OGH 2Ob119/24z

OGH2Ob119/24z25.7.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Daniel Wolff, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen die beklagte Partei B*, vertreten durch Dr. Herwig Mayrhofer, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen 26.602 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 3. Mai 2024, GZ 1 R 50/24y‑100, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00119.24Z.0725.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Nach § 4 der Verordnung der Stadt H* über das Halten und Führen von Hunden vom 20. 9. 2011 ist es auf allen Geh‑ und Radwegen verboten, Hunde „frei laufen zu lassen (angeleint oder virtuelle Leine)“. Die Erläuterungen zur Verordnung führen dazu aus: „Bei diesem Modell muss der Hund nicht unbedingt an einer 'wirklichen' Leine geführt werden, wenn der Hundeführer/in auf andere Weise sicherstellt, dass der Hund niemanden behindert, gefährdet oder belästigt. Der Hund muss neben dem Hundeführer/in ('bei Fuß') oder in dessen Nähe (Sicht‑ und Hörweite) bleiben und bei Bedarf 'auf Kommando' sofort zum Hundeführer zurückkehren. (…) Die 'virtuelle Leine' kann somit nur bei folgsamen Hunden verwendet werden.“

[2] Die Beklagte ging am 5. 6. 2022 in H* mit ihren beiden Hunden auf einem geschotterten Geh‑ und Radweg, der entlang eines wasserführenden Kanals und einer Wiese führt. Die Beklagte befand sich in der Mitte des drei Meter breiten Weges, wobei ein Hund an ihrer rechten Seite bei Fuß ging und die Hündin in einer Entfernung von drei bis vier Meter am linken Wegesrand schnüffelte. Beide Hunde waren nicht angeleint.

[3] Der Kläger näherte sich der Beklagten mit seinem Mountainbike von hinten. Als er sich vier Meter hinter der Beklagten befand, verringerte er seine Geschwindigkeit auf 10 bis 15 km/h und rief„Obacht ich komme“. Daraufhin lief die Hündin zur Klägerin, sodass sie mit dem Vorderrad des Mountainbikes kollidierte, wodurch der Kläger zu Sturz kam und sich verletzte. Die Beklagte hatte kein Kommando gegeben, doch wird die Hündin, wenn sich ein Fußgänger oder Radfahrer nähert, stets gerufen und kommt dann zur Beklagten. Das Tier ist gut führbar und weit überdurchschnittlich ausgebildet.

[4] Die Vorinstanzen haben die Klage, mit welcher der Kläger Schadenersatz und die Feststellung der Haftung der Beklagten begehrt, abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

[5] Die außerordentliche Revision ist mangels einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig.

[6] 1. Wenn eine ortspolizeiliche Verordnung besteht, dass Hunde an der Leine zu führen sind, der Hund jedoch losgelassen wird und einen Radfahrer zu Sturz bringt, ist der Halter dafür haftbar (RS0027811). Entgegen der Rechtsansicht des Klägers ergibt sich aus der Verordnung der Stadt * aber gerade keine zwingende Verpflichtung, Hunde an der Leine zu führen. Auch hat die Beklagte ihre Hündin nicht „frei laufen lassen“, weil sich das folgsame Tier im Sinn einer „virtuellen Leine“ in unmittelbarer Nähe der Beklagten befand.

[7] 2. Das Anleinen des Hundes kann zwar auch ohne eine entsprechende Verordnung der Gemeinde geboten sein (RS0027811 [T4]). Die Haftung des Tierhalters nach § 1320 ABGB ist aber keine volle Gefährdungshaftung. Die besondere Tiergefahr wird dadurch berücksichtigt, dass auf die objektiv gebotene Sorgfalt abgestellt wird (RS0030291 [T13]; 2 Ob 47/21h mwN). Die Anforderungen an den Tierhalter dürfen nicht überspannt werden (RS0030326; RS0030365).Der Oberste Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass die Aufsicht über einen Hund insbesondere bei Spaziergängen im freien Gelände nicht immer darin bestehen muss, dass er an die Leine gelegt wird, sondern es genügt, dass ihn die Aufsichtsperson, wenn er den Befehlen gehorcht, stets im Auge behält, um ihn durch Zuruf zu leiten (RS0030041; vgl RS0030287). Wie ein Tier zu verwahren oder zu beaufsichtigen ist, richtet sich letztlich nach den Umständen des Einzelfalls (RS0030157; RS0030567).

[8] 3. Im Straßenverkehr bestehen zwar besondere Anforderungen an die Verwahrung eines Hundes (RS0030107). Da ein Hund typischerweise die mit dem Straßenverkehr verbundenen Gefahren nicht erkennt, bildet ein auf einer Straße frei laufender Hund nämlich insbesondere für einspurige Fahrzeuge eine erhebliche Gefahr (RS0030156). Im vorliegenden Fall hat sich der Unfall aber auf einem Geh- und Radweg iSd § 2 Abs 1 Z 11a StVO ereignet, der nach der Rechtsprechung nicht als Fahrbahn iSd § 76 Abs 1 StVO zu qualifizieren ist (2 Ob 64/22h). Mangels Anwendbarkeit des § 76 Abs 1 StVO war die Beklagte deshalb auch nicht verpflichtet, sich mit ihren Hunden an den Wegesrand zu halten (2 Ob 38/23m).

[9] 4. Nach § 68 Abs 1 letzter Satz StVO haben sich Radfahrer auf Geh‑ und Radwegen vielmehr so zu verhalten, dass Fußgänger nicht gefährdet werden. Der Gesetzgeber fordert von den Radfahrern damit eine erhöhte Sorgfaltspflicht gegenüber den Fußgängern (ErläutRV 1580 BlgNR 18. GP  32). Der Oberste Gerichtshof hat erst kürzlich ausgesprochen, dass ein Radfahrer, der sich auf einem solchen Weg einem Fußgänger von hinten nähert, nach § 22 StVO verpflichtet ist, durch die Abgabe eines Warnzeichens den Kontakt herzustellen, weil der Fußgänger sonst darauf vertrauen darf, dass er gefahrlos auch unvermittelt zur Seite ausschwenken darf (2 Ob 38/23m).

[10] 5. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers war die Beklagte deshalb nicht verpflichtet, regelmäßig hinter sich zu blicken, um allenfalls herannahende Radfahrer sehen zu können. Dementsprechend durfte der Kläger auch nicht darauf vertrauen, dass ein gefahrloses Passieren möglich sein werde, wie er dies in seinem Rechtsmittel behauptet. Es wäre vielmehr am Kläger gelegen, sich rechtzeitig bemerkbar zu machen, um der Beklagten das gefahrlose Zurückrufen ihrer Hündin zu ermöglichen.

[11] 6. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die Beklagte ihre Sorgfaltspflichten als Hundehalterin nicht verletzt hat, ist damit von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gedeckt. Die außerordentliche Revision des Klägers ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen.

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