European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132381
Spruch:
Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Die Tochter der Lebensgefährtin des Klägers hatte gemeinsam mit ihrem Freund der Beklagten den Auftrag erteilt, ein Fertigteilhaus zu errichten. Die Vertragsparteien vereinbarten, dass die Bauherrn vier bis fünf tüchtige Helfer beistellen würden, die auch bauseits zu versichern und zu entlohnen seien. Der Kläger war einer dieser Helfer. Er bestieg auf Anweisung eines Mitarbeiters der Beklagten ein erst halbfertiges Gerüst, das von Mitarbeitern der beklagten Partei errichtet worden war und mangels entsprechender Absicherung umstürzte. Dabei verletzte sich der Kläger.
[2] Mit Bescheid der AUVA vom 24. 7. 2019 wurde der Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt. Dagegen erhob der Kläger vor dem Arbeits- und Sozialgericht Klage. Das in dieser Sache gefällte klagsabweisende Urteil wurde dem Kläger am 31. 12. 2019 zugestellt. Am 16. 1. 2020 brachte der Kläger beim Arbeits- und Sozialgericht einen Schriftsatz mit Streitverkündung an die hier Beklagte ein, der dieser samt einer Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils des Arbeits- und Sozialgerichts am 21. 1. 2020 zugestellt wurde. Das Urteil erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.
[3] Der Kläger begehrt nun von der Beklagten Schadenersatz (Schmerzengeld und Pflegekosten sowie sonstige Auslagen) gestützt darauf, dass die Mitarbeiter der Beklagten ihre vertraglichen Schutzpflichten dem Kläger gegenüber verletzt hätten.
[4] Die Beklagte wendet dagegen ein, es handle sich um einen Arbeitsunfall, weshalb sie das Dienstgeber‑haftungsprivileg in Anspruch nehme.
[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Mangels Parteienidentität bestehe keine Bindung an die Ergebnisse des sozialgerichtlichen Verfahrens. Der Unfall des Klägers sei im Rahmen einer „betrieblichen Tätigkeit“ iSd § 176 Abs 1 Z 6 ASVG erfolgt. Der Kläger sei in den Betrieb der Beklagten eingegliedert gewesen. Damit liege ein Arbeitsunfall vor, weshalb sich die Beklagte auf das Haftungsprivileg nach § 333 Abs 1 ASVG berufen könne.
[6] Das Berufungsgericht verwarf die Berufung wegen Nichtigkeit und bestätigte im Übrigen die erstinstanzliche Entscheidung. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.
[7] Das Berufungsgericht verneinte die geltend gemachte Nichtigkeit wegen Missachtung der Bindungswirkung des sozialgerichtlichen Urteils und verwies zur Rechtsrüge insbesondere auf die Entscheidung 10 ObS 34/89, in der bei vergleichbarem Sachverhalt ein einem Arbeitsunfall gleichgestellter Unfall iSd § 176 Abs 1 Z 6 ASVG bejaht worden sei. Die in der Berufung beschworene „Entscheidungsharmonie“ werde in der Judikatur überwiegend abgelehnt. § 333 ASVG sei, sofern ein Arbeitsunfall iSd § 176 Abs 1 Z 6 ASVG vorliege, unabhängig davon anzuwenden, ob der Versicherungsträger Leistungen nach dem ASVG erbringe oder nicht.
[8] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil nicht auszuschließen sei, dass es die zitierten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs – gerade im Zusammenhang mit der Bindungswirkung – missinterpretiert haben könnte.
[9] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision des Klägers nicht zulässig. Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:
Rechtliche Beurteilung
[10] 1. Die Nichtbeachtung der Rechtskraft hat nach ständiger Rechtsprechung die Nichtigkeit zur Folge (RS0041896). Bei der Bindungswirkung handelt es sich ebenso wie bei der Einmaligkeitswirkung um einen Aspekt der materiellen Rechtskraft (2 Ob 30/20f; RS0102102). Ein Verstoß gegen die Bindungswirkung einer Vorentscheidung bildet daher nach dieser Rechtsprechung einen Nichtigkeitsgrund (4 Ob 234/18t; 2 Ob 178/14m mwN; RS0074226).
[11] Soweit das Berufungsgericht eine Nichtigkeit infolge Verstoßes gegen die Bindungswirkung verneint hat, liegt demnach ein gemäß § 519 Abs 1 ZPO unanfechtbarer Beschluss des Berufungsgerichts vor (4 Ob 234/18t; 7 Ob 93/14y; 1 Ob 102/12z; RS0042981 [T6, T10]; RS0043405 [T48 und T49]).
[12] 2. Eine in zweiter Instanz verneinte Nichtigkeit des Verfahrens erster Instanz kann in dritter Instanz auch nicht als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens geltend gemacht werden (RS0042981 [T5]).
[13] 3. Auch wurde bereits ausgesprochen, dass es sich bei der Frage der Bindung der Gerichte eines späteren Prozesses an bestimmte (tragende) Tatsachenfeststellungen eines Vorprozesses um eine reine Verfahrensfrage handelt und nicht um eine solche des materiellen Rechts. Auch der Versuch, den behaupteten Verstoß gegen die Bindungswirkung unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend zu machen, ist deshalb verfehlt (7 Ob 93/14y mwN; 2 Ob 178/14m).
[14] 4. Gründe, aus denen von der erörterten Rechtsprechung abgegangen werden müsste, werden in der Revision nicht aufgezeigt. Das gilt insbesondere für die Frage, ob eine Verletzung der Bindungswirkung im Sinn der herrschenden Rechtsprechung als Nichtigkeitsgrund anzusehen ist (vgl aus der älteren Rsp 14 Ob 87/86, 14 Ob 88/86; zuletzt, allerdings vereinzelt, 6 Ob 21/13a). Dem Revisionsgericht ist daher insgesamt die Überprüfung, ob das Berufungsgericht das Vorliegen des Nichtigkeitsgrundes zu Recht verneint hat, verwehrt (4 Ob 234/18t; 7 Ob 93/14y). Es ist davon auszugehen, dass keine Bindungswirkung an das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts besteht und demnach inhaltlich zu prüfen, ob ein Anwendungsfall des § 333 ASVG vorliegt.
[15] 5. Tatbestandsmäßige Voraussetzung für das Haftungsprivileg des Dienstgebers nach § 333 ASVG ist – neben dem hier nicht relevanten Fall der Berufskrankheit – das Vorliegen eines Arbeitsunfalls. Nach ständiger Rechtsprechung gilt das Haftungsprivileg auch bei Unfällen, die durch § 176 Abs 1 Z 6 ASVG Arbeitsunfällen gleichgestellt sind (2 Ob 24/05a mwN; RS0085264). Dies trifft auf solche Unfälle zu, die sich bei einer betrieblichen Tätigkeit des Verletzten ereignen, wie sie sonst ein nach § 4 ASVG Versicherter ausübt. Für das Vorliegen einer betrieblichen Tätigkeit ist weiters wesentlich, dass es sich um eine ernstliche, dem in Frage stehenden Unternehmen dienliche, wirtschaftlich als Arbeit zu wertende Tätigkeit handelt, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht, und durch die ein enger ursächlicher Zusammenhang mit dem Unternehmen hergestellt wird (2 Ob 24/05a mwN; vgl RS0083555). Auf die Beweggründe des Tätigwerdens (zum Beispiel familienrechtliche Beziehungen oder sittliche Verpflichtungen) kommt es nicht an (RS0083555).
[16] Auch ein Verhältnis persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit ist keine Voraussetzung für die Qualifizierung als betriebliche Tätigkeit (RS0084172), sie muss aber ihrer Art nach einer abhängigen Beschäftigung entsprechen und darf nicht zum betrieblichen Aufgabenbereich des Verletzten selbst gehören (2 Ob 114/08s). Entscheidend ist das Tätigwerden des Verletzten in der Sphäre (im Aufgabenbereich) des Unternehmers (9 ObA 39/19d; vgl RS0085208). Ebenfalls nicht erforderlich ist hingegen, dass es sich um eine dauernde Tätigkeit handelt, auch eine kurzfristige und vorübergehende Eingliederung in den Betrieb kann ausreichen (9 ObA 39/19d; RS0084172 [T8, T9, T11]).
[17] 6. Bei dieser Sachlage lässt die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, der Kläger sei im Unfallszeitpunkt in den Betrieb der Beklagten eingegliedert gewesen, keine Fehlbeurteilung im Einzelfall erkennen. Der vorliegende Sachverhalt entspricht – wie bereits das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat – in den wesentlichen Punkten jenem zu 10 ObS 34/89. Dem hält die Revision, die sich in erster Linie mit der Frage der Bindungswirkung beschäftigt, keine einer näheren Prüfung bedürftige Argumente entgegen.
[18] 7. Die Revision ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).
[19] Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung nicht auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, diente ihr Schriftsatz nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung.
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