OGH 9ObA39/19d

OGH9ObA39/19d23.7.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Dehn, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl und Herbert Bauer in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei ***** F*****, vertreten durch Dr. Paul Fuchs, Rechtsanwalt in Thalheim bei Wels, gegen die beklagte Partei ***** G*****, vertreten durch ASPIDA Rechtsanwälte in Graz, wegen 17.480,96 EUR sA und Feststellung (5.000 EUR), über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. November 2018, GZ 6 Ra 55/18g‑24, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 3. April 2018, GZ 22 Cga 27/17f‑19, Folge gegeben und das Ersturteil aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:009OBA00039.19D.0723.000

 

Spruch:

Der Rekurs der beklagten Partei wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.489,86 EUR (darin 248,31 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens zu ersetzen.

 

Begründung:

Die Klägerin ist bei der S***** GmbH (im Folgenden: S*****) beschäftigt, die in verschiedenen Supermärkten im Rahmen eines so genannten Shop‑in‑Shop‑Systems die T*****-Regale eigenständig betreut. Aufgabe der Klägerin ist es, das jeweilige Sortiment der T*****-Regale in den Supermärkten laufend zu kontrollieren und auf dem aktuellen Stand zu halten. Nach ihrem Dienstvertrag ist sie verpflichtet, ausschließlich Weisungen durch ihren direkten Vorgesetzten bzw Ansprechpartner der SIG entgegenzunehmen und zu erfüllen.

Die Beklagte ist Filialleiterin des unfallgegenständlichen Supermarktes. Die Mitarbeiter dieses Supermarktes hatten von der Beklagten die Weisung erhalten, die Dienstnehmer der S***** bei der Verrichtung ihrer Arbeiten zu unterstützen, wenn sie um Hilfe gebeten werden. Das war sehr oft der Fall, wenn die Betreuerinnen der T*****-Regale Kaffee und Kaffee-Produkte benötigten, die in einem Abstand von etwa 2 bis 2,30 m zum T*****-Regal auf einer Palette oberhalb des Kühlregals gelagert waren. Auch die Klägerin hatte diese Mithilfe schon mehrmals in Anspruch genommen. Den Mitarbeitern der Beklagten steht eine hausinterne sechssprossige Aluleiter zur Verfügung. Die Klägerin wurde nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass die Leiter von externen Arbeitnehmern nicht verwendet werden durfte, und verwendete sie auch, um zum Kaffee auf der Palette zu gelangen. Beanstandungen gab es nicht.

Auch am Unfalltag befand sich die Klägerin auf der Leiter, um Kaffeepackungen für das T*****-Regal herunterzunehmen. Die Beklagte näherte sich mit einem mechanischen Hubwagen mit einer Grillkohlenpalette. Sie sah die auf der dritten Stufe der Leiter befindliche Klägerin, die ihrerseits auch die Beklagte mit dem Hubwagen wahrnahm. Als die Beklagte mit dem Hubwagen etwa 1 m von der Leiter entfernt war, rief sie der Klägerin zu, dass es eng werde und sie sich festhalten solle. In diesem Moment kam es zu einer Berührung zwischen dem Hubwagen und der Leiter. Die Klägerin stürzte zu Boden und zog sich einen Bruch des 12. Brustwirbels zu.

Die Klägerin begehrte von der Beklagten die Zahlung von 17.480,96 EUR sA und die Feststellung ihrer Haftung für alle künftigen unfallkausalen Schäden.

Die Beklagte bestritt und beantragte unter Berufung auf das rekursgegenständliche Haftungsprivileg iSd § 333 Abs 1 ASVG Klagsabweisung.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Es ging von einer Eingliederung der Klägerin in den Betrieb des Supermarktes aus. Die Beklagte habe gegenüber der Klägerin jedenfalls das Weisungsrecht gehabt, die Steigleiter nicht zu verwenden. Ihr komme als Aufseherin im Betrieb die Haftungsbegünstigung des § 333 ASVG zugute.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und hob das Ersturteil zur Verfahrensergänzung bezüglich der näheren Unfallfolgen auf. Eine Eingliederung der Klägerin in den Betrieb des Supermarktes sei zu verneinen. Der Rekurs sei mangels Rechtsprechung zur Frage der Eingliederung von Dienstnehmern bei einem Shop-in-Shop-System zulässig.

In ihrem dagegen gerichteten Rekurs beantragt die Beklagte die Abänderung des Aufhebungsbeschlusses im Sinn einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils.

Die Klägerin beantragt, den Rekurs zurückzuweisen, in eventu ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Zulassungsausspruch ist der Rekurs der Beklagten unzulässig . Die Zurückweisung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a iVm § 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).

1.  Gemäß § 333 Abs 1 ASVG ist der Dienstgeber dem Versicherten zum Ersatz des Schadens, der diesem durch eine Verletzung am Körper infolge eines Arbeitsunfalls entstanden ist, nur verpflichtet, wenn er den Arbeitsunfall (die Berufskrankheit) vorsätzlich verursacht hat. Gemäß § 333 Abs 4 ASVG gilt diese Bestimmung (ua) auch für Ersatzansprüche Versicherter gegen Aufseher im Betrieb.

2.  Für die Frage, wer bei Shop-in-Shop-Systemen als Aufseher im Betrieb anzusehen ist, ist voranzustellen, dass solche Vertriebssysteme in unterschiedlichen Ausprägungen existieren, unterschiedliche Zwecke verfolgen (Hervorhebung von Sortimentteilen, Markenpräsentation des Herstellers, Bewerbung neuer Produkte etc) und vom Geschäftsinhaber selbst oder in unterschiedlich ausgeprägten Kooperationen mit anderen Unternehmern (reine Flächen-/Regalmiete; Franchisesystem ua) betrieben werden können. In letzterem Fall bedarf es daher zwar in der Regel einer gewissen Kooperation, Koordination und Aufgabenverteilung der Betriebsunternehmer bezüglich der gemeinsamen Inanspruchnahme von Flächen, Lagerräumlichkeiten, Mitarbeitern, Reinigungspersonal etc. Ob und inwieweit sie für die Tätigkeit eines Dienstnehmers von Bedeutung sind, kann aber immer nur anhand ihrer konkreten Ausgestaltung beurteilt werden. Aus dem Vorliegen eines Shop-in-Shop-Systems an sich ist für den vorliegenden Fall und dessen Lösung daher nichts Zwingendes zu gewinnen.

3.  Auszugehen ist davon, dass zur Frage, welchen Personenkreis die Bestimmung des § 333 ASVG erfasst, ausreichend Rechtsprechung vorliegt. Nach ständiger Judikatur ist der von der Bestimmung des § 333 ASVG erfasste Dienstgeber grundsätzlich derjenige, der mit dem Verletzten durch ein Beschäftigungsverhältnis verbunden ist oder in dessen Betrieb der Verletzte wie ein Arbeitnehmer eingegliedert war (RS0119378; RS0084172). Ein Verhältnis persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit ist keine Voraussetzung für die Qualifizierung als betriebliche Tätigkeit (RS0084172). Entscheidend ist das Tätigwerden des Verletzten in der Sphäre (im Aufgabenbereich) des Unternehmers (vgl RS0085208). Nicht erforderlich ist hingegen, dass es sich um eine dauernde Tätigkeit handelt, auch eine kurzfristige und vorübergehende Eingliederung in den Bereich kann ausreichen (RS0084172 [T8, T9, T11]). Die Einordnung in den Betrieb ist nur insoweit erforderlich, als der Helfende im ausdrücklich oder stillschweigend zum Ausdruck kommenden oder nach der Sachlage zu vermutenden Einverständnis des Unternehmers handelt und zumindest bereit sein muss, nach den den Arbeitsvorgang bestimmenden Weisungen des Unternehmers, in dessen Interessen die Tätigkeit ausgeübt wird, oder dessen Vertreters zu handeln (RS0084209 [T4]).

4.  Wenn – wie hier – einander zwei Betriebsunternehmer als Vertragskontrahenten gegenüberstehen, ist die Haftung des einen Unternehmers bei Verletzung eines Betriebsangehörigen des anderen Unternehmers nicht durch § 333 ASVG ausgeschlossen, so lange jeder Unternehmer innerhalb der Sphäre seines eigenen Betriebs tätig bleibt. Zum Haftungsausschluss nach § 333 ASVG kann es aber kommen, wenn der dann Verletzte die Sphäre seines eigenen Lebensbereichs verlässt und sich dem Aufgabenbereich des anderen Unternehmers einordnet (RS0021534; s auch RS0085266 [T6]). So ist auch für die Eingliederung eines aus Gefälligkeit helfenden Betriebsangehörigen in das Unternehmen des anderen vor allem wesentlich, dass die Tätigkeit ihrer Art nach einer abhängigen Beschäftigung entspricht und dass sie nicht zum betrieblichen Aufgabenbereich des Verletzten gehört (RS0123965; s auch RS0085043). Wesentlich für die Haftungsbefreiung sowohl von Haupt‑ als auch Nebenunternehmer gegenüber einem Dienstnehmer eines der beteiligten Unternehmen ist nicht nur eine organisatorisch koordinierte Zusammenarbeit zur Erzielung eines gemeinsamen Erfolgs, sondern immer auch die Eingliederung des (fremden Weisungen unterliegenden) Dienstnehmers in den fremden Betrieb (RS0128707). Verlässt der Verletzte den Tätigkeitsbereich seines Dienstgebers nicht, ist das Haftungsprivileg zu verneinen (s RS0021534 [T7, T11, T12]). Ob von der Eingliederung in einen fremden Betrieb auszugehen ist, richtet sich stets nach den jeweiligen Umständen des konkreten Einzelfalls und begründet daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RS0084209 [T9]), es sei denn, dem Berufungsgericht wäre eine auffallende Fehlbeurteilung unterlaufen. Das ist hier nicht der Fall.

5.  Die Klägerin war als Dienstnehmerin der S***** dienstvertraglich verpflichtet, ausschließlich Weisungen von ihrer Dienstgeberin entgegenzunehmen und zu erfüllen. Nach den Feststellungen war sie dafür verantwortlich, im Supermarkt eines anderen Unternehmens ein T*****‑Verkaufsregal zu betreuen, wozu auch das Befüllen und Nachsortieren von T*****-Produkten gehörte. Diese Aufgabe zählte zum betrieblichen Tätigkeitsbereich ihrer Dienstgeberin, nicht aber jenem des Supermarktes.

Hier wurden für die Lagerung der für das T*****‑Regal bestimmten Kaffeepackungen auch Lagermöglichkeiten des Supermarktes (Hochregal über dem Kühlregal) genutzt. Um von dort Kaffee zu holen, wurden von der Klägerin auch Hilfsmittel (Aluleiter) des Supermarktes in Anspruch genommen. Dass für diese Tätigkeit eine vertragliche Vereinbarung zwischen dem Supermarkt und der Dienstgeberin der Klägerin bestanden hätte, geht aus dem festgestellten Sachverhalt nicht hervor. Das Berufungsgericht interpretierte die Feststellungen des Erstgerichts dahin, dass auch das Herunterholen von Kaffee aus dem Hochlager zum Bestücken der T*****‑Verkaufsregale Teil des Aufgabenbereichs der Klägerin war (Berufungsurteil S 9). Dass die Benützung der Aluleiter des Supermarktes nur den Mitarbeitern des Supermarktes vorbehalten war, steht dem nicht entgegen, weil die Klägerin davon keine Kenntnis hatte, sie die Aluleiter zu diesem Zweck bereits mehrfach ohne Beanstandungen verwendet hatte und die Beklagte selbst am Unfalltag die Verwendung der Aluleiter durch die Klägerin billigte. Das erlaubt den Schluss, dass die Klägerin zur Erfüllung ihrer Aufgaben die Aluleiter des Supermarktes geduldetermaßen in Anspruch nehmen konnte.

Auch der Umstand, dass die Klägerin Mitarbeiter des Supermarktes um Hilfe ersuchen konnte, reicht hier nicht für eine andere Beurteilung aus: Die Beklagte hat nicht nachgewiesen, dass es der Klägerin untersagt gewesen wäre, zur Erfüllung ihrer Aufgaben (Betreuung und Nachbestückung der T*****-Verkaufsregale) eigenständig Produkte von den Lagerflächen der Beklagten zu holen. Wenn die Mitarbeiter des Supermarktes angewiesen waren, „die Dienstnehmer der S***** GmbH bei der Verrichtung ihrer Arbeiten zu unterstützen, wenn sie um Hilfe gebeten werden“ (Ersturteil S 22), schließt dies nicht aus, dass Dienstnehmer der S***** wie die Klägerin solche Tätigkeiten zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch selbst wahrnehmen konnten. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin bei ihrer Tätigkeit am Hochregal die Sphäre ihres eigenen Aufgabenbereichs nicht verlassen hatte und demzufolge keine betriebliche Tätigkeit des Supermarktes wahrnahm, ist danach nicht weiter korrekturbedürftig.

6.  Da zusammenfassend ausreichend Rechtsprechung zur Frage der Eingliederung in den Betrieb iSd § 333 ASVG vorliegt und die Beurteilung des Berufungsgerichts den Rahmen dieser Rechtsprechung auch für die vorliegende Konstellation nicht verlässt, war der Rekurs der Beklagten zurückzuweisen. Wie schon erwähnt, ist aus dem bloßen Vorliegen eines Shop‑in‑Shop‑Systems zu dem der Rekurs vom Berufungsgericht zugelassen wurde, für die Frage des Haftungsprivilegs iSd § 333 Abs 1 ASVG nichts Zwingendes zu gewinnen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf den §§ 41, 50 ZPO.

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