OGH 6Ob194/16x

OGH6Ob194/16x24.10.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und gefährdeten Partei Ärztekammer für Wien, Weihburggasse 10–12, 1010 Wien, vertreten durch Höhne, In der Maur & Partner Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Beklagten und Gegner der gefährdeten Partei Prof. Dr. A***** R*****, vertreten durch Dr. Walter Müller ua, Rechtsanwälte in Linz, wegen Unterlassung, Widerruf und Urteilsveröffentlichung, über den Revisionsrekurs der klagenden und gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht vom 24. August 2016, GZ 6 R 151/16t‑11, womit der Beschluss des Landesgerichts Linz vom 25. Juli 2016, GZ 2 Cg 64/16h‑5, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0060OB00194.16X.1024.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die klagende und gefährdete Partei ist schuldig, der beklagten Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei die mit 1.253,88 EUR (darin enthalten 208,98 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu bezahlen.

 

Begründung:

Die klagende und gefährdete Partei (in der Folge: „Klägerin“) vertritt als Ärztekammer für Wien die gemeinsamen beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen aller in Wien tätigen ÄrztInnen und sorgt für die Wahrung des Ansehens, der Rechte und der Einhaltung der Pflichten der Ärzte. Im Zuge dieser Aufgaben hat die Kurie der niedergelassenen Ärzte der Ärztekammer für Wien eine Mustervereinbarung für die Vertretung von Ärzten in Kassenordinationen verfasst und für ihre Mitglieder zur Verfügung gestellt.

Punkt II.4. der Mustervereinbarung lautet: „Bei Durchführung der Tätigkeiten ist der Auftragnehmer berechtigt, sich ohne Rücksprache mit dem Auftraggeber auf eigene Kosten von dazu qualifizierten Kollegen vertreten zu lassen, oder auch Hilfskräfte hinzuzuziehen. Zwischen dem Auftraggeber und den Vertretungen entsteht kein Vertragsverhältnis. Der Auftragnehmer ist jedoch verpflichtet die Namen dieser Vertretungen dem Auftraggeber auf dessen Verlangen bekannt zu geben.

Der Beklagte und Gegner der gefährdeten Partei (in der Folge: „Beklagter“) ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Medizinrecht. Aufgabe dieser Gesellschaft ist es, „die vielfältigen Verflechtungen des Gesundheitsrechts, im Speziellen des Medizinrechts, leicht verständlich und praxisbezogen zu bearbeiten“. Der Beklagte setzte sich in seiner Funktion als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Medizinrecht mit dieser Mustervereinbarung in einem Artikel, der am 21. 4. 2016 in der „Ärztewoche“ Nr 16 erschienen ist und auch online veröffentlicht wurde, auseinander.

Der Artikel wurde vom Beklagten mit der Überschrift „Mustervereinbarung der Kurie der niedergelassenen Ärzte ermöglicht Leihfirmen für Vertretungsärzte“ versehen. Die Redaktion der „Ärztewoche“ änderte diesen auf „Standeswidrig und realitätsfern“.

Der Beklagte schreibt ua, dass in der Mustervereinbarung „vorgesehen ist, dass der Vertreter … 'ohne Rücksprache... und auf eigene Kosten' sich von einer anderen Person vertreten lassen oder auch Hilfskräfte hinzuziehen kann.' Eine solche Regelung ist wirklichkeitsfremd und standeswidtig [sic]. Kein verantwortungsvoller Arzt überlässt seine Patienten und seine Ordinationsräume ihm nicht bekannten Personen. Dies wäre auffallende Sorglosigkeit und damit grobe Fahrlässigkeit.

Punkt II.5. der Mustervereinbarung lautet: „Die Art und Weise der Ordinationsführung für den Zeitraum der Vertretung obliegt alleine dem Auftragnehmer bzw. den von ihm zugezogenen Vertretern. Er verpflichtet sich jedoch, die medizinische Dokumentation sowie die gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungen eines niedergelassenen Arztes zu beachten.

Der Gesamtvertrag enthält unter dem Punkt „§ 19 Vertretung“ folgende (auszugsweise) Bestimmungen:

§ 19 (1) „Der Vertragsarzt hat im Falle einer persönlichen Verhinderung (ausgenommen die Fälle von §§ 20 bis 22) für eine Vertretung unter Haftung für die Einhaltung der vertraglichen und gesetzlichen Bestimmungen Sorge zu tragen. Mit Zustimmung der Kasse kann von der Bestellung eines Vertreters Abstand genommen werden. Zum Vertreter eines Vertragsfacharztes kann nur ein Facharzt desselben Fachgebietes bestellt werden.

§ 19 (2) „Vertretungen (auch regelmäßig, tageweise) in der Dauer von sechs Wochen bis sechs Monaten sind der Kammer unter Angabe des Namens des vertretenden Arztes sowie der voraussichtlichen Dauer der Vertretung bekannt zu geben.

Die Klägerin beanstandet diesen Artikel des Beklagten in der „Ärztewoche“ Nr 16, worin der Beklagte die vorgenannte Mustervereinbarung als standeswidrig und realitätsfern bezeichne. Diese Auseinandersetzung sei nicht nur grob unsachlich, sondern mit einer Wortwahl und mit Behauptungen, die geeignet seien, Ansehen und Ruf der Klägerin sowohl bei ihren Mitgliedern als auch bei anderen im Sinne des § 1330 Abs 2 ABGB zu gefährden. Zur Sicherung ihres Urteilsbegehrens nach Unterlassung, Widerruf und Urteilsveröffentlichung beantragt die Klägerin die Erlassung einer einstweiligen Verfügung, wonach dem Beklagten verboten werden sollen:

1.) Behauptungen, dass die Kurie eine Mustervereinbarung für niedergelassene Ärzte mit einem Vertretungsarzt in Kassenordinationen vorgelegt hätte, in der normiert werde, dass der Vertreter eines niedergelassenen Arztes ohne Rücksprache … und auf eigene Kosten sich von einer anderen Person vertreten lassen oder auch Hilfskräfte hinzuziehen könne, und

2.) die entsprechende Passage in der genannten Mustervereinbarung als wirklichkeitsfremd und standeswidrig zu bezeichnen.

Eine Gefahrenbescheinigung hält die klagende Partei für nicht notwendig, weil nach Art und Intensität des Angriffs nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf einen unwiederbringlichen Schaden geschlossen werden könne.

Der Beklagte beantragt die Abweisung des Provisorialantrags, weil ein Werturteil im Zuge einer wissenschaftlichen Diskussion nicht durch § 1330 ABGB unterbunden werden könne, zumal das Grundrecht auf Freiheit der Wissenschaft höherwertig sei. Durch eine derartige Äußerung im Zuge einer wissenschaftlichen Diskussion könne auch der wirtschaftliche Ruf einer Körperschaft öffentlichen Rechts nicht gefährdet werden.

Das Erstgericht erließ die beantragte einstweilige Verfügung in dem Umfang, dass es dem Beklagten einstweilen die Behauptung verbot, dass die Kurie der niedergelassenen Ärzte der Ärztekammer für Wien eine Mustervereinbarung für niedergelassene Ärzte mit einem Vertretungsarzt in Kassenordinationen vorgelegt hätte, in der normiert werde, dass der Vertreter eines niedergelassenen Arztes ohne Rücksprache … und auf eigene Kosten sich durch eine andere Person vertreten lassen oder Hilfskräfte hinzuziehen könne, und die entsprechende Passage in der Mustervereinbarung als standeswidrig zu bezeichnen. Das darüber hinausgehende Sicherungsmehrbegehren – dieses betreffe die Bezeichnung als wirklichkeitsfremd – wies das Erstgericht ab. Es führte in rechtlicher Hinsicht aus, § 1330 Abs 2 ABGB umfasse nur die Verbreitung unwahrer Tatsachen, nicht aber Werturteile. Für eine Standeswidrigkeit der Mustervereinbarung gebe es keine Anhaltspunkte. Der Beklagte habe in seinem Artikel auch nicht dargestellt, wie er zu dieser Erkenntnis gelangt sei. Der Beklagte unterstelle mit seiner falschen Zitierweise der Mustervereinbarung einen unvollständigen Inhalt, in dem er von „Personen“ anstatt von „qualifizierten Kollegen“ spreche. Diese Veränderung lasse die Mustervereinbarung in einem anderen Licht erscheinen. Die Behauptung, dass die Ärztekammer für Wien ihren Mitgliedern eine standeswidrige Mustervereinbarung zur Verfügung stelle, sei geeignet, die wirtschaftlich bedeutsamen Beziehungen sowohl zu den Ärzten als auch zu den Sozialversicherungsträgern zu gefährden. Hingegen sei die Behauptung, die Mustervereinbarung sei unpraktisch oder wirklichkeitsfremd, ein Werturteil und somit Teil der freien Meinungsäußerung.

Das von beiden Parteien angerufene Rekursgericht änderte die erstgerichtliche Entscheidung dahingehend ab, dass es das gesamte Sicherungsbegehren abwies. Es führte aus, die Ärztekammern der Bundesländer einschließlich Wien seien verfassungsrechtlich und gesetzlich vorgesehene Selbstverwaltungskörper und Körperschaften öffentlichen Rechts. Sie hätten ihre gesetzlich festgelegten Aufgaben zu erfüllen und seien Teil der öffentlichen Verwaltung. Ihr gesetzlicher Wirkungskreis umfasse nicht das Auftreten im Wirtschaftsleben in der Weise, wie bei natürlichen oder juristischen Personen als Wirtschafts- oder Gewerbetreibende. Ihren statutarischen Wirkungsbereich und die von ihr außer den Pflichtmitgliedsbeiträgen erzielten Einnahmen habe die Klägerin nicht offengelegt.Woraus der Klägerin ein wirtschaftlicher Schaden entstehen könnte, wenn ein Autor in einer Fachzeitschrift Kritik an einem von ihr herausgegebenen Mustervertrag äußere, sei nicht erkennbar. Da die Gefährdung nicht evident sei, hätte es einer konkreten Gefährdungsbehauptung und Gefahrenbescheinigung bedurft. Bei bloßer Schädigung des wirtschaftlichen Rufs im Sinne des § 1330 Abs 2 ABGB sei die nach § 381 Z 2 EO ausdrücklich erforderliche Gefahrenbescheinigung nur dann entbehrlich, wenn nach der Art und Intensität des Eingriffs im konkreten Einzelfall nach der Lebenserfahrung prima facie auf eine Gefährdung des in Geld nicht zur Gänze wiedergutzumachenden wirtschaftlichen Rufs geschlossen werden könne. Der Provisorialantrag sei aber auch deshalb unberechtigt, weil die Freiheit der Wissenschaft und der Meinungsäußerung in der Demokratie Grundrechte und höherwertig als das Interesse einer Körperschaft öffentlichen Rechts daran seien, nicht kritisiert zu werden. Es sei nicht verboten, einen von der klagenden Partei aufgelegten Mustervertrag in einer Fachzeitschrift zu kritisieren. § 1330 ABGB schütze primär Privatrechtssubjekte. Körperschaften öffentlichen Rechts hätten in ihrem Wirkungsbereich mehr an Diskussion und Kritik als Privatrechtssubjekte „auszuhalten“. Dass gerade das öffentliche Gesundheitswesen häufig im Brennpunkt öffentlich geäußerter Kritik stehe, sei allgemein bekannt. Dass es dem Standesansehen der Ärzte unter Umständen nicht zuträglich sei, wenn in den Ordinationsräumen eines Arztes ein anderer Arzt als Sub-Vertreter tätig sei, von dem der Inhaber der Ordination nichts wisse und den er nicht kenne, sei keine unvertretbare Ansicht. Dass der Beklagte ungenau und verkürzt zitiert habe: „von einer anderen Person vertreten lassen“ anstatt richtig: „von dazu qualifizierten Kollegen vertreten lassen“begründe keine Haftung, weil aus dem Sinnzusammenhang des Artikels hinreichend deutlich hervorgehe, dass der Mustervertrag keineswegs vorsehe, dass den Ärzten vorbehaltene Tätigkeiten auch durch Nichtärzte ausgeführt werden dürften.

Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil keine oberstgerichtliche Judikatur zur Frage vorliege, inwieweit ein Selbstverwaltungskörper als Körperschaft öffentlichen Rechts durch § 1330 Abs 2 ABGB geschützt sei und ob die Ärztekammern ihren wirtschaftlichen Ruf ohne Gefahrenbehauptung und Gefahrenbescheinigung durch einstweilige Verfügung schützen lassen können.

Die Klägerin strebt mit ihrem Revisionsrekurs an, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer gänzlichen Stattgebung des Sicherungsbegehrens abzuändern.

Der Beklagte beantragt in der Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht oberstgerichtliche Judikatur nicht berücksichtigt hat und von oberstgerichtlicher Rechtsprechung abgewichen ist; er ist aber nicht berechtigt.

Die Revisionsrekurswerberin macht geltend, nach oberstgerichtlicher Rechtsprechung habe eine Körperschaft öffentlichen Rechts Anspruch auf den Schutz ihres wirtschaftlichen Rufs. Zwar gebe es keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, ob die Ärztekammern ihren wirtschaftlichen Ruf ohne Gefahrenbehauptung und ohne Gefahrenbescheinigung durch einstweilige Verfügung schützen lassen könnten. Die angefochtene Entscheidung stehe jedoch insofern im Widerspruch zu höchstgerichtlicher Rechtsprechung, wonach jedenfalls ein wegen einer Ehrverletzung oder wegen einer kreditschädigenden Äußerung zustehender Unterlassungsanspruch durch einstweilige Verfügung gesichert werden könne, ohne dass es einer gesonderten Gefahrenbescheinigung bedürfe. Die inkriminierten Äußerungen des Beklagten könnten nicht mit der Freiheit der Wissenschaft und der Meinungsäußerung gerechtfertigt werden. Inwiefern die gegenständliche Klausel der Mustervereinbarung standeswidrig sein könnte, sei nicht ersichtlich. Der „Zitierfehler“ des Beklagten („einer anderen Person“ statt „dazu qualifizierten Kollegen“) sei sinnverzerrend.

Hierzu wurde erwogen:

1. Zur Schutzfähigkeit von Selbstverwaltungs-körpern wie der Ärztekammer:

In der Entscheidung 6 Ob 223/01i wurde einem auf § 1330 ABGB gestützten Unterlassungsbegehren der Österreichischen Ärztekammer stattgegeben. Die Vorinstanzen hatten dort unzutreffende Tatsachen-behauptungen des Beklagten unter § 1330 Abs 2 ABGB subsumiert: Der Umstand, dass es sich bei der Erstklägerin um eine juristische Person öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft handle, ändere schon deshalb nichts an einer möglichen Beeinträchtigung ihres wirtschaftlichen Rufs, weil der Ruf nicht nur gegenüber den Pflichtmitgliedern, sondern ganz offensichtlich auch gegenüber Angestellten und Geschäftspartnern beeinträchtigt werden könne.

In der Entscheidung 6 Ob 23/05h wurde einer auf § 1330 Abs 2 ABGB gestützten Klage der Österreichischen Hochschülerschaft stattgegeben, die ebenfalls eine per Gesetz eingerichtete Interessenvertretung mit Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträgen ist.

Im Gegensatz zur Zulässigkeitsbegründung des Rekursgerichts gibt es somit höchstgerichtliche Rechtsprechung, wonach (auch) ein Selbstverwaltungskörper als Körperschaft öffentlichen Rechts durch § 1330 Abs 2 ABGB geschützt ist.

2. Zur Gefahrenbehauptung und Gefahrenbescheinigung:

Ein wegen einer Ehrverletzung oder wegen einer kreditschädigenden Äußerung zustehender Unterlassungs-anspruch kann durch einstweilige Verfügung gesichert werden, ohne dass es einer gesonderten Gefahrenbescheinigung bedarf (RIS‑Justiz RS0011399). Eine unwiederbringliche Schädigung wird bei Persönlichkeitsverletzungen regelmäßig als evident angesehen und bedarf deshalb keines besonderen Prozessvorbringens und Beweisanbots (RIS‑Justiz RS0011399 [T3]).

Bei bloßer Schädigung des wirtschaftlichen Rufs im Sinne des § 1330 Abs 2 ABGB ist allerdings – neben der Behauptung im Antrag – die nach § 381 Z 2 EO ausdrücklich erforderliche Gefahrenbescheinigung nur dann entbehrlich, wenn nach der Art und Intensität des Eingriffs im konkreten Einzelfall nach der Lebenserfahrung, prima facie, auf eine Gefährdung des überdies in Geld nicht zur Gänze wiedergutzumachenden wirtschaftlichen Rufs geschlossen werden kann (RIS‑Justiz RS0102054).

Im Sinne der Entscheidung 6 Ob 96/01p kommt es darauf an, ob (auch) der in Geld nicht zur Gänze wiedergutzumachende (wirtschaftliche) Ruf gefährdet ist: In diesem Fall kann dann auf eine gesonderte Gefahrenbehauptung und -bescheinigung verzichtet werden. Ob ein solcher Fall vorliegt, hängt von den jeweiligen besonderen Umständen ab.

Im vorliegenden Fall hat nach der schon zitierten Entscheidung 6 Ob 223/01i die klagende Ärztekammer einen wirtschaftlichen Ruf. Es geht also nicht bloß um finanzielle Interessen der Klägerin, sondern auch allgemein um ihr Ansehen als Standesvertretung. Nach der zitierten Judikatur bedarf es daher – im Gegensatz zur Meinung des Rekursgerichts – keiner gesonderten Gefahrenbehauptung und -bescheinigung.

3. Tatsachenbehauptungen oder Werturteile:

3.1. Tatsachen im Sinne des § 1330 Abs 2 ABGB sind Umstände, die ihrer allgemeinen Natur nach objektiv überprüfbar sind. Für die Einordnung einer Äußerung als Tatsachenbehauptung ist wesentlich, ob sich ihr Bedeutungsinhalt auf einen Tatsachenkern zurückführen lässt, der einem Beweis zugänglich ist, sodass sie nicht nur subjektiv angenommen oder abgelehnt, sondern als richtig oder falsch beurteilt werden kann. Sinn und Bedeutungsgehalt einer beanstandeten Äußerung wie auch die Frage, ob Tatsachen verbreitet werden oder eine wertende Meinungsäußerung vorliegt, richten sich nach dem Gesamtzusammenhang und dem dadurch vermittelten Gesamteindruck der Äußerung für den unbefangenen Durchschnittsadressaten. Die Äußerung ist so auszulegen, wie sie vom angesprochenen Verkehrskreis bei ungezwungener Auslegung verstanden wird. Die Ermittlung des Bedeutungsinhalts einer Äußerung und die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptung und Meinungsäußerung sind Rechtsfragen (6 Ob 238/15s mwN; RIS‑Justiz RS0031883).

3.2. „wirklichkeitsfremd“

Die Aussage des Beklagten, die Mustervereinbarung sei „wirklichkeitsfremd“ ist nach diesen Kriterien ein Werturteil, weil sie keinem objektiven Beweisverfahren zugänglich ist.

3.3. „standeswidrig“

Bei dieser Äußerung handelt es sich um eine Rechtsfolgenbehauptung.

Im Fall 4 Ob 55/00t („Standesvergehen“) gründete sich dieser Vorwurf auf die Behauptung, der klagende Rechtsanwalt habe unrichtige, überhöhte Honorarnoten gelegt. Der Oberste Gerichtshof qualifizierte die Behauptung „Standesvergehen“ als Tatsachenbehauptung. In diesem Fall war die Subsumtion „überhöhte Honorarnoten“ unter den Begriff „Standeswidrigkeit“ relativ einfach möglich.

Je weniger allerdings die zu beurteilende Rechtsfolgenbehauptung nicht einfach aus dem Gesetz abzulesen ist, sondern auf einem Vorgang der persönlichen Erkenntnisgewinnung beruht, je eingehender die Grundlagen dieses Erkenntnisprozesses dargestellt werden, und je deutlicher zum Ausdruck kommt, dass eine subjektive Überzeugung im geistigen Meinungsstreit vertreten wird, umso eher wird ein reines Werturteil vorliegen (4 Ob 138/99v; RIS‑Justiz RS0112211; RS0031675 [T15] zuletzt etwa 6 Ob 47/15b).

Gemäß § 136 ÄrzteG unterliegen nur Ärzte dem Disziplinarrecht. Die klagende Ärztekammer kann daher kein Disziplinarvergehen begehen. Die Äußerung des Beklagten, die gegenständliche Klausel der Mustervereinbarung sei „standeswidrig“, ist daher in dem Sinne zu verstehen, dass die Klägerin den Ärzten mit der Mustervereinbarung ein standeswidriges Verhalten nahelegt.

Im vorliegenden Fall liegt ein persönlicher Wertungsakt des Beklagten vor, zumal – im Unterschied zum Fall 4 Ob 55/00t – hier die Frage, ob ein solches Verhalten von Ärzten bei Vertretungen standeswidrig ist oder nicht, nicht einfach und zweifelsfrei aus dem Gesetz abgeleitet werden kann. Der Beklagte drückt mit seiner Aussage vielmehr (nur) seine Meinung aus, es sei standeswidrig, wenn ein Arzt seine Ordination an einen ihm unbekannten Arzt überlässt (vgl ähnlich auch SZ 43/140: Auslegung eines Entwurfs zum österreichischen Zahnärztekammergesetz dahingehend, dass von seiner Verwirklichung eine Trennung der Zahnärzte aus dem Verband der Gesamtärzteschaft und damit letzten Endes schwere Nachteile für den Zahnärztestand zu befürchten seien: keine Tatsachenbehauptung; 6 Ob 245/97s: Äußerung über Zustände in einem Tiergarten als „Tierquälerei“: Der Beklagte habe nicht den Tatbestand der Tierquälerei iSd § 222 StGB gemeint, sondern zum Ausdruck bringen wollen, dass das Halten von Tieren in einem Tiergarten immer gegen die Natur der Tiere und damit nach seinem persönlichen Verständnis „Tierquälerei“ sei: keine Tatsachenbehauptung; 6 Ob 236/09p: der Kläger habe einen Lichtmast „ohne Rechtsgrundlage“ errichtet: keine Tatsachenbehauptung; 6 Ob 197/05x: „wettbewerbswidrig“: Werturteil).

Es handelt sich somit auch bei der Behauptung „standeswidrig“ im gegebenen Zusammenhang um keine Tatsachenbehauptung, sondern ein Werturteil.

4. „Zitierfehler“ der beklagten Partei:

Diesbezüglich kann auf die zutreffende Beurteilung des Rekursgerichts verwiesen werden: Aus dem Sinnzusammenhang des Artikels geht hinreichend deutlich hervor, dass der Mustervertrag keineswegs vorsieht, dass den Ärzten vorbehaltene Tätigkeiten auch durch Nichtärzte ausgeführt werden dürften. Dies ist auch deshalb naheliegend, weil im selben Atemzug „oder auch Hilfskräfte hinzuziehen kann“ ausgesagt wird, woraus geschlossen werden kann, dass es sich bei den davor genannten „Personen“ nicht um „Hilfskräfte“, sondern um „qualifizierte Personen“ handeln muss, worunter im gegebenen Zusammenhang nur Ärzte verstanden werden können.

5. Hier vorliegende (vgl oben 3.) – Werturteile sind rein subjektive, einer objektiven Überprüfung entzogene Aussagen. Sie werden von § 

1330 Abs 2 ABGB nicht

erfasst, können aber als Ehrenbeleidigung gegen § 

1330 Abs 1 ABGB verstoßen (6 Ob 243/11w; RIS‑Justiz RS0032212 [T16]).

Der Beklagte beruft sich auf die Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK. Demnach dürfen Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung nur insoweit vorgenommen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind.

Das Recht der freien Meinungsäußerung und auch der politischen Kritik ist kein schrankenloses und ungebundenes; es findet seine Grenze im Schutz des guten Rufes des Beleidigten (RIS‑Justiz RS0075554). Werturteile ohne hinreichendes Tatsachensubstrat oder Wertungsexzesse sind nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt (vgl RIS‑Justiz RS0075554 [T6]). Es muss also zwischen (zulässiger) Kritik und (unzulässiger) Beleidigung unterschieden werden (vgl RIS‑Justiz RS0075554 [T7]). Sachliche Kritik an Leistungen anderer ist grundsätzlich zulässig; ob sich der Kritisierte irritiert oder verletzt fühlt, ist unmaßgeblich (RIS‑Justiz RS0075710). Für die Abgrenzung zwischen ehrenbeleidigender Rufschädigung einerseits und zulässiger Kritik und Werturteil andererseits ist die Art der eingeschränkten Rechte, die Schwere des Eingriffs, die Verhältnismäßigkeit zum verfolgten Zweck, der Grad der Schutzwürdigkeit des Interesses aber auch der Zweck der Meinungsäußerung entscheidend (RIS‑Justiz RS0054817 [T30]).

Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist die freie und offene Diskussion politischer Fragen das Herzstück der Konvention (RIS‑Justiz RS0075696 [T7]). Das vom Beklagten thematisierte Funktionieren des Gesundheitssystems und der ärztlichen Versorgung ist durchaus auch eine politische Frage. Nach der Entscheidung 6 Ob 74/04g besteht an der Diskussion über die Kosten des Gesundheitswesens und deren Verteilung ein bedeutendes öffentliches Interesse. Auch eine überspitzt oder polemisch formulierte Kritik zu diesem Themenkreis wird durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt.

Dem Thema der Gesundheit kommt für den einzelnen und für die Allgemeinheit eine derart zentrale Bedeutung zu, dass Meinungsäußerungen dazu auch dann gerechtfertigt sein können, wenn sie besonders kritisch und massiv in die Ehre eines anderen eingreifen. Die Gewichtigkeit des Themas führt dazu, dass dem verfassungsrechtlich geschützten Recht auf freie Meinungsäußerung (also dem Recht auf ein wertendes Urteil aufgrund konkreter Tatsachen) der höhere Stellenwert zukommt, solange nicht ein

Wertungsexzess feststellbar wäre (RIS‑Justiz RS0106892).

Wie politische Meinungsäußerungen bedürfen auch Äußerungen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse unter dem Blickwinkel des Art 10 EMRK eines hohen Grades an Schutz. In einer demokratischen Gesellschaft müssen auch kleine und informelle Gruppen in der Lage sein, ihren Aktivitäten wirksam nachzugehen. Es besteht ein starkes öffentliches Interesse daran, solchen Gruppen und Individuen zu ermöglichen, durch die Verbreitung von Informationen über Themen wie Gesundheit zur öffentlichen Debatte beizutragen (RIS‑Justiz RS0125220).

Für Einschränkungen politischer Äußerungen oder Diskussionen in Angelegenheiten des öffentlichen Interesses billigt der EGMR den Vertragsstaaten nur einen sehr engen Beurteilungsspielraum zu (RIS‑Justiz RS0075696 [T27]; ähnlich RS0054817 [T14]). Der Grundsatz, dass Politiker einen höheren Grad an Toleranz zeigen müssen, gilt auch für Privatpersonen und Vereinigungen, sobald sie die politische Bühne betreten (RIS‑Justiz RS0054817 [T21]; siehe auch RS0054830 [T2] zu Auseinandersetzungen im Vereinsbereich; RS0115541). Auch die Ärztekammer kann als in der Öffentlichkeit auftretende gesetzlich eingerichtete Interessenvertretung durchaus als „politische Akteurin“ angesehen werden.

Legt man diese Kriterien an den vorliegenden Sachverhalt an, so überschreiten die Äußerungen des Beklagten nicht das Maß zulässiger Kritik. Ein Wertungsexzess liegt nicht vor (vgl RIS‑Justiz RS0054817 [T3, T7, T31, T42, T46]).

6. Das Sicherungsbegehren erweist sich daher als unberechtigt und war daher abzuweisen.

7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 78, 402 EO iVm §§ 41, 52 ZPO.

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