untersagen (Betretungsverbot). Mit dem Betretungsverbot verbunden ist das Verbot der Annäherung an den Gefährdeten im Umkreis von hundert Metern (Annäherungsverbot).
(2) Bei Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes
1. dem Gefährder den Verbotsbereich nach Abs1 zur Kenntnis zu bringen;
2. dem Gefährder alle in seiner Gewahrsame befindlichen Schlüssel zur Wohnung gemäß Abs1 abzunehmen und ihn zu diesem Zweck erforderlichenfalls zu durchsuchen; §40 Abs3 und 4 gilt sinngemäß;
3. dem Gefährder Gelegenheit zu geben, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen und sich darüber zu informieren, welche Möglichkeiten er hat, unterzukommen;
4. den Gefährder über die Verpflichtung gemäß Abs8 und die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung sowie über die Möglichkeit eines Antrags gemäß Abs9 zu informieren;
5. vom Gefährder die Bekanntgabe einer Abgabestelle für Zwecke der Zustellung von Schriftstücken nach dieser Bestimmung oder der Exekutionsordnung (EO), RGBl Nr 79/1896, zu verlangen; unterlässt er dies, kann die Zustellung solcher Schriftstücke so lange durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch erfolgen, bis eine Bekanntgabe erfolgt; darauf ist der Gefährder hinzuweisen;
6. den Gefährder bei Aufenthalt in einem Verbotsbereich nach Abs1 wegzuweisen.
(3) Betrifft das Betretungsverbot eine vom Gefährder bewohnte Wohnung, ist besonders darauf Bedacht zu nehmen, dass dieser Eingriff in das Privatleben des Gefährders die Verhältnismäßigkeit (§29) wahrt. Sofern keine Ausnahme gemäß Abs9 vorliegt, darf der Gefährder den Verbotsbereich gemäß Abs1 nur in Gegenwart eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes aufsuchen.
(4) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind verpflichtet, den Gefährdeten über die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382c EO und geeignete Opferschutzeinrichtungen (§25 Abs3) zu informieren. Darüber hinaus sind sie verpflichtet,
1. sofern der Gefährdete minderjährig ist und es im Einzelfall erforderlich erscheint, jene Menschen, in deren Obhut er sich regelmäßig befindet, sowie
2. sofern ein Minderjähriger in der vom Betretungsverbot erfassten Wohnung wohnt, unverzüglich den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger
über die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots zu informieren.
(5) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, den Gefährder bei Verstoß gegen das Betretungs- und Annäherungsverbot wegzuweisen. Die Einhaltung eines Betretungsverbots ist zumindest einmal während der ersten drei Tage seiner Geltung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu kontrollieren.
(6) Bei der Dokumentation der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots ist auf die für das Einschreiten maßgeblichen Umstände sowie auf jene Bedacht zu nehmen, die für ein Verfahren nach §§382b und 382c EO oder für eine Abklärung der Gefährdung des Kindeswohls durch den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger von Bedeutung sein können.
(7) Die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots ist der Sicherheitsbehörde unverzüglich bekanntzugeben und von dieser binnen drei Tagen zu überprüfen. Stellt die Sicherheitsbehörde fest, dass das Betretungs- und Annäherungsverbot nicht hätte angeordnet werden dürfen, so hat sie unverzüglich den Gefährdeten über die beabsichtigte Aufhebung zu informieren und das Verbot gegenüber dem Gefährder aufzuheben. Die Information des Gefährdeten sowie die Aufhebung des Betretungs- und Annäherungsverbots haben nach Möglichkeit mündlich oder schriftlich durch persönliche Übergabe zu erfolgen.
(8) Der Gefährder hat binnen fünf Tagen ab Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbots eine Beratungsstelle für Gewaltprävention zur Vereinbarung einer Gewaltpräventionsberatung (§25 Abs4) zu kontaktieren und an der Beratung aktiv teilzunehmen, sofern das Betretungs- und Annäherungsverbot nicht gemäß Abs7 aufgehoben wird. Die Beratung hat längstens binnen 14 Tagen ab Kontaktaufnahme erstmals stattzufinden. Nimmt der Gefährder keinen Kontakt auf oder nicht (aktiv) an einer Gewaltpräventionsberatung teil, ist er zur Sicherheitsbehörde zum Zweck der Ermöglichung der Durchführung der Gewaltpräventionsberatung durch die Beratungsstelle für Gewaltprävention zu laden; §19 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 – AVG, BGBl Nr 51/1991, gilt.
(9) Die Sicherheitsbehörde ist ermächtigt, bei Vorliegen zwingender Notwendigkeit auf begründeten Antrag des Gefährders mit Bescheid örtliche oder zeitliche Ausnahmen von dem Betretungs- und Annäherungsverbot festzulegen, sofern schutzwürdige Interessen des Gefährdeten dem nicht entgegenstehen; zu diesem Zweck ist dem Gefährdeten Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Ausnahmen für die Wohnung, die vom Betretungsverbot betroffen ist, sind nicht zulässig. Die Entscheidung der Behörde ist dem Gefährdeten unverzüglich zur Kenntnis zu bringen.
(10) Das Betretungs- und Annäherungsverbot endet zwei Wochen nach seiner Anordnung oder, wenn die Sicherheitsbehörde binnen dieser Frist vom ordentlichen Gericht über die Einbringung eines Antrags auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382c EO informiert wird, mit dem Zeitpunkt der Zustellung der Entscheidung des ordentlichen Gerichts an den Antragsgegner, längstens jedoch vier Wochen nach seiner Anordnung. Im Falle einer Zurückziehung des Antrags endet das Betretungs- und Annäherungsverbot sobald die Sicherheitsbehörde von der Zurückziehung durch Mitteilung des ordentlichen Gerichts Kenntnis erlangt, frühestens jedoch zwei Wochen nach seiner Anordnung.
(11) Die nach Abs2 abgenommenen Schlüssel sind mit Aufhebung oder Beendigung des Betretungsverbots zur Abholung durch den Gefährder bereit zu halten und diesem auszufolgen. Werden die Schlüssel trotz nachweislicher Information des Gefährders über die Abholungsmöglichkeit nicht binnen einer Frist von zwei Wochen abgeholt, können die Schlüssel auch einem sonstigen Verfügungsberechtigten ausgefolgt werden. Sechs Wochen nach Aufhebung oder Beendigung des Betretungsverbots gelten diese als verfallen; §43 Abs2 gilt sinngemäß. Im Falle eines Antrags auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382c EO sind die nach Abs2 abgenommenen Schlüssel beim ordentlichen Gericht zu erlegen.
(12) Die Berechnung von Fristen nach dieser Bestimmung richtet sich nach §§32 und 33 Abs1 AVG.
[…]
Sonstige Verwaltungsübertretungen
§84.
[…]
(1b) Ein Gefährder (§38a), der
1. den vom Betretungsverbot gemäß §38a umfassten Bereich betritt,
2. sich sonst trotz Annäherungsverbots gemäß §38a einem Gefährdeten annähert,
3. einer Verpflichtung gemäß §38a Abs8 zur Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle für Gewaltprävention oder zur (aktiven) Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung nicht nachkommt,
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 2 500 Euro, im Wiederholungsfall mit Geldstrafe bis zu 5 000 Euro, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen, zu bestrafen.
(2) Von der Festnahme eines Menschen, der bei einer Verwaltungsübertretung gemäß Abs1 oder 1b auf frischer Tat betreten wurde und der trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht (§35 Z3 VStG), haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes abzusehen, wenn weiteres gleichartiges strafbares Handeln durch Anwendung eines oder beider gelinderer Mittel nach §81 Abs3 verhindert werden kann. In solchen Fällen ist §81 Abs4 bis 6 sinngemäß anzuwenden.
[…]
Beschwerden wegen Verletzung subjektiver Rechte
§88.
(1) Die Landesverwaltungsgerichte erkennen über Beschwerden von Menschen, die behaupten, durch die Ausübung unmittelbarer sicherheitsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in ihren Rechten verletzt worden zu sein (Art130 Abs1 Z2 B‑VG).
(2) Außerdem erkennen die Landesverwaltungsgerichte über Beschwerden von Menschen, die behaupten, auf andere Weise durch die Besorgung der Sicherheitsverwaltung in ihren Rechten verletzt worden zu sein, sofern dies nicht in Form eines Bescheides erfolgt ist.
(3) Beschwerden gemäß Abs1, die sich gegen einen auf dieses Bundesgesetz gestützten Entzug der persönlichen Freiheit richten, können während der Anhaltung bei der Sicherheitsbehörde eingebracht werden, die sie unverzüglich dem Landesverwaltungsgericht zuzuleiten hat.
(4) Die Frist zur Erhebung einer Beschwerde beträgt sechs Wochen. Sie beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Betroffene Kenntnis von der Rechtsverletzung erlangt hat, wenn er aber durch die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt behindert war, von seinem Beschwerderecht Gebrauch zu machen, mit dem Wegfall dieser Behinderung. Die Beschwerde ist beim Landesverwaltungsgericht einzubringen."
2. §382f der Exekutionsordnung, RGBl 79/1896, zuletzt geändert durch BGBl I 202/2021(im Folgenden: EO) lautet:
"Verfahrensbestimmungen
§382f. (1) Gefährdete Parteien können sich bei einem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung zum Schutz vor Gewalt (§§382b, 382c) oder zum Schutz vor Eingriffen in die Privatsphäre (§382d) sowie bei weiteren Schriftsätzen im Verfahren erster Instanz durch eine geeignete Opferschutzeinrichtung (§25 Abs3 SPG) vertreten lassen. Die Opferschutzeinrichtung kann sich auf die erteilte Vollmacht berufen.
(2) Von der Anhörung des Antragsgegners vor Erlassung der einstweiligen Verfügung zum Schutz vor Gewalt ist insbesondere abzusehen, wenn eine weitere Gefährdung durch den Antragsgegner unmittelbar droht. Dies kann sich vor allem aus einem Bericht der Sicherheitsbehörde ergeben, den das Gericht von Amts wegen beizuschaffen hat; die Sicherheitsbehörden sind verpflichtet, solche Berichte den Gerichten unverzüglich zu übersenden. Wird der Antrag bei aufrechtem Betretungs- und Annäherungsverbot gestellt (§38a Abs10 SPG), so ist dieser dem Antragsgegner unverzüglich zuzustellen.
(3) Der Auftrag zum Verlassen der Wohnung ist, wenn der Antragsteller nichts anderes beantragt, dem Antragsgegner durch das Vollstreckungsorgan beim Vollzug zuzustellen. Dieser Zeitpunkt ist dem Antragsteller mitzuteilen.
(4) Das Gericht kann in Verfahren nach den §§382b und 382c einem Antragsgegner, der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach §38a Abs8 SPG teilgenommen hat, auf Antrag der gefährdeten Partei oder von Amts wegen auftragen, binnen fünf Tagen ab Erlassung einer einstweiligen Verfügung eine Beratungsstelle für Gewaltprävention (Abs6) zur Vereinbarung einer Beratung zu kontaktieren und aktiv an einer Beratung zur Gewaltprävention teilzunehmen. Die Beratung hat längstens innerhalb von 14 Tagen ab Kontaktaufnahme erstmals stattzufinden.
(5) Die Kosten der Teilnahme an einer Beratung nach Abs4 trägt der Bund. Der Antragsgegner hat dem Gericht eine Bestätigung über die Teilnahme vorzulegen.
(6) Die Bundesministerin für Justiz wird ermächtigt, für die in Abs4 vorgesehene Beratung bewährte geeignete Einrichtungen für opferschutzorientierte Täterarbeit im Wege von Förderverträgen vertraglich zu beauftragen."
III. Antragsvorbringen und Vorverfahren
A. Zu G105/2023, G108/2023
1. Dem zu G105/2023, G108/2023 protokollierten Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Beim Verwaltungsgericht Wien ist eine Beschwerde gemäß Art130 Abs1 Z2 B‑VG anhängig, welche sich gegen die Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots gemäß §38a SPG gegen die Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgericht Wien durch die Organe der Landespolizeidirektion Wien richtet. Dieser Maßnahme lag ein heftiger Streit zweier Eheleute zugrunde, im Zuge dessen der Ehegatte – nach Aussage der Ehegattin – diese gewürgt habe und die Ehegattin – nach der Aussage des Ehegatten – einen Schuh nach diesem geworfen habe. Weitere – behauptete – Gewalttätigkeiten seien bis zur Verhängung der Maßnahme nicht belegt worden.
Der Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgericht Wien sei nicht nur das Betreten der gemeinsamen Wohnung, sondern – wie durch die Novelle BGBl I 105/2019 (Gewaltschutzgesetz 2019) vorgesehen – auch die Annäherung an die Wohnung bzw an den Ehegatten und die gemeinsame, unmündige Tochter in einem Umkreis von 100 Metern untersagt worden. Überdies sei ex lege die vorbeugende Maßnahme des §38a Abs8 SPG mitverhängt worden.
2. Das Verwaltungsgericht Wien legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar:
Der ursprüngliche Charakter des §38a SPG sei jener einer bloßen Sicherheitsmaßnahme gewesen, welche den vorläufigen Schutz einer an Leib, Leben oder Freiheit mutmaßlich gefährdeten Person vor einer anderen Person (dem "Gefährder") gewährleisten sollte. Daher sei in einer eskalierenden Situation hinzunehmen, dass die einschreitenden Beamten auf Grund ihres ersten Eindrucks allenfalls auch der unschuldigen Streitpartei die Verantwortung als "Gefährder" zuweisen und diese zur Entfernung veranlassen.
Nach der angefochtenen Bestimmung werde allerdings nunmehr die Sicherheitsmaßnahme mit einer vorbeugenden, einer Bestrafung gleichkommenden Maßnahme verknüpft, ohne dass dem ein faires Verfahren vorangegangen sei.
In dem dem Antrag zugrunde liegenden Sachverhalt sei daher einer der beiden gleichwertig am Streit beteiligten Eheleute in die Rolle eines Täters gedrängt worden und es seien unüberprüft Rechtsfolgen zur Anwendung gelangt, so dass letztlich die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme in Frage stehe.
Die Verpflichtung zur aktiven, nicht nur einmaligen Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung greife sowohl in das Recht auf persönliche Freiheit als auch in das Recht auf Achtung des Privatlebens in einer Weise ein, wie sie für eine bloße Sicherungsmaßnahme zugunsten anderer nicht erforderlich und unverhältnismäßig sei. Die Verknüpfung eines solchen Eingriffs mit einer – an sich unbedenklichen – Sicherungsmaßnahme, die allein auf einer vorläufigen Einschätzung unter Zeitdruck getroffen werde, genüge nach Ansicht des antragstellen Gerichtes nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen.
Hinzu komme, dass mit der Novellierung der Exekutionsordnung durch das Budgetbegleitgesetz 2022, BGBl I 202/2021, mit §382f Abs4 EO die Möglichkeit geschaffen worden sei, dass der für einstweilige Verfügungen im Anschluss an die Maßnahme nach §38a Abs1 SPG zuständige Richter die Teilnahme des Antragsgegners an einer Gewaltpräventionsberatung nach seinem Ermessen anordne. Da die Stellung eines Antrags unverzüglich möglich sei, bedürfe es somit nicht (mehr) der automatischen Verknüpfung einer lediglich von Exekutivbeamten getroffenen vorläufigen Sicherheitsmaßnahme mit weitergehenden vorbeugenden Maßnahmen. Im Gegensatz zur neuen Bestimmung des §382f EO widerspreche die angefochtene Gesetzesbestimmung dem Art6 EMRK und greife zudem in die durch Art5 und 8 EMRK gewährleisteten Rechte ein.
In Bezug auf Art13 EMRK führt das antragstellende Verwaltungsgericht aus, dass keine Notwendigkeit bestünde, die Verpflichtung des §38a Abs8 SPG als Teil einer Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt auszugestalten und damit dem Betroffenen jede Möglichkeit zu nehmen, die Rechtmäßigkeit der Auferlegung dieser Maßnahme vor ihrem Wirksamwerden überprüfen zu lassen. §38a Abs9 SPG sehe etwa die Möglichkeit einer Antragstellung auf Gewährung von zeitlichen oder örtlichen Ausnahmen mit Bescheid vor. Eine vergleichbare Bestimmung für das vorläufige Absehen – zB bis zu einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung – vor der automatisch mit dem Verbot verknüpften Verpflichtung des §38a Abs8 SPG existiere jedoch nicht.
3. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2022 wies der Verfassungsgerichtshof einen großteils gegen dieselben Bestimmungen betreffend die Gewaltpräventionsberatung gerichteten Antrag des Verwaltungsgerichtes Wien wegen Unzulässigkeit in Folge zu engen Anfechtungsumfangs zurück (VfGH 6.12.2022, G240/2022).
4. Mit dem nunmehr eingebrachten Antrag legt das Verwaltungsgericht Wien seine Bedenken im Wesentlichen gleichlautend erneut und ergänzt dar.
5. Die Bundesregierung hat im vorliegenden Verfahren eine Äußerung erstattet, mit der sie ihre Äußerung, welche bereits im Verfahren zu G240/2022 erstattet wurde, erneut vorgelegt und diese hinsichtlich der Rechtslage, der "Zulässigkeit in Betreff der Darlegung der Bedenken sowie der Ausführungen in der Sache" zum Inhalt ihrer Äußerung im nunmehrigen Verfahren erhebt. In dieser Äußerung tritt sie den im Antrag erhobenen Bedenken wörtlich wie folgt entgegen:
"III. In der Sache:
Die Bundesregierung verweist einleitend auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B‑VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen beschränkt ist und ausschließlich beurteilt, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (vgl zB VfSlg 19.160/2010, 19.281/2010, 19.532/2011, 19.653/2012). Die Bundesregierung beschränkt sich daher im Folgenden auf die Erörterung der im Antrag dargelegten Bedenken.
1. Zu den Bedenken im Hinblick auf Art5 und 8 EMRK:
1.1. Das antragstellende Gericht macht geltend, die Verpflichtung zur aktiven, nicht nur einmaligen Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung greife sowohl in das Recht auf persönliche Freiheit als auch in das Recht auf Achtung des Privatlebens in einer Weise ein, wie sie für eine Sicherheitsmaßnahme zugunsten anderer nicht erforderlich sowie unverhältnismäßig sei und also nicht gerechtfertigt werden könne.
1.2. Für die Bundesregierung ist nicht ersichtlich, worin die geltend gemachte Verletzung der Art5 und 8 EMRK erblickt wird. Das Verwaltungsgericht Wien behauptet zwar eine Verletzung dieser Rechte, führt seine Bedenken allerdings nicht inhaltlich aus.
Der Behauptung lässt sich insofern bereits entgegenhalten, nicht substantiiert zu sein.
Dessen ungeachtet liegt nach Auffassung der Bundesregierung keine Verletzung der Art5 und 8 EMRK vor:
1.3. Im Anwendungsbereich des Art5 EMRK ist 'persönliche Freiheit' als physische Bewegungsfreiheit zu verstehen. Geschützt ist also das Recht, jederzeit den eigenen Aufenthaltsort zu bestimmen und sich von einem konkreten Ort wegzubewegen. Nicht erfasst ist eine allgemeine Handlungsfreiheit (vgl etwa Czech in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht B‑VG und Grundrechte Art1 PersFrG Rz 4).
Vor diesem Hintergrund fehlt es bereits an einem Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit: Eine Freiheitsentziehung setzt ein gewisses Maß an Zwang voraus, wobei dies bedeutet, dass die Ortsveränderung durch physischen Zwang unterbunden werden kann. Am notwendigen Zwang mangelt es, wenn für den Fall der Ortsveränderung nur eine Verwaltungsstrafe droht oder die Anwendung physischen Zwangs erst nach Durchführung eines gesonderten Verfahrens in Frage kommt (vgl Czech aaO, Rz 14). Die an einer Gewaltpräventionsberatung teilnehmende Person wird jedoch – auch im Fall einer nach Androhung im durch Bescheidbeschwerde bekämpfbaren Ladungsbescheid erfolgenden zwangsweisen Vorführung vor die Sicherheitsbehörde – nicht durch physischen Zwang am Verlassen der Örtlichkeit der Beratung gehindert. Die Nicht(aktive)‑Teilnahme stellt
lediglich eine Verwaltungsübertretung dar.
1.4. Ebenso wenig konstituiert die Verpflichtung zur Teilnahme an einer Beratung zur Gewaltprävention einen ungerechtfertigten Eingriff in das gemäß Art8 EMRK geschützte Privatleben des Gefährders. Durch das Recht auf Achtung des Privatlebens soll jedem Individuum ein Raum gewährleistet werden, in dem es die "Entwicklung und Erfüllung" seiner Persönlichkeit anstreben kann. Von den drei isolierbaren Gruppen von Gewährleistungsgehalten des Art8 EMRK in Bezug auf die Achtung des Privatlebens ist vorliegend höchstens die freie Gestaltung der Lebensführung einschlägig. In diesem Zusammenhang ist die Garantie nur auf wesentliche Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Persönlichkeit gerichtet (vgl hiezu Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 §22 Rz. 6 ff). Wird nun in der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung ein staatlicher Eingriff in die so verstandene Garantie gesehen, dh wird darin eine von staatlicher Seite erfolgende Einschränkung der freien Gestaltung der Lebensführung des Gefährders im Sinne dessen wesentlicher Ausdrucksmöglichkeiten erkannt, so zeigt sich schon in dieser Charakterisierung des Eingriffs der Nachrang der individuellen Interessen des Gefährders gegenüber den öffentlichen Interessen eines effektiven Gewaltschutzes, dem die Verpflichtung (…) dient.
2. Zu den Bedenken im Hinblick auf Art6 und 13 EMRK:
2.1. Das antragstellende Gericht macht in diesem Zusammenhang zum einen geltend, der ursprüngliche Charakter des §38a SPG sei der einer bloßen Sicherheitsmaßnahme gewesen. Als solche sei ihre Verhängung durch Exekutivbeamte ohne förmliches Verfahren aufgrund eines ersten Eindrucks unbedenklich gewesen. Insofern sei hinzunehmen, dass die einschreitenden Beamten auch der "unschuldigen" Streitpartei die Verantwortung als Gefährder zuweisen und diese zur Entfernung veranlassen würden.
Anderes habe bei der Verpflichtung zur Gewaltpräventionsberatung zu gelten, weil diese eine vorbeugende Maßnahme darstelle. Denn damit werde die Person wie ein Täter behandelt, obwohl dem kein faires Verfahren vorausgegangen sei und diese 'lediglich aufgrund einer vorläufigen Einschätzung von Exekutivbeamten' als Gefährder gelte. Da die durch §38a Abs8 SPG normierte Verpflichtung als vorbeugende Maßnahme einer strafrechtlichen Sanktion gleichzuhalten sei, müsste sie gegebenenfalls von einem unabhängigen Gericht verhängt werden. Unter der Annahme, dass lediglich von einem Eingriff in "civil rights" auszugehen sei, ergäbe sich nach Dafürhalten des Gerichts dieselbe Konsequenz. Vor dem Hintergrund der mit dem Budgetbegleitgesetz 2022, BGBl I Nr 202/2021, erfolgten Novellierung der Exekutionsordnung, durch die mit §382f Abs4 die Möglichkeit geschaffen worden sei, dass der für Einstweilige Verfügungen im Anschluss an die Maßnahme nach §38a Abs1 SPG zuständige Richter die Teilnahme des Antragsgegners an einer Gewaltpräventionsberatung nach seinem Ermessen anordnen könne, bedürfe es nicht (mehr) der automatischen Verknüpfung einer lediglich von Exekutivbeamten getroffenen vorläufigen Sicherheitsmaßnahme mit weitergehenden vorbeugenden Maßnahmen.
Zum anderen ist das antragstellende Gericht der Ansicht, die Sicherheit einer mutmaßlich gefährdeten Person rechtfertige zwar einen sofortigen Eingriff wie die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes, nicht jedoch die Verhängung einer sanktionsähnlichen Verpflichtung. Eine bloß nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit sei daher nur im Hinblick auf Sicherheitsmaßnahmen vertretbar. Die Ex-lege-Ausgestaltung der Entstehung der den Gefährder treffenden Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung nehme diesem jede Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit deren Auferlegung als einer sanktionsähnlichen Maßnahme vor deren Wirksamwerden überprüfen zu lassen. Eine nachträglich erhobene Maßnahmenbeschwerde sei insofern nicht ausreichend wirksam im Sinne des Art13 EMRK.
2.2. Nach Ansicht der Bundesregierung gehen die vom antragstellenden Gericht geäußerten Bedenken schon deshalb ins Leere, weil die Annahme, dass es sich bei der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltprävention um eine vorbeugende Maßnahme handle, die einer strafrechtlichen Sanktion gleichkomme, verfehlt ist. So ist Anknüpfungspunkt des Betretungs- und Annäherungsverbots nach §38a SPG – und damit auch der Gewaltpräventionsberatung – eine 'gefahrenträchtige Situation' und nicht eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und (gegebenenfalls) schuldhafte Handlung, maW keine Anlasstat. Es wird daher nicht ein 'Vergehen' sanktioniert, sondern eine Sicherheitsvorkehrung zum Schutz vor (weiteren) gefährlichen Angriffen gegen Leben, Gesundheit oder Freiheit getroffen. Auch mangelt es der Verpflichtung am repressiven Charakter. Ziel der Gewaltpräventionsberatung ist es, auf die Abstandnahme von Gewaltanwendung im Umgang mit Menschen hinzuwirken und eine nachhaltige Veränderung im Verhalten der Klienten zu erreichen, die zu Gewaltstopp und Deeskalation führt. Dabei entfaltet die Gewaltpräventionsberatung ihre Wirkung nicht durch intendierte Abschreckung oder Tadel. Vielmehr soll sie zukünftiges gefährliches Verhalten durch Beratungsgespräche verhindern. Als solch ausschließlich präventiv wirkende Maßnahme dient sie der Aufgabe der Vorbeugung (weiterer) gefährlicher Angriffe. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Zielsetzung der Maßnahme kann daher nicht von einer 'Strafe' im Sinn von Art6 EMRK gesprochen werden (siehe hierzu auch die Erkenntnisse betreffend die Entziehung der Lenkerberechtigung VfSlg 16.855/2003, 17.025/2003).
Worin im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Beratung zur Gewaltprävention ein Eingriff in 'civil rights' gesehen werden könnte, wird vom antragstellenden Gericht nicht dargelegt und ist ohne Weiteres auch nicht zu erkennen, sodass diesbezügliche Ausführungen unterbleiben können.
Die Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung ist daher vom Schutzbereich des Art6 EMRK nicht erfasst.
2.3. Soweit das Verwaltungsgericht eine Verletzung des Art13 EMRK ins Treffen führt, geht es ersichtlich von einem Sanktionscharakter der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung aus. Da – wie oben dargelegt – der Schutzbereich des Art6 EMRK nicht berührt ist, scheidet jedoch auch eine Verletzung des Art13 EMRK aus. Wird die Akzessorietät von Art13 EMRK auch auf die behaupteten Verletzungen von Art5 und 8 EMRK bezogen (was aus dem Antrag jedoch nicht in eindeutiger Weise hervorgeht), ist darauf hinzuweisen, dass das diesbezügliche Vorbringen nicht hinreichend substantiiert ist, um einen Anlass zur Prüfung zu geben (vgl Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 §24 Rz 194).
3. Zusammenfassend wird daher festgehalten, dass die angefochtenen Bestimmungen nach Ansicht der Bundesregierung nicht verfassungswidrig sind."
6. Die Partei des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Wien hat als beteiligte Partei eine Äußerung erstattet, in der sie sich den Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien anschließt.
B. Zu G239-240/2023
1. Dem zu G239-240/2023 protokollierten Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Beim Landesverwaltungsgericht Tirol ist eine Beschwerde gemäß Art130 Abs1 Z2 B‑VG anhängig, welche sich ebenfalls gegen die Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots gemäß §38a SPG gegen den Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol durch die Organe der Bezirkshauptmannschaft Schwaz richtet. Zwischen dem Vater (Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol) und seinem Sohn sei es zu einem häuslichen Streit wegen eines Geschenkwunsches des Sohnes für seinen bevorstehenden Geburtstag gekommen, im Zuge dessen der an ADHS leidende Sohn "wahllos Sachen zu zerstören" begonnen habe. Der Vater sei mit seinen Zurufen nicht mehr zum Sohn durchgedrungen und habe diesem schließlich eine Ohrfeige gegeben, um – so der Vater – seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Das Landesverwaltungsgericht Tirol gehe auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von einer erstmaligen Eskalation aus, es habe sich um eine einmalige Ohrfeige gehandelt.
Als später der Sohn alleine zu Hause gewesen sei, habe er die Polizei verständigt und dabei angegeben, von seinem Vater geschlagen worden zu sein. Über den Vater wurde schließlich ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen, welches von der Bezirkshauptmannschaft Schwaz überprüft, jedoch nicht behoben worden sei. Ex lege sei gegen den Vater somit auch die verpflichtende Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung mitverhängt worden.
2. Das Landesverwaltungsgericht Tirol hegt nun Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der genannten Bestimmungen im Hinblick auf die Art5, 6, 8 und 13 EMRK. Damit decken sich die vorgebrachten Bedenken – teilweise sogar wortident – mit jenen, die in dem zu G105/2023, G108/2023 protokollierten Verfahren vorgebracht wurden.
3. Der Verfassungsgerichtshof führte zu diesem Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Tirol (im Hinblick auf §19 Abs3 Z4 VfGG) kein weiteres Verfahren durch (vgl VfSlg 20.244/2018).
IV. Erwägungen
1. Zum rechtlichen Hintergrund
1.1. Mit ihren Gerichtsanträgen begehren sowohl das Verwaltungsgericht Wien (G105/2023, G108/2023) als auch das Landesverwaltungsgericht Tirol (G 239‑240/2023) die Aufhebung von §38a Abs8 SPG, der Wortfolge "über die Verpflichtung gemäß Abs8 und die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung sowie" in §38a Abs2 Z4 SPG, §84 Abs1b Z3 SPG, §25 Abs4 SPG, jeweils BGBl 566/1991 idF BGBl I 147/2022 und die Wortfolge "der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach §38a Abs8 SPG teilgenommen hat," in §382f Abs4 EO.
1.2. Die Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1.2.1. Vorauszuschicken ist, dass vorrangiges Ziel des SPG nach dessen §28 und §28a der Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen ist, wobei §28a Abs3 SPG das Prinzip aufstellt, dass die gesetzlich vorgesehenen Eingriffe nur dann erfolgen mögen, wenn andere "gelindere" Mittel nicht geeignet sind, eine Gefahrensituation zu beenden. Zudem ist stets das in §29 SPG verankerte Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
1.2.2. Im 2. Abschnitt des SPG wird unter dem Titel "Besondere Befugnisse" in §38a das "Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt" grundlegend normiert:
Das Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt wurde im Rahmen der Beschlussfassung über das "Gewaltpräventionspaket" mit BGBl 759/1996 eingeführt. Gemäß §38a SPG sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ausdrücklich ermächtigt, Personen, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass ein weiterer Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere auch in einer Wohnung, in der ein Gefährdeter lebt, begangen werden könnte, das Betreten dieser Wohnung sowie die Annäherung an diese Wohnung zu untersagen. §38a SPG wurde in der Folge mehrmals novelliert, stets mit Blick darauf, den Schutz gefährdeter Personen zu erweitern.
§38a Abs8 SPG wurde mit BGBl I 105/2019 (Gewaltschutzgesetz 2019) erstmals eingeführt, trat jedoch erst mit 1. September 2021 nach Anpassungen durch BGBl I 144/2020 bzw BGBl I 124/2021 in Kraft.
1.2.3. Die Materialien zum Gewaltschutzgesetz 2019 (IA 970/A 26. GP , 26 f.) umschreiben, welchen Zweck der Gesetzgeber mit der Einführung des Abs8 in §38a SPG verfolgte:
"Durch die Regelung des Abs8 soll eine neue, besondere Maßnahme zur Vorbeugung künftiger Gewalttaten durch opferschutzorientierte Täterarbeit eingeführt werden. Um nach der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots das 'window of opportunity' zu nützen und eine rasche Beratung des Gefährders zur Deeskalation und Vorbeugung von Gewalt zu bewirken, soll eine verpflichtende Gewaltpräventionsberatung durch geeignete Gewaltpräventionszentren (§25 Abs4) eingeführt werden. Wird ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen, soll den Gefährder künftig die Verpflichtung treffen, sich binnen fünf Tagen mit einem solchen Gewaltpräventionszentrum in Verbindung zu setzen, um einen längstens binnen 14 Tagen nach Kontaktaufnahme stattfindenden Termin für eine Gewaltpräventionsberatung zu vereinbaren. [...] Nimmt der Gefährder jedoch nicht binnen fünf Tagen nach Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbots Kontakt mit dem Gewaltpräventionszentrum auf oder erscheint er nicht zum vereinbarten Termin bzw nimmt an der Beratung nicht aktiv teil, soll das Gewaltpräventionszentrum die Sicherheitsbehörde darüber zu informieren haben. Durch die Nichtkontaktaufnahme bzw Nichtteilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung verwirklicht der Betroffene eine Verwaltungsübertretung gemäß §84 Abs1b Z3 und ist mit Geldstrafe bis zu 2 500 Euro […] zu bestrafen."
1.2.4. §38a Abs1 SPG in der aktuell geltenden Fassung BGBl I 124/2021 regelt zunächst die Befugnis zur Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes. Dieses Betretungs- und Annäherungsverbot stellt einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iSv Art130 Abs1 Z2 B‑VG und §88 Abs1 SPG dar. Gegen die Verhängung dieses Verbotes steht daher das Rechtsmittel der Maßnahmenbeschwerde offen.
§38a Abs2 bis 5 SPG präzisiert die Rechte und Pflichten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes. §38a Abs6 SPG sei hervorgehoben, regelt dieser doch die Dokumentationspflicht der Sicherheitsorgane, die insbesondere für die Überprüfung der Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes (§38a Abs7 SPG) besonders bedeutend ist: Die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes durch Organe der öffentlichen Sicherheit ist gemäß §38a Abs7 SPG der Sicherheitsbehörde unverzüglich bekanntzugeben, welche dieses auch innerhalb von drei Tagen zu überprüfen und allenfalls aufzuheben hat.
1.2.5. Ungeachtet dieser "amtlichen" Abläufe verpflichtet §38a Abs8 SPG den "Gefährder", über den gemäß Abs1 ein Betretungs- und Annäherungsverbot verhängt wurde, binnen fünf Tagen mit einer Gewaltpräventionsberatungsstelle in Verbindung zu treten, um einen Termin für eine Gewaltpräventionsberatung (§25 Abs4 SPG) zu vereinbaren und an einer solchen Gewaltpräventionsberatung [Anm: im Ausmaß von mindestens 6 Stunden,] binnen 14 Tagen nach Kontaktaufnahme aktiv teilzunehmen, sofern das Betretungs- und Annäherungsverbot nicht von der Sicherheitsbehörde gemäß Abs7 leg cit aufgehoben wird.
Bei der bewusst in zeitlicher Nähe zum auslösenden Ereignis gewählten Gewaltpräventionsberatung ("window of opportunity") geht es allerdings nicht nur darum, einen Blick auf das Ereignis selbst und das die Rechtsfolge auslösende Verhalten zu werfen, sondern auch um allgemeine Beratung im Sinne einer Vermittlung von Hilfestellungen für den "Gefährder" (IA 970/A 26. GP , 24 und 26 f.).
Zur Sicherstellung der Durchsetzung der in §38a Abs8 SPG normierten Verpflichtung zur Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle oder zur aktiven Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung sieht die Bestimmung des §84 Abs1b Z3 SPG vor, dass der "Gefährder" mit einer "Geldstrafe bis zu 2 500 Euro […], im Falle ihrer Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen, zu bestrafen" ist.
1.3. Zusammenfassend stellt sich die durch diese Rechtslage bedingte zeitliche Abfolge wie folgt dar:
Das auf Grund der Lage vor Ort verhängte Betretungs- und Annäherungsverbot ist sofort wirksam, jedoch unverzüglich der zuständigen Sicherheitsbehörde bekanntzugeben. Diese hat die Verhängung des Verbotes innerhalb von drei Tagen zu überprüfen.
Kommt die Sicherheitsbehörde im Rahmen ihrer Überprüfung zu dem Ergebnis, dass ein Betretungs- und Annäherungsverbot zu Unrecht ausgesprochen wurde, hat sie dies unverzüglich dem Gefährdeten kundzutun und das Verbot gegenüber dem "Gefährder" zu beheben. Für den "Gefährder", über den das Verbot – unrechtmäßig – verhängt wurde, fällt mit dieser Entscheidung auch die Verpflichtung, sich gemäß §38a Abs8 SPG einer Gewaltpräventionsberatung zu unterziehen weg (§38a Abs8 erster Satz, zweiter Halbsatz). Damit ist dann auch die Anwendung des §38a SPG erschöpft.
Wird das Betretungs- und Annäherungsverbot jedoch nicht behoben, bleiben die Verpflichtungen gemäß §38a Abs8 SPG aufrecht und der Betroffene (= "Gefährder") hat binnen fünf Tagen, dies allerdings gerechnet ab Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbotes, sohin binnen der "real" verbleibenden weiteren zwei Tage, eine Beratungsstelle für Gewaltprävention zu kontaktieren. Längstens 14 Tage ab Kontaktaufnahme, also spätestens am 19. Tag nach Verhängung des Betretungs- und Annäherungsverbotes, hat er aktiv erstmals an einer Beratung teilzunehmen.
Nimmt der Betroffene binnen fünf Tagen keinen Kontakt mit der Gewaltpräventionsberatung auf, hat – so der Wortlaut des §38a Abs8 SPG – eine Ladung (gemäß §19 AVG) zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung zu erfolgen.
Allerdings wurde – wie §84 SPG verdeutlicht – zu diesem Zeitpunkt bereits allein durch die nicht fristgerecht erfolgte Kontaktaufnahme eine Verwaltungsübertretung begangen, für die ungeachtet einer allfälligen zeitlich späteren im Verfahren getroffenen Feststellung, dass die Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbotes rechtswidrig war, eine Strafe bis zu € 2.500,– hätte verhängt werden dürfen.
2. Zur Zulässigkeit der Anträge
2.1. Hinsichtlich der Präjudizialität der angefochtenen Bestimmungen genügt es auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 6. Dezember 2022, G240/2022, zu verweisen. Die angefochtenen Bestimmungen sind präjudiziell.
2.2. §38a Abs8 SPG wurde – wie oben dargestellt – mit BGBl I 105/2019 (Gewaltschutzgesetz 2019) erstmals eingeführt und trat mit 1. September 2021 nach Anpassungen durch BGBl I 144/2020 bzw BGBl I 124/2021 in Kraft. In dieser Fassung ist die Bestimmung nach wie vor in Geltung. Wenn das antragstellende Gericht auf die Fassung BGBl I 147/2022 abstellt und damit die Letztfassung des gesamten Sicherheitspolizeigesetzes zitiert, schadet dies nicht:
§62 Abs1 erster Satz VfGG normiert, dass der Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, begehren muss, dass entweder das Gesetz seinem ganzen Inhalt nach oder dass bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden. Diesem Formerfordernis wird insofern entsprochen, als sich die maßgebliche Fassung der zur Aufhebung begehrten Rechtsvorschriften aus der wörtlichen Wiedergabe der bekämpften Bestimmungen im Antrag mit hinreichender Deutlichkeit jedenfalls entnehmen lässt (vgl VfSlg 14.040/1995).
Vor dem Hintergrund der die Anfechtung tragenden Rechtsauffassung und der daraus erfließenden und geltend gemachten Bedenken ist der Antrag auch nicht zu eng. Jedenfalls würde eine Aufhebung der angefochtenen gesetzlichen Grundlagen einer verfassungskonformen Neuregelung den Weg eröffnen.
2.3. Der Anfechtungsumfang des Antrages des Verwaltungsgerichtes Wien und des Landesverwaltungsgerichtes Tirol sind ident.
Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweisen sich sowohl der Antrag des Verwaltungsgerichtes Wien als auch der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Tirol insgesamt als zulässig.
3. In der Sache
Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den im Antrag dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
A. Entscheidung über den Antrag zu G105/2023, G108/2023
3.1. Zunächst bringt das Verwaltungsgericht Wien zu G105/2023, G108/2023 die Bedenken vor, dass die angefochtenen Bestimmungen gegen Art5, 6 und 8 EMRK verstießen: Die Verknüpfung einer als solchen unbedenklichen Sicherungsmaßnahme (Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes bei Vorliegen der Voraussetzungen) mit der Verpflichtung zur aktiven, nicht nur einmaligen Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung "greift sowohl in das Recht auf persönliche Freiheit als auch in das Recht auf Achtung des Privatlebens in einer Weise ein, wie sie für eine bloße Sicherheitsmaßnahme zugunsten anderer nicht erforderlich sowie unverhältnismäßig ist und also nicht gerechtfertigt werden kann" und "genügt nach Ansicht des antragstellenden Gerichts nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen, und wäre eher mit polizeistaatlichen Methoden zu assoziieren."
3.2. Diese Auffassung trifft nicht zu:
3.2.1. Aus §38a SPG ergibt sich, dass ein Betretungs- und Annäherungsverbot (ebenso wie eine Wegweisung) an die Voraussetzung geknüpft ist, dass auf Grund bestimmter Tatsachen (Vorfälle) anzunehmen ist, ein gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit einer gefährdeten Person stehe bevor (vgl zB VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163).
Welche Tatsachen als solche im Sinne des §38a SPG in Frage kommen, sagt das Gesetz nicht (ausdrücklich). Diese Tatsachen müssen (idR auf Grund bekannter Vorfälle) die Annahme rechtfertigen, dass plausibel und nachvollziehbar bestimmte künftige "gefährliche" Verhaltensweisen zu erwarten sein könnten. Auf Grund des sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietenden Gesamtbildes muss mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein, dass ein gefährlicher Angriff im genannten Sinn durch den "Gefährder" bevorstehe. Bei dieser Prognose ist vom Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens auszugehen (vgl etwa VwGH 22.6.2018, Ra 2018/01/0285, Rn 7; 7.9.2020, Ro 2019/01/0005, Rn 13;). Der einschreitende Beamte hat somit rasch und situationsbezogen in einer bereits eskalierten Gesamtsituation mit zwei oder mehr Beteiligten zu handeln.
3.2.2. Diese Ersteinschätzung durch die einschreitenden Sicherheitsorgane unterliegt innerhalb von drei Tagen einer Überprüfung durch die Sicherheitsbehörde (§38a Abs7 SPG).
Das Verwaltungsgericht hat somit die Rechtmäßigkeit eines gemäß §38a SPG angeordneten Betretungs- und Annäherungsverbots im Sinne einer objektivierten ex ante Betrachtung aus dem Blickwinkel der einschreitenden Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Zeitpunkt ihres Einschreitens zu prüfen (vgl zur ex ante Betrachtung aus dem Blickwinkel der einschreitenden Exekutivbeamten VfGH 7.12. 2023, G590‑591/2023; vgl auch etwa VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0373).
3.2.3. Eine weitere grundlegende Prämisse des Verwaltungsgerichtes Wien ist, dass "nunmehr die Sicherheitsmaßnahme mit einer vorbeugenden, einer Bestrafung gleichkommenden Maßnahme verknüpft" werde, "ohne dass dem ein faires Verfahren vorangegangen sei". Diese Prämisse trifft jedoch nicht zu. Das antragstellende Gericht geht nämlich im Kern davon aus, dass die sich aus dem nach §38a SPG ausgesprochenen Betretungs- und Annäherungsverbot ergebende Rechtsfolge für den – in der den Einsatz von Sicherheitsorganen auslösenden Situation als "Gefährder" bezeichneten – Betroffenen von vornherein eine als Strafe zu qualifizierende Rechtsfolge darstelle. Dem ist aber gerade nicht so:
Das Konzept von §38a SPG geht sichtlich davon aus, dass – bezogen auf die auslösende Situation – beide bzw die jeweiligen Streitparteien jedenfalls vorerst schnell voneinander zu trennen sind. Die präventive, unterstützende und begleitende Maßnahme der Gewaltpräventionsberatung, die spezifisch für Gewalt im häuslichen Bereich etabliert wurde, soll den Betroffenen Möglichkeiten aufzeigen, zukünftig Gewalt insbesondere im privaten Bereich zu vermeiden (§25 Abs4 SPG; vgl zu den Zielsetzungen und den gewählten Methoden IA 970/A 26. GP , 26 f.).
Auch übersieht das antragstellende Gericht, dass der Gesetzgeber an sich auch dem "Gefährdeten" Möglichkeiten einer entsprechenden Beratung eröffnet (§25 Abs3 SPG) und zudem Einrichtungen zum Schutz der von solchen Krisensituationen möglicherweise betroffenen Kinder aktiv werden. Nach §38a Abs4 SPG besteht eine Verpflichtung der einschreitenden Organe, einem "Gefährdeten" geeignete Opferschutzeinrichtungen als Ansprechstellen bekanntzugeben, und für den Fall, dass Minderjährige involviert sind, sind verpflichtend jene Personen, in deren Obhut sich diese regelmäßig befinden, bzw allenfalls der örtliche Kinder- und Jugendhilfeträger zu informieren. Dennoch ist festzuhalten, dass nach der Intention des Gesetzgebers zu "opferschutzorientierter Täterarbeit" §38a Abs8 SPG eben gerade darauf abstellt, dass zunächst der nach der Einschätzung der einschreitenden Sicherheitsorgane und Überprüfung durch die Sicherheitsbehörde als "Gefährder" Erkannte abgesondert und damit unverzüglich zu einer Beratung verpflichtet wird, dem "Gefährdeten" hingegen die Möglichkeit einer Beratung auf freiwilliger Basis immer offensteht (Interventionsstellen).
3.2.4. Bei einer Gesamtbetrachtung des Gesamtablaufes dieser Präventionsmaßnahme wird deutlich, dass – ungeachtet der Verpflichtung, sich dieser Maßnahme zu unterziehen – diese dadurch nicht den Charakter einer Strafe, wovon das antragstellende Gericht ausgeht, erhält.
3.2.5. Die vorbeugende Maßnahme der verpflichtenden Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung stellt somit einen verhältnismäßigen Eingriff in die Rechte des Betroffenen dar und ist auch geeignet, mit der vom Gesetzgeber intendierten Situationsanalyse Wege und Möglichkeiten für das betreffende Verhalten aufzuzeigen, um künftige Gewaltsituationen möglichst hintanzuhalten.
3.2.6. Ein Eingriff in Art5 EMRK liegt daher im Ergebnis nicht vor (vgl idZ auch VfGH 24.6.2021, V2/2021; 22.9.2021, G36/2021, V60/2021 ua; 18.3.2022, V292/2021 oder 29.4.2022, V23/2022).
3.2.7. In Bezug auf Art6 EMRK sind die allfälligen Auswirkungen eines Betretungs- und Annäherungsverbotes mit all seinen Rechtsfolgen auf den Betroffenen, von seinem Eigentum kurzfristig (§38a Abs10 SPG) keinen Gebrauch machen zu können bzw in seinen (übrigen) familiären Kontakten kurzfristig eingeschränkt zu sein, lediglich mittelbare und von ihrem Umfang und ihrer Intensität her im vorliegenden Fall noch nicht geeignet, eine Anwendbarkeit des Art6 EMRK zu eröffnen (vgl VfGH 7.12.2023, G590‑591/2023).
3.2.8. In Bezug auf Art8 EMRK ist anzumerken, dass der Staat im Übrigen mit der Präventionsmaßnahme – der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes samt seinen Rechtsfolgen, insbesondere jener in §38a Abs8 SPG – auch seiner Schutzpflicht gegenüber Personen, deren physische Integrität beeinträchtigt wird, nachkommt (zur aus Art8 EMRK folgenden Schutzpflicht s. zB EGMR 14.10.2010, 55.164/08, A., Z57 ff.; 30.10.2010, 2660/03, Hajduová, Z49).
3.2.9. Wenn das Verwaltungsgericht Wien zudem auch der Auffassung ist, dass die Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung rückwirkend, im Falle einer (nachträglichen) Behebung des Betretungs- und Annäherungsverbotes, nicht mehr folgenlos rückgängig gemacht werden könne, ist dem bloß entgegenzuhalten, dass vereinzelte Fälle, in denen ein Gefährder die Beratung gemäß §38a Abs8 SPG absolvieren musste, obwohl rückwirkend das Betretungs- und Annäherungsverbot behoben wurde – sei es wegen Rechtswidrigkeit seiner Verhängung, sei es wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften, etwa fehlende Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden innerhalb der gesetzlichen Frist nach §38a Abs7 SPG – (noch) keinen Verstoß des Regelungssystems an sich gegen Grundrechte bedeuten. Solche vereinzelten Fälle betreffen den Vollzug, führen jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes (vgl idZ VfGH 28.6.2023, G299/2022 ua).
B. Entscheidung über den Antrag zu G239-240/2023
Da der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Tirol zu G239-240/2023 dem zu G105/2023, G108/2023 protokollierten gleicht, hat der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG davon abgesehen, ein weiteres Verfahren in dieser Rechtssache durchzuführen. Dies erfolgt im Hinblick darauf, dass die im Verfahren zu G239‑240/2023 aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Entscheidung über den Antrag G105/2023, G108/2023 des Verwaltungsgerichtes Wien bereits geklärt sind (vgl VfSlg 20.244/2018).
V. Ergebnis
1. Die ob der Verfassungsmäßigkeit des §38a Abs8 SPG, BGBl 566/1991, idF BGBl I 147/2022, der Wortfolge "über die Verpflichtung gemäß Abs8 und die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung sowie" in §38a Abs2 Z4 SPG, des §84 Abs1b Z3 SPG, des §25 Abs4 SPG und der Wortfolge "der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach §38a Abs8 SPG teilgenommen hat," in §382f Abs4 EO, BGBl 79/1896, idF RGBl I 202/2021, erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Die Anträge sind daher abzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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