OGH 4Ob61/24k

OGH4Ob61/24k22.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M. und Mag. Waldstätten sowie den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch die Poduschka AnwaltsgmbH in Linz, gegen die beklagte Partei * AG, *, vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 5.820 EUR sowie Feststellung (Streitwert 2.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Steyr als Berufungsgericht vom 29. Jänner 2024, GZ 1 R 7/24h‑29, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Steyr vom 24. November 2023, GZ 21 C 448/20i‑23, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00061.24K.1022.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Konsumentenschutz und Produkthaftung

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin kaufte am 29. 6. 2010 einen von der Beklagten hergestellten Pkw der Type VW Golf Rabbit TDI um 19.400 EUR mit einem Kilometerstand von 3.428 km und Erstzulassung am 13. 4. 2010. Das Fahrzeug war mit einem Dieselmotor des Typs EA 189 ausgestattet, der nach der Abgasklasse Euro 5 zertifiziert war.

[2] Beim Fahrzeug war Software installiert, die den NEFZ‑Prüfungszyklus der Zulassungsbehörde erkannte und (nur) in diesem Fall einen Fahrmodus mit geringeren Abgaswerten aktivierte (sog Umschaltlogik).

[3] Den leitenden Mitarbeitern der Beklagten war bewusst, dass es sich dabei um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelte. Sie verheimlichten den Einsatz dieser Software vor dem deutschen Kraftfahrt‑Bundesamt (KBA) als Zulassungsbehörde, um den Anschein eines verordnungskonformen Motors zu erwecken, eine EG‑Typengenehmigung zu erlangen, mehr Kfz zu verkaufen und die Kosten für Forschung und Entwicklung zu sparen.

[4] Außerdem war die Abgasrückführung (AGR) im Pkw der Klägerin von Anfang an so ausgelegt, dass sie nur in einem Temperaturbereich von +10 Grad Celsius bis +38 Grad Celsius erfolgte (Thermofenster). Dies sollte der Versottung von Motorteilen vorbeugen. 2009 produzierte die Beklagte jedoch bereits Fahrzeuge für den US‑Markt, die dank Niederdruck‑AGR in einem Temperaturbereich sind, dessen Untergrenze etwa 0 Grad Celsius und +5 Grad Celsius und dessen Obergrenze bei +40 Grad Celsius liegt.

[5] Zusätzlich wurde die AGR zum Schutz vor Versottung von Motorbauteilen nach 15 Minuten Leerlaufbetrieb reduziert (sog Taxifunktion) und in über 1.000 Höhenmetern abgeschaltet (sog Höhenabschaltung). Auch diese Probleme wären schon 2009 technisch durch eine Niederdruck‑AGR zu bewältigen gewesen.

[6] 2015 erfuhr das KBA von der Umschaltlogik und ordnete den Rückruf der betroffenen Fahrzeuge an, um die Umschaltlogik zu entfernen. Die Beklagte entwickelte dazu ein vom KBA genehmigtes Softwareupdate, das die Klägerin am 11. 1. 2017 auf ihren Pkw aufspielen ließ.

[7] Der Kaufpreis von 19.400 EUR war im Juni 2010 für einen verordnungskonformen VW Golf Rabbit TDI angemessen und branchenüblich. Ein Nachgeben der Gebrauchtwagenpreise der vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge am österreichischen Gebrauchtwagenmarkt konnte nicht festgestellt werden.

[8] Die Klägerin begehrte 5.820 EUR, also 30 % des Kaufpreises, als Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung für künftige Schäden. Sie stützte sich unter anderem auf arglistige Irreführung nach § 874 ABGB.

[9] Das Erstgericht sprach der Klägerin 1.940 EUR, also 10 % vom Kaufpreis zu. Das Feststellungsbegehren wies es rechtskräftig ab. Dabei ging es davon aus, dass das Fahrzeug mit Thermofenster, Taxifunktion und Höhenabschaltung selbst nach dem Update noch insgesamt drei unzulässige Abschalteinrichtungen aufwies. Als Anspruchsgrundlagen bejahte es sowohl eine Schutzgesetzverletzung nach § 1311 ABGB als auch eine arglistige Täuschung nach § 874 ABGB und eine sittenwidrige Schädigung nach § 1295 Abs 2 ABGB. Die Schadenshöhe sei zwar grundsätzlich nach der relativen Berechnungsmethode zu ermitteln. Aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben müsse aber ein angemessener Schadenersatzbetrag innerhalb einer Bandbreite von 5 bis 15 % des Kaufpreises gewährt werden. Unter Anwendung des § 273 ZPO seien hier 10 % angemessen.

[10] Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung. Es bestehe keine Verpflichtung, die Wertminderung exakt festzustellen. Es ließ die ordentliche Revision wegen der großen Zahl der Parallelfälle zu im Revisionsverfahren nicht mehr aufgegriffenen Fragen der Verjährung zu.

[11] Die Revision der Klägerinstrebt eine gänzliche Klagsstattgebung, hilfsweise eine Aufhebung der Entscheidungen und Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht an.

[12] Die Beklagte beantragt die Zurück- bzw Abweisung des Rechtsmittels.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revisionist zur Wahrung der Rechtseinheit zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

[14] 1. Die Klägerin macht zurecht als sekundären Feststellungsmangel geltend, dass der Sachverhalt keine Information zum objektiven Wert des Pkws bei Übergabe enthält.

[15] 1.1. Die Klägerin stellte im vorliegenden Fall unter Beweis, dass sie durch den Erwerb eines Pkws geschädigt wurde, den die Beklagte wissentlich mit (zumindest) einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet und für den sie trotzdem eine behördliche Zulassung erschlichen hatte.

[16] Im Revisionsverfahren ist nur noch die Schadenshöhe strittig.

[17] 1.2. Der Ersatz für die Verletzung des unionsrechtlichen Schutzgesetzes der Verordnung (EG) 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge wird primär nach unionsrechtlichen Anforderungen bestimmt. Macht der Fahrzeugkäufer nicht die Rückabwicklung des Kaufvertrags, sondern nur einen Minderwert geltend, ist dieser im Sinn des § 273 Abs 1 ZPO nach freier Überzeugung innerhalb einer Bandbreite von 5 % und 15 % des vom Kläger gezahlten und dem Wert des Fahrzeugs angemessenen Kaufpreises festzusetzen (RS0134498). Dies schließt aber nicht aus, dass die Wertminderung exakt festgestellt wird und der Käufer Ersatz derselben verlangen kann (RS0134498 [T6]; vgl zB Zuspruch von 20 %: 8 Ob 70/23m [Rz 26] und 8 Ob 109/23x, Rz 22; Zuspruch von 30 %: 4 Ob 121/23g Rz 13 und 4 Ob 27/24k [Rz 21]).

[18] 1.3. Diese Rechtsprechung zur Bandbreite von 5 % und 15 % kommt für die Berechnung der Schadenshöhe bei Festhalten am Vertrag nicht zur Anwendung, wenn der Anspruchsgrund in § 874 und/oder § 1295 Abs 2 ABGB liegt. In diesen Fällen hat sie vielmehr nach nationalen Regeln, also nach der relativen Berechnungsmethode zu erfolgen (RS0134498 [T7]; zB 4 Ob 204/23p, Rz 51; 6 Ob 19/24y Rz 16; 2 Ob 158/23h Rz 23 10 Ob 31/23s, Rz 51; 2 Ob 139/23i, Rz 25).

[19] 1.4. Im vorliegenden Fall behauptete die Klägerin, dass der von ihr bezahlte Preis 30 % über dem objektiven Wert eines Pkws mit unzulässiger Abschalteinrichtung gelegen sei, und begehrt diesen Minderwert, also die Differenz, um die das Fahrzeug gemäß dem objektiven Wert von Leistung und Gegenleistung zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu teuer erworben worden sei.

[20] Das Erstgericht hat festgestellt, dass der von der Klägerin bezahlte Kaufpreis für ein verordnungskonformes Fahrzeug angemessen gewesen wäre. Zum Nachgeben der Gebrauchtwagenpreise der vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge am österreichischen Gebrauchtwagenmarkt traf es eine non‑liquet‑Feststellung. Letztere hat für die relative Berechnungsmethode, also Beurteilung des Minderwerts im Erwerbszeitpunkt keine erkennbare Relevanz (10 Ob 46/23x [Rz 19]).

[21] Zum Verkehrswert des von der Klägerin tatsächlich erworbenen Pkws mit Abschalteinrichtung im Zeitpunkt der Übergabe (vgl RS0113651 [T6]) trafen die Vorinstanzen dagegen weder eine Feststellung noch eine non-liquet‑Feststellung. Damit fehlt ein wesentlicher Faktor für die Ermittlung des Minderwerts und für die Berechtigung des hier (auch) nach § 874 ABGB dem Grunde nach zu Recht bestehenden Klagebegehrens.

[22] 1.5. Auch bei Anwendung des § 273 ZPO darf das Gericht die Schadenshöhe nur in jenem Rahmen nach Ermessen festsetzen, in dem kein Beweis für die Höhe des Schadens erbracht werden konnte. Als maßgebende Faktoren für die Ermessensentscheidung des Gerichts sind dabei die Feststellungen, die getroffen werden konnten, die Rechtslage und Erfahrungssätze heranzuziehen. Das Gericht muss nachvollziehbar offenlegen, welche mehr oder weniger wahrscheinliche Annahmen es traf (vgl RS0040341 [insbes T3]; RS0007104 [T7]).

[23] Da im vorliegenden Fall jedenfalls für die Schadenersatzansprüche nach nationalem Recht sekundäre Feststellungsmängel zum Minderwert bestehen, kann dahinstehen, ob die Feststellungen hier für die Ermittlung der Anspruchshöhe nur aufgrund einer Schutzgesetzverletzung ausreichend gewesen wären.

[24] 1.6. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren nach allfälliger Verfahrensergänzung (siehe jedoch bereits das SV‑GA ON 13 S 30 Pkt 18) eine Feststellung oder Negativfeststellung zum objektiven Wert des Fahrzeugs mit Abschalteinrichtung im Jahr 2010 zu treffen haben, also welcher Preis für entsprechend mangelhafte Fahrzeuge unter der Voraussetzung tatsächlich erzielt worden wäre, dass die Käufer die mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung verbundene Unsicherheit über die Nutzungsmöglichkeit in Kauf nahmen (10 Ob 7/24p [Rz 25f]).

[25] 2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 dritter Satz ZPO.

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