OGH 10ObS148/03t

OGH10ObS148/03t27.5.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Peter Ammer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Johann Ellersdorfer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Franziska W*****, geboren am 20. Mai 1997, ***** vertreten durch die Mutter Sieglinde W*****, ebendort, diese vertreten durch Prof. Dr. Kurt Dellisch, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei Land Kärnten, vertreten durch das Amt der Kärntner Landesregierung, Arnulfplatz 2, 9021 Klagenfurt, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Februar 2003, GZ 7 Rs 8/03f-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. Oktober 2002, GZ 34 Cgs 75/02d-9, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

1. Der Antrag der Klägerin, der Oberste Gerichtshof möge die Frage der Verfassungswidrigkeit der 180-Stunden-Grenze auch bei Vorliegen eines sonst festgestellten außerordentlichen Pflegebedarfs dem Verfassungsgerichtshof zur Prüfung vorlegen, wird zurückgewiesen.

2. Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 20. 5. 1997 geborene Klägerin hat im Rahmen des Geburtsgeschehens eine schwerwiegende Verletzung des Gehirns erlitten, infolge derer es zu einer Entwicklungsstörung und massiven Entwicklungsverzögerung gekommen ist. Derzeit ist eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit der Klägerin im Sinne eines verstehenden Kommunizierens nicht möglich. Einzelne Personen kann sie jedoch erkennen. Das motorische Verhalten ist durch eine spastische Lähmung gekennzeichnet. Die Motorik ist daher wenig flüssig und es können - vor allem auch im Zusammenhang mit der geistigen Entwicklungsstörung - keine komplexen Handlungen durchgeführt werden. Die ausgeprägte Störung der Rumpf- und Kopfkontrolle ermöglicht dem Kind zwar eine gewisse Kopfkontrolle, wenn es sitzend fixiert ist. Selbständig aufrichten oder rotieren in der Längsachse ist der Klägerin nicht möglich.

Die Klägerin kann sich selbständig weder aus- noch ankleiden; sie kann bei diesen Tätigkeiten auch nicht behilflich sein. Die tägliche Körperpflege muss zur Gänze an ihr durchgeführt werden. Mahlzeiten müssen zubereitet werden. Die Klägerin muss aktiv gefüttert werden. Auch eine selbständige Flüssigkeitsaufnahme ist nicht möglich. Die Verrichtung der Notdurft geschieht über Windelversorgung, sodass eine Reinigung wie bei Inkontinenz notwendig ist. Eine Anmeldung des Bedürfnisses ist nicht möglich.

Die Klägerin kann weder Nahrungsmittel noch Medikamente beischaffen, weder die Wohnung noch persönliche Gebrauchsgegenstände reinigen, kann keine Pflege der Leib- und Bettwäsche durchführen und bedarf der Mobilitätshilfe im engeren Sinn (beim Umlagern zur Vermeidung von Decubitus) und im weiteren Sinn (durch regelmäßige Teilnahme an Therapien, deren Ziel es ist, die Folgewirkung der Schädigung möglichst gering zu halten).

Die Betreuungsmaßnahmen sind koordinierbar. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht ist erforderlich. Ein gesundes gleichaltriges Kind kann sich - im Gegensatz zur Klägerin - durch Schreien mitteilen und konkret zu einem Problem äußern.

Das Land Kärnten hat der Klägerin mit Bescheid vom 13. 6. 2000 ab 1. 6. 2000 Pflegegeld der Stufe 2 zuerkannt.

Mit Bescheid vom 7. 3. 2002 hat die beklagte Partei das Pflegegeld ab 1. 2. 2002 auf Stufe 3 in Höhe von monatlich 413,50 EUR erhöht, sodass der Klägerin unter Anrechnung des anteiligen Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von 60 EUR ein monatlicher Betrag von 353,50 EUR gebührt.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuspruch von Pflegegeld zumindest der Stufe 6 ab 1. 2. 2002 gerichtete Klage ab. Entsprechend der Einstufungsverordnung zum Kärntner Pflegegeldgesetz bestehe folgender Pflegebedarf der Klägerin:

An- und Auskleiden 20 Stunden/Monat

Reinigung wie bei Inkontinenz 20 Stunden/Monat

Tägliche Körperpflege 25 Stunden/Monat

Einnehmen von Mahlzeiten 30 Stunden/Monat

Verrichtung der Notdurft 30 Stunden/Monat

Mobilitätshilfe im engeren Sinn 15 Stunden/Monat

140 Stunden/Monat

Dieser Gesamtbetreuungsbedarf entspreche der Einstufung in die Pflegegeldstufe 3. Das Zubereiten von Mahlzeiten, das Herbeischaffen von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche sowie die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn seien Verrichtungen, die auch ein gesundes 5-jähriges Kind nicht selbständig durchführen könne, weshalb der Aufwand dafür nicht als Pflegebedarf berücksichtigt werden könne. Da der Pflegebedarf der Klägerin keinesfalls mehr als 180 Stunden monatlich betrage, komme ihrem Bedarf nach ständiger Bereitschaft einer Pflegeperson bzw ständiger Beaufsichtigung keine Relevanz zu.

Das Berufungsgericht gab der (nur mehr) auf Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 5 gerichteten Berufung der Klägerin nicht Folge. Es bestätigte das angefochtene Urteil mit der Maßgabe, dass es das auf Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 6 gerichtete Klagebegehren abwies und die beklagte Partei im Sinne des angefochtenen Bescheides verpflichtete, der Klägerin ab 1. 2. 2002 ein Pflegegeld der Stufe 3 von 413,50 EUR monatlich unter Anrechnung des anteiligen Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von 60 EUR, somit 353,50 EUR monatlich zu gewähren. Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Berufungswerberin gegen die in § 4 Abs 2 KrntPGG (ebenso in § 4 Abs 2 BPGG) normierte Grundvoraussetzung eines Pflegebedarfs von mehr als 180 Stunden monatlich für die Stufen 5 bis 7 würden nicht geteilt. Es liege im rechtspolitischen Gestaltungsbereich des Gesetzgebers, dass Pflegegeldwerber, deren Grundpflegebedarf unter mehr als 180 Stunden monatlich liege, höhere Pflegegeldstufen nicht erreichen könnten, auch wenn sie die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung dieser Pflegegeldstufe erfüllten. Dass insbesondere kleine Kinder höhere Pflegegeldstufen deswegen nur schwer erreichen könnten, weil nach § 4 Abs 3 KrntPGG der natürliche Pflegebedarf, den auch gleichaltrige gesunde Kinder hätten, auszuscheiden sei, vermöge daran nichts zu ändern. Das Berufungsgericht teile zwar die Meinung der Berufungswerberin, dass die Einstufungsverordnungen und die Pflegegeldgesetze den Bedürfnissen von behinderten Kindern nicht wirklich Rechnung tragen bzw die einzelnen Bestimmungen zum Pflegebedarf eher den behinderten Erwachsenen gerecht werden, meine aber, dass entsprechende Anpassungen nicht durch Anrufung des Verfassungsgerichtshofes erreicht werden könnten, sondern Aufgabe der Gesetzgeber wären. Da die Klägerin mit ihrem unstrittigen Pflegebedarf von 140 Stunden monatlich die Grundvoraussetzung für ein Pflegegeld der Stufe 5, nämlich einen Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden monatlich, nicht erfülle, habe das Erstgericht zutreffend das auf ein über die Stufe 3 hinausgehende Begehren abgewiesen.

Die ordentliche Revision sei zulässig, da einige gleich gelagerte Fälle beim Obersten Gerichtshof anhängig seien.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinne eines Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 5. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Weiters wird beantragt, „die Frage der Verfassungswidrigkeit der 180-Stunden-Grenze auch bei Vorliegen eines sonst festgestellten außerordentlichen Pflegebedarfs dem Verfassungsgerichtshof zur Prüfung" vorzulegen.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts ist zutreffend (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO).

Die Revisionswerberin meint, die gesetzliche Regelung, wonach für den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 5 außer dem Erfordernis einer zumindest dauernden Breitschaft von Pflegepersonen auch noch ein Pflegebedarf von (mehr als) 180 Stunden monatlich erforderlich sei, widerspreche dem Sachlichkeitsgebot des Gleichheitsgrundsatzes. Sicherlich könnten Gerichte gesetzliche Bestimmungen nicht ändern und es sei letzten Endes Sache des Gesetzgebers, hier eine Änderung zu schaffen. Wenn aber der Gesetzgeber aus welchen Gründen immer, beispielsweise aus finanziellen Erwägungen, eine sachliche Regelung für Sonderfälle wie den vorliegenden nicht vornehme, dann müsse dies eben durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes veranlasst werden. Wohl könne der Oberste Gerichtshof nicht entscheiden, dass eine Verfassungswidrigkeit vorliege; es stelle sich aber die Frage, ob er auch ohne Anrufung des Verfassungsgerichtshofes entscheiden könne, dass keine Verfassungswidrigkeit gegeben sei.

Ein Recht, vom Obersten Gerichtshof die Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof auf Aufhebung eines Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit oder einer Verordnung wegen Gesetzeswidrigkeit zu begehren, steht einer Partei nicht zu (SSV-NF 4/153, 9/34 ua). Der diesbezügliche Antrag der Revisionswerberin ist daher zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0053805 [T13]).

Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass das Pflegegeld den Zweck hat, in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten. Da Kinder Hilfe und Betreuung im Sinne der Pflegegeldgesetze auch ohne Zusammenhang mit einer Behinderung benötigen, ist bei der Beurteilung des Pflegebedarfs bei Kindern nur jenes Maß an Betreuung und Hilfe zu berücksichtigen, das über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht (§ 4 Abs 3 KrntPGG; RIS-Justiz RS0106555 [T14]). Damit wird naturgemäß - soweit nicht in dem besonderen Ausnahmefall bei taubblinden Personen eine diagnosebezogene Einstufung nach § 4a Abs 6 KrntPGG zu einer höheren Einstufung führt - der Zugang von Kindern zu den Pflegegeldstufen 5 - 7 eingeschränkt, weil sie den dafür erforderlichen Pflegebedarf von 180 Stunden schwer erreichen. Dies ist jedoch Folge des Umstands, dass das Pflegegeld nur einen pauschalierten Beitrag zu pflegebedingten Mehraufwendungen leisten soll. Das Ausmaß des Betreuungs- und Hilfsbedarfs bei einem völlig gesunden Kleinkind entspräche letztlich den für die Stufen 5 und 6 aufgestellten Voraussetzungen (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich [1994] 172). Dieser Personenkreis sollte aber gerade nicht von den Pflegegeldgesetzen erfasst werden, auch wenn Kleinkinder für den Fall des Fehlens der dauernden Bereitschaft oder Anwesenheit einer Pflegeperson der Verwahrlosung ausgesetzt wären. Auch daraus ist abzuleiten, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Pflegegeldvoraussetzungen bei den Stufen 5 - 7 nicht zwischen Erwachsenen und Kindern differenzieren will, weil bei beiden Gruppen letztlich der pflegebedingte Mehraufwand gegenüber vergleichbaren gesunden Personengruppen maßgebend ist. Soweit auch ein gesundes Kind der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson bedarf wäre das entsprechende Erfordernis bei einem behinderten Kind nicht als plegegeldrelevanter Mehraufwand anzusehen.

In diesem Sinn vermag der Oberste Gerichtshof in der Regelung des Kärntner Landespflegegeldgesetzes keine Sachwidrigkeit zu erkennen, die eine Verfassungswidrigkeit wegen Verletzung des Gleichheitssatzes nach sich zöge, zumal nicht jede subjektiv als ungerecht empfundene einfachgesetzliche Regelung den Gleichheitssatz verletzt. Wie bei Erwachsenen (dazu RS0107439 [T1]; SSV-NF 10/135; SSV-NF 14/72 ua) ist daher auch bei Kindern Grundvoraussetzung für den Zugang zu den Pflegegeldstufen 5 - 7, dass zusätzlich zu dem bei den Stufen 5 - 7 angeführten qualifizierten Pflegeaufwand ein Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden monatlich gegeben ist (10 ObS 404/98d = ARD 5042/36/99; RIS-Justiz RS0109571 [T8]; zuletzt etwa 10 ObS 309/02t, 10 ObS 51/03b und 10 ObS 53/03x). Das Rechtsmittelgericht trifft nicht schon dann, wenn eine Partei Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes äußert, die Verpflichtung zur Antragstellung an den VfGH. Es hat vielmehr als Vorfrage das Vorliegen solcher vorliegender relevanter Gründe selbständig zu beurteilen (RIS-Justiz RS0053638). Hegt das Gericht - wie hier - keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer Gesetzesbestimmung, besteht kein Anlass zur Antragstellung gemäß Art 140 B-VG.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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