Spruch:
In der Strafsache gegen Michael G*****, AZ 30 U 83/11i des Bezirksgerichts Zell am See, verletzt die Durchführung der Hauptverhandlung sowie die Urteilsfällung am 18. Jänner 2012 in Abwesenheit des ‑ bloß im Wege einer Videokonferenz aus der Justizanstalt Feldkirch zugeschalteten ‑ Angeklagten das Gesetz in § 427 Abs 1 und 2 StPO iVm § 6 Abs 1 StPO.
Das Urteil des Bezirksgerichts Zell am See vom 18. Jänner 2012, GZ 30 U 83/11i-27, sowie der unter einem gefasste Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO werden aufgehoben und es wird dem Bezirksgericht Zell am See die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens aufgetragen.
Mit ihrer Berufung und ihrer Beschwerde wird die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Salzburg erhob am 18. Juli 2011 (ON 1 S 1) Strafantrag gegen Michael G***** wegen § 83 Abs 1 StGB (ON 4). Dem Genannten wurde zur Last gelegt, er habe am 27. Februar 2011 in K***** Manuela S***** durch Versetzen eines Schlags mit der flachen Hand ins Gesicht, wodurch die Genannte eine Schädelprellung erlitt, vorsätzlich am Körper verletzt.
Die Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Zell am See am 19. Oktober 2011 (ON 14), bei der sich der Angeklagte nicht schuldig bekannte, wurde nach Einvernahme der Zeuginnen Carina T***** und Manuela S***** zur Vernehmung der Zeugin Stefanie A***** auf den 30. November 2011 vertagt (ON 14 S 8). Diesen Termin nahm der Angeklagte unter Ladungsverzicht zur Kenntnis. Entgegen seiner Zusicherung, verlässlich zu erscheinen (ON 14 S 8 f), blieb Michael G***** der Hauptverhandlung am 30. November 2011 unentschuldigt fern, weshalb zu seiner nachweislichen Ladung eine weitere Vertagung auf den 18. Jänner 2012 erfolgte (ON 17 S 4). Die Ladung zu diesem Termin wurde mit dem Vermerk „verzogen“ an das Bezirksgericht Zell am See retourniert (ON 20).
Nach Erhebung des aktuellen Aufenthalts von Michael G***** in der Justizanstalt Feldkirch (ON 21) veranlasste die Richterin mit Verfügung vom 3. Jänner 2012 (ON 1 S 1d f) die Reservierung eines Raumes für eine Videokonferenz für den 18. Jänner 2012, die Ladung des Angeklagten mit „Lad H1 (=Ladung des Beschuldigten zur Hauptverhandlung) z.T.“ sowie ein „Vorführersuchen des 01 (=Angeklagter) z.T. an JA Feldkirch per Fax“. Die von der Geschäftsabteilung (entgegen der richterlichen Verfügung) ausgefertigte „Ladung zu einer Vernehmung im Wege einer Videokonferenz“ (StPOForm Lad 14a), in der als Gegenstand die „Durchführung der Hauptverhandlung zu 30 U 83/11i (Vorfall vom 27. 2. 2011 in K*****)“ angeführt war, wurde vom Angeklagten am 4. Jänner 2012 übernommen (ON 24 S 1). Mittels von der Geschäftsabteilung an die Justizanstalt Feldkirch abgefertigter Note wurde diese von der Durchführung der Hauptverhandlung mittels Videokonferenz informiert und um Vorführung des Michael G***** in den dafür vorgesehenen Raum der Justizanstalt ersucht.
Zur Hauptverhandlung am 18. Jänner 2012 vor dem Bezirksgericht Zell am See (ON 26) erschien der Angeklagte nicht persönlich, sondern war im Wege einer Videokonferenz aus der Justizanstalt Feldkirch zugeschaltet (ON 26 S 1). Er bekannte sich auf diesem Weg weiterhin nicht schuldig, erklärte bei seiner bisherigen Verantwortung zu bleiben und stellte keine Fragen an die vor dem Bezirksgericht Zell am See vernommene Zeugin Stefanie A***** (ON 26 S 5). In seinem Schlusswort beantragte er einen Freispruch, anerkannte den von Manuela S***** geltend gemachten Privatbeteiligtenanspruch in Höhe von 800 Euro nicht und beantragte, vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu AZ 30 U 114/09w und AZ 30 U 97/10x des Bezirksgerichts Zell am See ohne Probezeitverlängerung abzusehen (ON 26 S 5).
Mit Urteil des Bezirksgerichts Zell am See vom 18. Jänner 2012 (ON 26 S 5 f) wurde der Angeklagte strafantragskonform des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Monaten verurteilt. Die Anrechnung der aktenkundigen (ON 22) Vorhaft im Verfahren AZ 16 Hv 129/11v des Landesgerichts Feldkirch nach § 38 Abs 1 Z 2 StGB unterblieb. Gemäß § 369 Abs 1 StPO wurden der Privatbeteiligten ‑ allerdings ohne Setzung einer Leistungsfrist (vgl 15 Os 171/10a; Fabrizy, StPO11 § 369 Rz 2) ‑ 300 Euro zugesprochen, mit den restlichen Ansprüchen wurde sie auf den Zivilrechtsweg verwiesen. Unter einem wurde vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu AZ 30 U 114/09w und zu AZ 30 U 97/10x des Bezirksgerichts Zell am See abgesehen und die Probezeit zu AZ 30 U 97/10x auf fünf Jahre verlängert.
Gegen dieses Urteil erhob die Staatsanwaltschaft Salzburg Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe sowie Beschwerde gegen das Absehen vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu AZ 30 U 114/09w und zu AZ 30 U 97/10x des Bezirksgerichts Zell am See (ON 28, 30).
Das Rechtsmittelverfahren ist zu AZ 43 Bl 80/12w des Landesgerichts Salzburg anhängig.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen die Durchführung der Hauptverhandlung am 18. Jänner 2012 und die Fällung eines Urteils in Abwesenheit des ‑ bloß mittels Videokonferenz aus der Justizanstalt Feldkirch zugeschalteten ‑ Angeklagten mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Die persönliche (idR § 250 StPO ununterbrochene) Anwesenheit in der Hauptverhandlung ist Recht, zugleich aber auch Pflicht des Angeklagten (§ 6 Abs 1 erster Satz StPO). Durch Gewährleistung seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung soll die persönliche Wahrnehmung der verfassungsgesetzlich garantierten Verteidigungsrechte sichergestellt werden (Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 1).
Im Hauptverhandlungsprotokoll vom 18. Jänner 2012 (ON 26) wird der Angeklagte zwar als „Anwesender“ „mittels Videokonferenz“ (ON 26 S 1) angeführt, das Erfordernis des persönlichen Erscheinens bei der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Zell am See war jedoch nicht erfüllt.
Die Möglichkeit der Beteiligung des Beschuldigten bei einer Verhandlung durch „Zuschaltung“ mittels technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung („Videokonferenz“) sieht die Strafprozessordnung nur für die Durchführung einer Haftverhandlung (§ 176 Abs 3 iVm § 153 Abs 4 StPO), nicht jedoch für die Hauptverhandlung vor. Im Übrigen ist der Einsatz einer Videokonferenz ausschließlich zur Durchführung von Vernehmungen und Verkündung einzelner Beschlüsse (§§ 153 Abs 4, 172 Abs 1, 247a StPO) vorgesehen. Die Befragung des Angeklagten in der Hauptverhandlung auf diesem Weg ist ‑ anders als im Ermittlungsverfahren in bestimmten Fällen ‑ nicht zulässig (Kirchbacher, WK‑StPO § 247a Rz 3).
Für den Fall des Nichterscheinens des Angeklagten bei der Hauptverhandlung ordnet § 427 Abs 1 erster Satz StPO an, dass bei sonstiger Nichtigkeit in seiner Abwesenheit die Hauptverhandlung nur dann durchgeführt und das Urteil gefällt werden darf, wenn es sich um ein Vergehen handelt, der Angeklagte gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde. Ist für das Gericht ersichtlich, dass dem Angeklagten ein (persönliches) Erscheinen bei Gericht zufolge eines „unabweisbaren Hindernisses“ verwehrt ist, so kommt ein Verfahren in Abwesenheit von vornherein nicht in Betracht (Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 14; Fabrizy, StPO11 § 427 Rz 12; RIS‑Justiz RS0101569).
Fallbezogen lagen die Voraussetzungen für die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nicht vor, weil dem Angeklagten ‑ für das Gericht erkennbar (ON 24) ‑ keine ordnungsgemäße Ladung zur Hauptverhandlung, die insbesondere auch eine Belehrung des Angeklagten über die im Falle seines Ausbleibens zu gewärtigenden Konsequenzen erfordert hätte (Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 11), persönlich zugestellt worden war. Darüber hinaus war die über die ordnungsgemäße Ladung hinaus zu veranlassende Vorführung des in Haft befindlichen Angeklagten zu der am Sitz des Gerichts stattfindenden Hauptverhandlung (§§ 221 Abs 3 iVm 455 StPO; vgl Fabrizy, StPO11 § 221 Rz 2; Danek, WK‑StPO § 221 Rz 14), die diesem das persönliche Erscheinen erst ermöglicht hätte, unterblieben. Der Angeklagte hat sein Recht auf Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht durch Ungehorsam gegen die gerichtliche Vorladung verwirkt (vgl RIS‑Justiz RS0101569).
Das Bezirksgericht Zell am See hätte daher gemäß § 427 Abs 2 StPO die Hauptverhandlung zu vertagen (§ 226 StPO) und die Vorführung des Michael G***** vor das erkennende Gericht im Wege der Justizanstalt Feldkirch zu veranlassen gehabt, um diesem die unmittelbare Teilnahme an der Hauptverhandlung zu ermöglichen.
Da ein aus dieser Gesetzesverletzung resultierender Nachteil für den Angeklagten nicht ausgeschlossen werden kann (§ 292 letzter Satz StPO), sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, das Urteil des Bezirksgerichts Zell am See sowie den unter einem gefassten Beschluss gemäß § 494a Abs 1 StPO aufzuheben und diesem Gericht die neue Verhandlung und Entscheidung aufzutragen. Mit ihrer Berufung und ihrer Beschwerde war die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung zu verweisen.
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