European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0060OB00142.16Z.0720.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben wie folgt:
„Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 9.100 EUR samt 4 % Zinsen seit 7. 5. 2014 zu bezahlen.
Das Mehrbegehren, die beklagten Parteien seien weiters schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 3.564,04 EUR samt 4 % Zinsen ab 7. 5. 2014 zu bezahlen, wird abgewiesen.“
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 5.441,49 EUR (darin 576,55 EUR USt und 1.982,15 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, die mit 1.971,88 EUR (darin 278,96 EUR USt und 298,10 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 2.415,22 EUR (darin 152,84 EUR USt und 1.498,20 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die Beklagten waren Halter des achtjährigen Mischlingshundes „Waldi“. Der Hund hat noch nie jemanden gebissen. Wenn jemand aus dem Haus ging, ging dieser mit hinaus. Wenn die Erstbeklagte von der Arbeit nach Hause kam, öffnete der Zweitbeklagte die Tür und der Hund lief der Erstbeklagten entgegen. Am 17. 1. 2014 öffnete der Zweitbeklagte die Haustür, um Brennholz ins Haus zu bringen. Der Hund rannte aus dem Haus in Richtung Rauriser Landesstraße. Der Zweitbeklagte lief dem Hund aufgrund eines Hüftleidens nicht nach, rief ihm jedoch nach. Der Hund blieb aber nicht stehen.
Der Hund rannte von der rechten Straßenseite kommend unmittelbar vor einen herannahenden PKW, sodass dieser nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte und es zum Zusammenstoß des Hundes mit der rechten Seite der Stoßstange des Fahrzeugs kam. Der Hund erlitt bei der Kollision eine Querschnittlähmung der hinteren beiden Läufe, sodass er sich nur mehr robbend mit den beiden Vorderläufen fortbewegen konnte und den hinteren Teil seines Körpers nachzog. Auf diese Weise bewegte sich der Hund von der rechten Fahrbahnhälfte kommend auf die gegenüberliegende linke Fahrbahnhälfte in Richtung Gehsteig, bevor er dort in unmittelbarer Nähe zur Gehsteigkante zur Ruhe kam. Der Hund machte nach dem Unfallereignis einen ruhigen Eindruck und bellte nicht.
Da der Lenker des PKW unmittelbar nach dem Unfall sein Fahrzeug auf der Fahrbahn abstellte und auf der anderen Fahrspur der verletzte Hund blieb, waren zeitweise beide Fahrbahnen der Rauriser Landesstraße blockiert und unpassierbar. Der Kläger, welcher mit seinem Autobus drei Fahrzeuge hinter dem Unfallfahrzeug zu stehen kam, stieg aus und ging auf den Unfalllenker sowie die Lenkerin eines auf der gegenüberliegenden Fahrbahn abgestellten Fahrzeugs zu, um den Unfalllenker zu bitten, sein Fahrzeug in eine nahe gelegene Ausbuchtung zu stellen und den Verkehr nicht weiter zu behindern. Um zu den beiden Personen zu gelangen, ging der Kläger entlang des linken Gehsteigs. Er hat das Unfallgeschehen zuvor beobachtet und auch gesehen, dass sich der Hund dort hingesetzt hatte. Bei seinem Weg zu den beiden Personen beachtete er das Tier nicht und hielt keinen Sicherheitsabstand ein. Als der Kläger auf dem Gehweg auf die Höhe des sitzenden Hundes gelangte, schnappte dieser nach dem Kläger und biss ihn in die linke Hand.
Aufgrund eines Infekts dauerte die Behandlung des Klägers bis zum 19. 2. 2014. Der Kläger erlitt gerafft einen Tag starke Schmerzen, zehn Tage mittelstarke Schmerzen sowie 14 Tage leichte Schmerzen.
Der Kläger begehrt zuletzt 12.664,04 EUR an Verdienstentgang, Spesen und Schmerzengeld und brachte vor, die Beklagten hätten den Hund nicht ausreichend verwahrt.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit 6.066,67 EUR sA statt; das Mehrbegehren wies es ab.
Ausgehend von den oben wiedergegebenen Feststellungen erwog es in rechtlicher Sicht, die Beklagten hätten den Hund nicht ausreichend verwahrt. Der Hund sei in der Vergangenheit bereits öfter unbeaufsichtigt aus dem Haus gelaufen. Dem Kläger falle jedoch ein Mitverschulden von einem Drittel zur Last. Obwohl er den Unfall beobachten konnte und ihm außerdem bewusst gewesen sei, dass es sich bei dem am Straßenrand sitzenden Tier um jenen Hund handelte, welcher kurz vorher mit dem Fahrzeug zusammengestoßen war, habe er das Tier in weiterer Folge nicht beobachtet und keinen Sicherheitsabstand zu diesem eingehalten.
Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge, änderte jedoch über Berufung der beklagten Parteien das Urteil im klagsabweisenden Sinn ab. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung zeige ein verletztes Tier aggressive Reaktionen. Der Biss stehe in keinem Rechtswidrigkeitszusammenhang zum Verstoß gegen die Tierhalterhaftung mehr. Der Kläger habe damit rechnen müssen, dass dieses Tier auf seine Annäherung derart reagieren würde.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Frage, ob eine durch unmittelbare Annäherung an einen im Zuge eines Verkehrsunfalls schwer verletzten Hund verursachte Bissverletzung im Rechtswidrigkeits‑ zusammenhang zur vorangegangenen Verletzung der Verwahrungspflicht stehe, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Interesse der Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch berechtigt.
1.1. Zutreffend gelangte das Erstgericht zu dem Ergebnis, dass ein auf der Straße frei herumlaufender Hund ein erhebliches Gefahrenmoment darstellt (RIS‑Justiz RS0030156; RS0030079; 6 Ob 227/05h) und daher in unmittelbarer Nähe einer stark frequentierten Straße besonders sorgfältig zu verwahren ist (RIS‑Justiz RS0030107). Den insoweit angelasteten Sorgfaltsverstoß haben die beklagten Parteien in ihrer Berufung auch nicht mehr bekämpft.
1.2. Kausalität und Adäquanz würden nur bei Hinzutreten von Umständen außerhalb der allgemeinen menschlichen Erwartung (RIS‑Justiz RS0022546; RS0022918) oder bei außergewöhnlicher Verkettung nicht vorhersehbarer Umstände (RIS‑Justiz RS0098939) entfallen. Dass ein sorglos verwahrter Hund angefahren und durch die dabei erlittenen Verletzungen bissig ist, liegt aber keineswegs außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung.
2.1. Aufgrund eines rechtswidrigen Verhaltens ist aber nur für jene Schäden zu haften, die die übertretene Verhaltensnorm gerade verhindern sollte (RIS‑Justiz RS0027553; RS0022933; RS0031143). Der Schutzzweck jeder Norm ergibt sich aus ihrem Inhalt. Das Gericht hat das anzuwendende Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren, um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den in einem konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten soll (RIS‑Justiz RS0008775 [T1]). Dabei genügt, dass die Verhinderung des Schadens bloß mitbezweckt ist; die Norm muss aber die Verhinderung eines Schadens wie des später eingetretenen zumindest intendiert haben (RIS‑Justiz RS0008775 [T2, T4]). Wie weit der Normzweck (Rechtswidrigkeitszusammenhang) reicht, ist dabei eine Auslegungsfrage im Einzelfall (RIS‑Justiz RS0082346; RS0027553 [T11]).
2.2. Das Berufungsgericht konnte sich bei seiner Beurteilung auf die Entscheidung 3 Ob 507/96 stützen. Dieser Entscheidung lag ein Fall zugrunde, in dem ein infolge sorgloser Verwahrung verletzter Hund sich in eine Remise verkrochen hatte und den zur Hilfe gerufenen Tierarzt biss. In dieser Entscheidung verneinte der Oberste Gerichtshof den Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der fehlerhaften Verwahrung und dem Hundebiss, weil der Tierarzt nicht etwa mit dem Einfangen eines frei herumlaufenden Hundes, der weiterhin eine Gefahr darstellen hätte können, sondern mit dessen Behandlung befasst war. Für sein Risiko, von einem verletzten Tier gebissen zu werden, sei der Ursprung von dessen Verletzung aber nicht ausschlaggebend.
2.3. Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall aber maßgeblich von dem der Entscheidung 3 Ob 507/96 zugrunde liegenden Sachverhalt. Für einen Tierarzt gehört es zu seiner Aufgabe, sich um verletzte Tiere zu kümmern. Das Risiko, dabei gebissen zu werden, ist unabhängig von der Ursache der Verletzung immer gleich hoch. Insoweit hat sich für den Tierarzt nur sein allgemeines Berufsrisiko verwirklicht (vgl Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1320 Rz 2). In der Entscheidung 3 Ob 507/96 wies der Oberste Gerichtshof auch darauf hin, dass der Fall gegebenenfalls anders zu beurteilen gewesen wäre, wenn sich der Hund noch freilaufend auf der Straße befunden hätte und eingefangen werden hätte müssen, um weiteren Gefahren vorzubeugen.
2.4. Im vorliegenden Fall verwirklichte sich demgegenüber nicht das allgemeine Berufs‑ oder Lebensrisiko des Klägers, sondern das spezifische Unfallrisiko. Insoweit ist der Fall nicht anders zu beurteilen, als wenn der Hund infolge sorgloser Verwahrung entkommen wäre, ohne einen Unfall zu verursachen, und direkt – etwa durch den Verkehrslärm erschreckt – einen Passanten gebissen hätte. Zudem blieb der Hund im vorliegenden Fall an der Unfallstelle liegen und machte diese damit weiter (noch) unsicherer.
2.5. Dass Hunde plötzlich auf offenen Straßen auftauchen und dadurch Verkehrsunfälle verursachen können (vgl RIS‑Justiz RS0030156), ist eine von der Rechtsprechung anerkannte Gefahr, der § 1320 ABGB vorzubeugen sucht. Der Schutzzweck von § 1320 ABGB erfasst aber auch die Vermeidung solcher Schäden, die anderen Personen als Teilnehmern des Fließverkehrs entstanden sind, sofern sie bei gehöriger Verwahrung unterblieben wären, selbst wenn kein geradezu atypisches, wohl aber ein objektiv vorhersehbares Verhalten des Tieres vorliegt (RIS‑Justiz RS0027560).
2.6. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rechtsprechung zu verweisen, wonach Folgeunfälle, die aufgrund der besonderen Gefahren einer Unfallstelle entstehen, im Adäquanz‑ und Rechtswidrigkeits‑ zusammenhang mit dem Verschulden an der Erstkollision stehen (RIS‑Justiz RS0022675). Dies gilt nach der Entscheidung 2 Ob 109/10h auch dann, wenn ein verletztes Wildtier auf der Straße liegen bleibt und deswegen einen Folgeunfall verursacht. Diese Überlegungen lassen sich aber auf den im vorliegenden Fall erfolgten „Folgebiss“ übertragen.
2.7. Damit ist aber die Verletzung des Klägers noch vom Schutzzweck des § 1320 ABGB umfasst. Dass ein unbeaufsichtigt auf die Straße laufender Hund verletzt werden kann und dann in der Folge aus Angst einen Passanten angreift, ist auch nicht gänzlich außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung.
3.1. Zu Recht wendet sich der Kläger auch gegen die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung. In der Entscheidung 4 Ob 170/09t erachtete der Oberste Gerichtshof bei unvorsichtiger Annäherung an eine welpenführende und damit als gefährlich erkennbare Hündin ein Mitverschulden von 25 % für vertretbar. In der Entscheidung 8 Ob 110/15g billigte der Oberste Gerichtshof eine Verschuldensteilung von 1:1 zwischen einem nicht ausreichend verwahrten Schäferhund und einer auf Inlineskates fahrenden Klägerin. Bei beiden Entscheidungen handelt es sich jedoch um die Zurückweisung außerordentlicher Revisionen. In der Entscheidung 8 Ob 110/15g wies der Oberste Gerichtshof ausdrücklich darauf hin, dass die Gewichtung des beiderseitigen Fehlverhaltens immer nur anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls erfolgen könne, sodass weder Anlass noch Möglichkeit für allgemein gültige Ausführungen des Obersten Gerichtshofs bestehe. Eine unvertretbare Fehlbeurteilung werde nicht aufgezeigt.
3.2. Im Rahmen einer zulässigen Revision hat der Oberste Gerichtshof jedoch sich nicht auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die Vorinstanzen den ihnen zukommenden Beurteilungsspielraum (vgl zum Mitverschulden RIS‑Justiz RS0087606; vgl auch RS0029874) überschritten haben, sondern hat diese Frage selbständig zu prüfen.
3.3. Im vorliegenden Fall war der Kläger auf einer stark befahrenen Straße entsprechend den Bestimmungen der StVO auf dem Gehsteig unterwegs, um den Lenker des Unfallfahrzeugs zu ersuchen, die Fahrbahn nach dem Zusammenstoß mit dem von den Beklagten nicht ordnungsgemäß verwahrten Hund zu räumen. Berücksichtigt man, dass der Hund schon mehrfach auf die Straße gelaufen war und dass es sich dabei um eine stark befahrene Straße handelt, so tritt gegenüber der mangelhaften Verwahrung durch die beklagten Parteien eine allfällige Sorglosigkeit des Klägers in den Hintergrund, zumal der Hund nach den Feststellungen ruhig am Fahrbahnrand saß bzw lag.
4. Zusammenfassend erweist sich daher die Revision als berechtigt, sodass die Entscheidungen der Vorinstanzen spruchgemäß abzuändern waren.
5. Die Höhe der zugesprochenen Beträge von 4.000 EUR Schmerzengeld und 5.050 EUR Verdienstentgang sowie unfallkausalen Spesen von 50 EUR gründen sich auf die diesbezüglichen Feststellungen des Erstgerichts.
6. Aufgrund der Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen waren die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen neu zu bestimmen. Die Entscheidung über die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens gründet sich auf §§ 43 Abs 1, 50 ZPO auf Basis des ersiegten Betrags, sodass die verzeichneten Kosten um den „Kürzungsfaktor“ (vgl Fucik in Rechberger, ZPO4 § 43 Rz 13) von 0,832 zu reduzieren waren. Die verzeichneten Schriftsätze waren mit Ausnahme jener vom Februar 2014 als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig antragsgemäß nach TP 1 (auch jener vom 18. 2. 2015) bzw TP 2 RATG zu honorieren. Die Entscheidungen über die Kosten des Berufungs‑ und Revisionsverfahrens gründen sich auf §§ 41, 50 ZPO.
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