OGH 4Ob155/23g

OGH4Ob155/23g20.2.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei * AG *, vertreten durch Dr. Peter Hauser, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagten Parteien 1. *, und 2. *, wegen 26.324,70 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht vom 13. Juli 2023, GZ 4 R 80/23x‑5, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Linz vom 23. Mai 2023, GZ 1 Cg 55/23p‑2, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00155.23G.0220.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Mit ihrer am allgemeinen Gerichtsstand des Erstbeklagten eingebrachten Klage begehrte die klagende Unternehmerin von den beiden beklagten Verbrauchern zur ungeteilten Hand die Zahlung von 26.324,70 EUR sA. Die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts hinsichtlich der Zweitbeklagten stützte sie auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach § 93 Abs 1 JN.

[2] Das Erstgericht wies die Klage hinsichtlich der Zweitbeklagten wegen örtlicher Unzuständigkeit zurück. Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft könne gegenüber Verbrauchern nur mit der Beschränkung des § 14 Abs 1 KSchG in Anspruch genommen werden.

[3] Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss unter Verweis auf die einhellige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Es ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mit der Begründung zu, der Oberste Gerichtshof sei bisher nicht auf die in der Lehre geäußerten begründeten Bedenken gegen diese Rechtsprechung eingegangen.

Rechtliche Beurteilung

[4] Der Revisionsrekurs der Klägerin ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Maßgebliche Rechtsnormen:

[5] 1.1. Der letzte Halbsatz des § 93 Abs 1 JN schließt den Wahlgerichtsstand der Streitgenossenschaft am allgemeinen Gerichtsstand eines anderen Streitgenossen aus, wenn das Gericht auch durch Vereinbarung der Parteien nicht zuständig gemacht werden kann.

[6] 1.2. Nach § 14 Abs 1 KSchG kann für eine Klage gegen einen im Inland wohnhaften, gewöhnlich aufhältigen oder beschäftigten Verbraucher nach den §§ 88, 89, 93 Abs 2 und 104 Abs 1 JN nur die Zuständigkeit des Gerichts begründet werden, in dessen Sprengel der Wohnsitz, der gewöhnliche Aufenthalt oder der Ort der Beschäftigung liegt; dies gilt nicht für Rechtsstreitigkeiten, die bereits entstanden sind.

2. Bisherige Rechtsprechung:

[7] 2.1. Nach der einhelligen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wird der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach § 93 Abs 1 JN, obwohl er in § 14 Abs 1 KSchG nicht ausdrücklich genannt ist, nur mit den Beschränkungen des § 14 Abs 1 KSchG angewandt, weil er nicht gegeben ist, soweit Prorogationsverbote bestehen (RS0046739; 5 Ob 525/90; 2 Ob 178/05y). Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach § 93 Abs 1 JN kann daher gegenüber Verbrauchern nur mit der Beschränkung des § 14 Abs 1 KSchG begründet werden (RS0046739 [T1]; 2 Ob 229/98k; 8 Ob 108/00s; 2 Ob 178/05y; offenlassend 1 Ob 163/99y; 6 Ob 208/02k).

[8] 2.2. Diese Ansicht wurde erstmals in 5 Ob 525/90 vertreten, nachdem die Gerichte zweiter Instanz im Jahrzehnt davor – soweit veröffentlicht – zu unterschiedlichen Lösungen gelangt waren (für die Beschränkung: HG Wien 1 R 99/84, WR 53; OLG Wien 17 R 221/86, WR 256; dagegen: OLG Wien 12 R 213/86, REDOK 9762, mit Verweis auf OLG Wien 2 R 17/80). In 5 Ob 525/90 stützte sich der Oberste Gerichtshof im Wesentlichen auf den Wortlaut des § 93 Abs 1 JN und folgte der damaligen überwiegenden Lehre (Fasching,Lehrbuch2 Rz 304; Fasching, Kommentar I 459 zu § 6 Ratengesetz 1896; Jelinek, Gerichtszuständigkeit im Verbraucherprozess [§ 14 KSchG], in Krejci, Handbuch zum Konsumentenschutzgesetz, 859 ff [883 ff]), soweit er § 93 Abs 1 JN nach dem Wortlaut auslegte; Krejci in Rummel, ABGB § 14 KSchG Rz 6). Die von Jelinek unter Hinweis auf die Materialien zur 1. Gerichtsentlastungsnovelle (1. GEN), RGBl 118/1914, vorgeschlagene teleologische Reduktion des letzten Halbsatzes des § 93 Abs 1 JN auf die unprorogable sachliche Unzuständigkeit (Jelinek, aaO 883 f, 885 f) lehnte der Oberste Gerichtshof ab.

[9] 2.3. In 2 Ob 229/98k sah der Oberste Gerichtshof die durch 5 Ob 525/90 begründete Ansicht bereits als gesichert an, auch weil sie bis dahin im Schrifttum zustimmend oder jedenfalls ohne Kritik übernommen worden war (Deixler‑Hübner, Konsumentenschutz2 Rz 188; Kosesnik-Wehrle/Lehofer/Mayer/Langer,KSchG § 14 Rz 4; Mayr in Rechberger, ZPO § 93 JN Rz 3).

3. Meinungsstand in der Literatur:

[10] 3.1. Ein Teil der Literatur stimmt der einhelligen Rechtsprechung weiterhin zu oder gibt sie ohne Kritik wieder (Donath in Schwimann/Neumayr, ABGB Taschenkommentar5 § 14 KSchG Rz 1; Fucik in Fucik/Klauser/Kloiber, ZPO13 Anmerkung zu § 93 JN; Kosesnik‑Wehrle in Kosesnik‑Wehrle, KSchG4 § 14 Rz 4; Krejci in Rummel, ABGB3 § 14 KSchG Rz 6).

[11] 3.2. Andere Autoren – ua jene, auf die sich die Klägerin im Revisionsrekurs stützt – kommen dagegen zu einem anderen Ergebnis:

[12] 3.2.1. Simotta griff 2001 die – in 5 Ob 525/90 abgelehnte – Argumentation von Jelinek (aaO 883 f, 885 f) auf, der zuvor auch Roth gefolgt war (Roth,Neuerungen der Zivilverfahrensnovelle 1983 im Bereich der Klagenhäufung, in Buchegger/Holzhammer,Beiträge zum Zivilprozessrecht II, 209 ff [231 ff]; im Ergebnis ebenso Schalich, Überblick über die Zivilverfahrensnovelle 1983, ÖJZ 1983, 253 [256]). Sie befürwortet eine teleologische Reduktion des letzten Halbsatzes des § 93 Abs 1 JN auf die unprorogable sachliche Unzuständigkeit. Wie Jelinek leitet sie aus den Materialien zur 1. GEN, RGBl 118/1914, ab, der Gesetzgeber habe bei der Einfügung des letzten Halbsatzes in den § 93 Abs 1 JN nur die Einhaltung der zwingenden Grenzen der sachlichen Zuständigkeit vor Augen gehabt. Der Wortlaut des Gesetzes sei wegen eines dem Gesetzgeber unterlaufenen Fehlers bei der Formulierung zu weit: Er habe offensichtlich übersehen, dass zwar zur Zeit der Kundmachung der JN keine die örtliche Zuständigkeit betreffenden Prorogationsverbote bestanden hatten, dass sie jedoch mittlerweile geschaffen und (gerade durch die 1. GEN) ausgebaut worden waren, und daher den angefügten Halbsatz nicht auf die sachliche Zuständigkeit eingeschränkt. Die teleologische Reduktion des letzten Halbsatzes des § 93 Abs 1 JN auf die unprorogable sachliche Unzuständigkeit stehe mit dem Zweck im Einklang, den der Gesetzgeber mit Zwangsgerichtsständen und die örtliche Zuständigkeit betreffenden Prorogationsverboten verfolge, sei für den Verbraucher „nicht unbillig“ und aus Kostengründen sogar vorzuziehen. Auch der Gesetzgeber des KSchG, BGBl 140/1979, und der Zivilverfahrensnovelle (ZVN) 1983, BGBl 135/1983, sei davon ausgegangen, dass der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gegenüber Verbrauchern ohne die Einschränkung des § 14 Abs 1 KSchG zur Anwendung kommen solle. Zusammengefasst stehe ein die örtliche Zuständigkeit betreffendes Prorogationsverbot – wie jenes des § 14 Abs 1 KSchG – dem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach § 93 Abs 1 JN nicht entgegen. Im Übrigen enthalte § 14 Abs 1 KSchG seit der Erweiterten Wertgrenzen-Novelle (WGN) 1997, BGBl I 140/1997 (mit der § 14 Abs 1 KSchG um den letzten Halbsatz ergänzt wurde, Anm.), kein absolutes Prorogationsverbot mehr, sondern nur mehr ein zeitlich befristetes (Simotta, Der Verbraucher als Streitgenosse – § 14 Abs 1 KSchG versus § 93 Abs 1 JN, in FS Sprung, 359 ff; vgl Simotta in Fasching/Konecny 3 , Vor §§ 83a‑83b JN Rz 51 ff; § 93 JN Rz 8/1 ff; Rechberger/Simotta, Grundriss9 Rz 307).

[13] 3.2.2. Einige Autoren sind Simotta (und Jelinek) gefolgt (Kustor/Prossinger in Kodek/Oberhammer, ZPO‑ON § 93 JN Rz 12 ff; Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 Vor § 83a JN/§ 14 KSchG Rz 5; § 93 JN Rz 3; Nemeth in Klang, ABGB3 § 14 KSchG Rz 13; entgegen Kustor/Prossinger, aaO Rz 15 FN 21 aber nicht Schneider in Fasching/Konecny 3 Vor §§ 11–15 ZPO Rz 6, die nur die Einschränkung des § 93 Abs 2 JN durch § 14 Abs 1 KSchG behandelt). Andere haben zumindest Sympathien für ihre Argumente erkennen lassen (Apathy/Frössel in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 14 KSchG Rz 2 FN 26).

[14] 3.2.3. Braun schließlich argumentiert, § 14 Abs 1 KSchG stehe dem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft schon deshalb nicht entgegen, weil er nur das Ziel verfolge, rechtsgeschäftliche Zuständigkeitsänderungen zum Nachteil des Verbrauchers zu verhindern (Braun in Höllwerth/Ziehensack, ZPO Taschenkommentar § 93 JN Rz 9).

4. Erwägungen des Obersten Gerichtshofs:

[15] 4.1. Der Oberste Gerichtshof sieht sich auch durch die Kritik in Teilen der Literatur nicht veranlasst, von seiner einhelligen Rechtsprechung abzugehen.

[16] 4.2. Die Grenze jeglicher Gesetzesauslegung, die auch mit den sonstigen Interpretationsmethoden nicht überschritten werden darf, ist der äußerste mögliche Wortsinn (RS0008788 [T1]; RS0008796; RS0016495).

[17] 4.3. Nach dem einzig möglichen Wortsinn des letzten Halbsatzes des § 93 Abs 1 JN steht jedes Prorogationsverbot – unabhängig davon, ob es die sachliche oder die örtliche Zuständigkeit betrifft – dem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft entgegen. Der Oberste Gerichtshof legt diese Bestimmung daher in ständiger Rechtsprechung umfassend aus, also ohne Einschränkung auf die Art der Zuständigkeit: Allgemein kann sich der Kläger nur gegenüber jenen Beklagten auf § 93 Abs 1 JN stützen, für die das angerufene Gericht auch durch Vereinbarung zuständig gemacht werden könnte (5 Ob 525/90; 6 Ob 316/02t; 1 Ob 105/13t; 5 Ob 170/21t; vgl RS0117283), also nicht unprorogabel unzuständig ist (1 Ob 45/00z; 8 Ob 108/00s; 6 Ob 208/02k). § 14 Abs 1 KSchG ist ebenso klar: Diese Bestimmung enthält Prorogationsverbote (RS0039759) für die örtliche Zuständigkeit (5 Ob 538/94); das wird auch in der Literatur nicht bestritten. Dass der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach § 93 Abs 1 JN gegenüber Verbrauchern nur mit der Beschränkung des § 14 Abs 1 KSchG begründet werden kann, ist die logische Konsequenz der Zusammenschau dieser beiden Bestimmungen. Dass § 93 Abs 1 JN in § 14 Abs 1 KSchG nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist ebenso unerheblich wie der Zweck des § 14 Abs 1 KSchG: Die Rechtsfolge ergibt sich bereits daraus, dass § 93 Abs 1 JN eine allgemeine Ausnahme vom Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bei Bestehen eines Prorogationsverbots regelt und § 14 Abs 1 KSchG ein solches Prorogationsverbot vorsieht.

[18] 4.4. Die Ansicht, das Prorogationsverbot des § 14 Abs 1 KSchG sei aufgrund seines letzten Halbsatzes zeitlich befristet, sodass kein Prorogationsverbot iSd § 93 Abs 1 JN vorliege, teilt der Oberste Gerichtshof nicht. Der Grundsatz des § 14 Abs 1 KSchG ist das Prorogationsverbot. Der Unternehmer kann im Einzelfall die Ausnahme davon beweisen, nämlich dass die von § 14 Abs 1 KSchG abweichende Zuständigkeitsvereinbarung für eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit getroffen wurde. Diese im Einzelfall vom Unternehmer zu beweisende Ausnahme ändert aber nichts daran, dass grundsätzlich ein Prorogationsverbot besteht, das § 93 Abs 1 JN erfasst.

[19] 4.5. Die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion des letzten Halbsatzes des § 93 Abs 1 JN sind nicht erfüllt:

[20] 4.5.1. Die teleologische Reduktion setzt die ratio legis gegen einen überschießend weiten Gesetzeswortlaut durch. Die (verdeckte) Lücke besteht im Fehlen einer nach der ratio notwendigen Ausnahme (RS0008979). Für eine teleologische Reduktion reicht aber – entgegen Jelinek, Simotta und der ihnen folgenden Literatur sowie entgegen der Ansicht der Klägerin – nicht bereits ein (möglicherweise) vom Gesetzeswortlaut abweichender Wille des (historischen) Gesetzgebers aus. Vielmehr ist stets der Nachweis vorausgesetzt, dass eine umschreibbare Fallgruppe von den Grundwertungen oder Zwecken des Gesetzes entgegen seinem Wortlaut gar nicht getroffen wird und dass sie sich von den „eigentlich gemeinten“ Fallgruppen so weit unterscheidet, dass die Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt und willkürlich wäre (RS0008979).

[21] 4.5.2. Beim letzten Halbsatz des § 93 Abs 1 JN fehlt es jedenfalls an der zweiten Voraussetzung: Es ist weder sachlich ungerechtfertigt noch willkürlich, einem Kläger die Berufung auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zu verwehren, wenn es gesetzliche Prorogationsverbote gibt – unabhängig davon, ob diese die sachliche oder die örtliche Zuständigkeit betreffen. Das gilt auch im Fall des § 14 Abs 1 KSchG. Es mag Konstellationen geben, in denen es sinnvoll erscheint, dass der Verbraucher mit einem Streitgenossen an dessen allgemeinem Gerichtsstand geklagt werden kann – etwa aus den im Revisionsrekurs angeführten Gründen der Kostenersparnis, der Schonung der Ressourcen der Justiz oder der Einheitlichkeit der gerichtlichen Entscheidungen. Es mag also (auch) rechtspolitische Gründe dafür geben, im letzten Halbsatz des § 93 Abs 1 JN nach der vom Prorogationsverbot betroffenen Art der Zuständigkeit zu unterscheiden. Das allein macht aber die vom Gesetzgeber im klaren Wortlaut des § 93 Abs 1 JN zum Ausdruck gebrachte Gleichbehandlung aller Prorogationsverbote weder sachlich ungerechtfertigt noch willkürlich. Die von Teilen der Literatur vorgeschlagene teleologische Reduktion des letzten Halbsatzes des § 93 Abs 1 JN auf die unprorogable sachliche Unzuständigkeit ist daher nicht angezeigt.

5. Zusammenfassung:

[22] 5.1. Der Oberste Gerichtshof hält auch im Lichte der Kritik in Teilen der Literatur an seiner gefestigten Rechtsprechung fest, dass der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach § 93 Abs 1 JN gegenüber Verbrauchern nur mit der Beschränkung des § 14 Abs 1 KSchG begründet werden kann.

[23] 5.2. Dem zulässigen Revisionsrekurs ist daher nicht Folge zu geben.

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