European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0150OS00070.24V.0904.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Im Verfahren AZ 8 U 71/23m des Bezirksgerichts Neusiedl am See verletzen
1./ die Vernehmung des auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten in der Hauptverhandlung am 30. November 2023 unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort‑ und Bildübertragung §§ 239 dritter Satz, 174 Abs 1 zweiter Satz, 153 Abs 4 StPO;
2./ das Unterlassen der Anordnung der Zustellung einer richtigen und vollständigen Rechtsmittelbelehrung an den Angeklagten in der richterlichen Zustellverfügung § 152 Abs 3 Geo iVm § 129 Abs 4 Geo sowie
3./ das Unterbleiben der Zustellung einer solchen Rechtsmittelbelehrung § 6 Abs 2 StPO.
Das Urteil des Bezirksgerichts Neusiedl am See vom 30. November 2023 wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.
Gründe:
[1] Im Verfahren AZ 8 U 71/23m des Bezirksgerichts Neusiedl am See legte die Staatsanwaltschaft Eisenstadt * T* mit Strafantrag vom 17. August 2023 (ON 4) ein als Vergehen des Gebrauchs fremder Ausweise nach § 231 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last.
[2] Nachdem die Richterin des genannten Gerichts die Hauptverhandlung angeordnet hatte, gab eine Fachkraft in der Flüchtlingsbetreuung der Volkshilfe Oberösterreich mit am 15. September 2023 beim Gericht eingelangtem Schreiben bekannt, dass der in * wohnhafte Angeklagte „... nicht nach Neusiedl am See reisen [könne] und um eine Möglichkeit zur Durchführung der Hauptverhandlung per Videokonferenz [ersuche]“ (ON 8, 1).
[3] In der Hauptverhandlung vom 30. November 2023 erfolgte die Vernehmung des auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten, der im Ermittlungsverfahren gemäß § 164 StPO zum Anklagevorwurf vernommen worden (ON 2.3, 3 f) und mit dem Beisatz „Die Vernehmung des Angeklagten erfolgt in der HV am 30.11.2023 per Videokonferenz. Der Angeklagte hat sich an diesem Tag daher ... beim Bezirksgericht Freistadt ... einzufinden“ geladen worden war (ON 1.18, 1) unter Bezugnahme auf § 153 Abs 4 StPO (ON 11.1, 1) und einen „ausdrücklichen Antrag des Angeklagten“ unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort‑ und Bildübertragung (ON 11.3, 1).
[4] Er wurde des Vergehens des Gebrauchs fremder Ausweise nach § 231 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
[5] Nach „Rechtsmittelbelehrung“ durch die Richterin erklärte der Angeklagte, „dass er Berufung anmelden möchte ...“ (ON 11.3, 6).
[6] Die Urteilsausfertigung (ON 14), eine Gleichschrift des Hauptverhandlungsprotokolls (ON 11.3) sowie eine schriftliche – nach dem Stand des VJ‑Registers („RMUBG“) keine Belehrung in Richtung § 478 Abs 1 StPO („RMABG“) umfassende – Rechtsmittelbelehrung wurde dem Angeklagten am 5. März 2024 zugestellt (Zustellverfügung US 8, Zustellnachweis).
[7] Über die Berufung wurde vom Landesgericht Eisenstadt (zu AZ 10 Bl 9/24i) noch nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
[8] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, wurde das Gesetz durch Vorgänge im bezeichneten Verfahren mehrfach verletzt:
[9] Für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht gelten gemäß § 447 StPO, soweit nichts anderes bestimmt ist, die Bestimmungen für das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht.
[10] 1./ Die Möglichkeit der Vernehmung des Angeklagtenin der Hauptverhandlung durch „Zuschaltung“ mittels technischer Einrichtungen zur Wort‑ und Bildübertragung (§ 153 Abs 4 StPO; „Videokonferenz“) sieht die Strafprozessordnung gemäß § 239 dritter Satz StPO nur in den in § 174 Abs 1 StPO geregelten – hier nicht vorliegenden – Fällen (der Anhaltung des Angeklagten in Untersuchungshaft während einer Pandemie oder, wenn es zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten nach dem Epidemiegesetz 1950, BGBl 1959/186, nach Maßgabe einer Verordnung der Bundesministerin für Justiz notwendig erscheint) vor (Kirchbacher, StPO15 § 239 Rz 1 f; Danek/Mann, WK‑StPO § 239 Rz 10/1 ff).
[11] Indem die Richterin des Bezirksgerichts dennoch im Sinn des § 153 Abs 4 StPO vorging, verletzte sie § 239 dritter Satz, § 174 Abs 1 zweiter Satz und diese Bestimmung.
[12] 2./ Ein Urteil ist in Abwesenheit des Angeklagten gemäß § 427 StPO gefällt worden, wenn dieser zwischen dem Aufruf der Sache (im bezirksgerichtlichen Verfahren: Vortrag der Anklage) und dem Schluss der Verhandlung, sei es auch nur zeitweilig, nicht persönlich anwesend war, ohne dass Sonderregelungen eine Ausnahme angeordnet hätten, oder er nicht persönlich und unmissverständlich der Verhandlung in seiner Abwesenheit zugestimmt hat (vgl RIS‑Justiz RS0116271, RS0115797; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 2 f und 15; Ratz, WK‑StPO § 478 Rz 1).
[13] Mangels Vorliegens der in § 239 dritter Satz StPO genannten Ausnahmefälle und aufgrund fehlender persönlicher und unmissverständlicher Zustimmung des Angeklagten zur Verhandlung in seiner Abwesenheit (vgl ON 11.3, 1 iVm ON 8; RIS‑Justiz RS0115797 [T2]; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 244) erfolgte die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung hier somit in dessen Abwesenheit (Kirchbacher/Sadoghi, WK-StPO § 245 Rz 29/1).
[14] Gemäß § 152 Abs 3 Geo ist bei Zustellung eines Abwesenheitsurteils stets auch eine richtige, die Anfechtungsmöglichkeiten eines Abwesenheitsurteils beinhaltende (hier: § 478 Abs 1 und 2 StPO, siehe zu den Anforderungen Ratz, WK-StPO § 478 Rz 2 und 6; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 16; zum Ganzen Danzl, Geo10 § 152 Rz 15c), Rechtsmittelbelehrung zuzustellen, wobei dies gemäß § 129 Abs 4 Geo vom Richter in einer Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen ist (RIS‑Justiz RS0059446, RS0096533; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 16).
[15] Indem diese Anordnung verabsäumt wurde (zur Wirksamkeit der Zustellung siehe RIS-Justiz RS0096136 [T7]), liegt ein Verstoß gegen die genannten Bestimmungen der Geo vor (Danzl, Geo10 § 152 Rz 15c; zur Wahrnehmung der Verletzung von Verordnungen durch den Obersten Gerichtshof siehe RIS‑Justiz RS0102164 [T1]; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 12).
[16] 3./ Das Unterbleiben der Zustellung einer solchen, entsprechenden Rechtsmittelbelehrung (vgl RIS‑Justiz RS0096531) an den Angeklagten bewirkt einen Verstoß gegen § 6 Abs 2 StPO (Danzl, Geo10 § 152 Rz 15d).
[17] Da nicht auszuschließen ist, dass sich bereits die zu 1./ aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Angeklagten auswirkte, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO; vgl 12 Os 96/12b, 13 Os 122/17s; zum Verschlechterungsverbot im weiteren Verfahren RIS-Justiz RS0115530).
[18] Die Berufung des Angeklagten ist damit gegenstandslos.
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