OGH 10ObS59/24k

OGH10ObS59/24k10.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Annerl und die Hofrätin Dr. Wallner‑Friedl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch die Korn & Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 11. April 2024, GZ 12 Rs 39/24 b‑39, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. Dezember 2023, GZ 18 Cgs 289/22s‑33, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00059.24K.0910.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 502,70 EUR (darin 83,78 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Kläger unter Berücksichtigung von Zeiten als Vollversicherter aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigungen nach dem ASVG Anspruch auf eine Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG hat.

[2] Der im Jahr 1961 geborene Kläger erwarb in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag neun Versicherungsmonate als selbständiger Tischler nach dem GSVG, fünf Monate als unselbständiger Tischler nach dem ASVG, 15 Versicherungsmonate als Vollversicherter aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigung nach dem ASVG, nämlich aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung als Tischler und aufgrund einer weiteren geringfügigen Beschäftigung als Hausbesorger. Zusätzlich erwarb er 104 Versicherungsmonate bis zum Stichtag 1. September 2022 bzw 107 Versicherungsmonate bis 30. November 2022 als ungelernter Haus- und Gebäudebetreuer, wobei etwa 10 % seiner Tätigkeit Tischlerarbeiten waren.

[3] Dem Kläger ist die Tätigkeit als Hausbesorger nicht mehr zumutbar. Der Kläger ist unter der Annahme eines Tätigkeitsschutzes auch nicht mehr verweisbar.

[4] Berufsschutz als Tischler besteht unstrittig nicht.

[5] Mit Bescheid vom 7. November 2022 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 31. August 2022 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab und sprach weiters aus, dass kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

[6] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. September 2022. Aufgrund seiner Leiden sei er invalid. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag habe er mehr als 120 Kalendermonate als Hausverwalter/Hausmeister gearbeitet, weshalb ein Tätigkeitsschutz gemäß § 255 Abs 4 ASVG bestehe.

[7] Die Beklagte hielt dem entgegen, dem Kläger komme kein Berufsschutz zu. Sein Leistungskalkül reiche aus, um die bisherigen Tätigkeiten und diverse Verweisungstätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Invalidität liege nicht vor.

[8] Das Erstgericht wies die Klage ab. Es lägen keine 120 Versicherungsmonate einer Tätigkeit in den letzten 180 Monaten vor, weshalb § 255 Abs 4 ASVG nicht zum Tragen komme. Selbst wenn infolge der mehrfachen geringfügigen Beschäftigungen eine Beitragszeit für die Pensionsversicherung erworben worden sei, habe der Kläger die geringfügige Beschäftigung als Hausmeister nicht überwiegend ausgeübt. Da der Kläger zumindest noch eine Verweisungstätigkeit ausüben könne, liege Invalidität nicht vor.

[9] Das Berufungsgericht gab der dagegen vom Kläger erhobenen Berufung teilweise Folge, änderte das angefochtene Urteil teilweise ab und sprach aus, dass der Kläger dem Grunde nach Anspruch auf Gewährung einer Invaliditätspension ab 1. November 2022 habe. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren wies es rechtskräftig ab. Bei paralleler Ausübung mehrerer Tätigkeiten sei die Gesamttätigkeit maßgebend, sodass die geringfügigen Beschäftigungen als Hausbetreuer und Tischler einerseits und die Tätigkeit als Hausbetreuer, der auch Tischlerarbeiten verrichtete, andererseits als „eine Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG anzusehen seien. Die Voraussetzung der Ausübung dieser einen Tätigkeit in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag in mindestens 120 Kalendermonaten sei jedoch erst mit November 2022 erfüllt.

[10] Die Revision ließ das Berufungsgericht mit der Begründung zu, der Oberste Gerichtshof habe zur Frage, ob Zeiten einer mehrfach geringfügigen Beschäftigung als Zeiten einer Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG anzusehen seien, noch nicht ausdrücklich Stellung genommen.

[11] Dagegen richtet sich die ordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Wiederherstellung des Ersturteils anstrebt. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

[12] Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

[14] 1.1. Als invalid gilt gemäß § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG der (die) Versicherte, der (die) das 60. Lebensjahr vollendet hat, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er (sie) in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen.

[15] Dabei handelt es sich nicht um einen Arbeitsplatzschutz, sondern um eine – besondere – Form des Berufsschutzes (10 ObS 367/02x ua), dies im Sinn eines „Tätigkeitsschutzes“ (RS0087658 [T3, T4]; 10 ObS 71/14k). § 255 Abs 4 ASVG stellt nicht auf die Anforderungen an einem bestimmten Arbeitsplatz ab, sondern auf die „Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt (RS0087658 [T2]; RS0087659 [T9]).

[16] 1.2. Die Rechtsprechung legt an das Kriterium der „einen Tätigkeit“ keine allzu strengen Maßstäbe an und versteht das Wort „eine“ nicht als Zahlwort. Vielmehr können mehrere, unter Bedachtnahme auf die wesentlichen Tätigkeitselemente (den „Kernbereich“) sehr ähnliche Tätigkeiten zu „einer Tätigkeit“ zusammengefasst werden (RS0117063 [T2]).

[17] 1.3. Auch dann, wenn mehrere Tätigkeiten parallel ausgeübt werden, ist für die Charakterisierung der „einen Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG die Gesamttätigkeit maßgeblich (RS0125929).

[18] 2.1. Für die Erfüllung des im § 255 Abs 4 ASVG vorgesehenen Tätigkeitszeitraums von mindestens 120 Kalendermonaten in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag sind auch gleichartige, nach dem GSVG versicherte selbständige Tätigkeiten zu berücksichtigen (RS0119740), wenn auch Zeiten einer unselbständigen Beschäftigung nach dem ASVG vorliegen (RS0119740 [T1]). So können auch Beitragsmonate aufgrund eines freien Dienstvertrags gemäß § 4 Abs 4 ASVG für § 255 Abs 4 ASVG heranzogen werden, weil durch sie die Pflichtversicherung im leistungszuständigen ASVG‑System begründet wird (10 ObS 135/22h Rz 24 mwN).

[19] 2.2. § 255 Abs 4 ASVG differenziert nicht nach der Höhe des vom Versicherten für seine Tätigkeit erzielten Entgelts oder nach dem Ausmaß der Tages- oder Wochenarbeitszeit für diese Beschäftigung, somit ob diese in Vollzeit oder in Teilzeit ausgeübt wurde (10 ObS 18/10k [ErwGr 3.4] = RS0085103 [T2]).

[20] 2.3. Der Gesetzgeber setzt aber auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG – wie in jenem des § 255 Abs 3 ASVG – das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit als selbstverständlich voraus (10 ObS 135/22h Rz 37 unter Verweis auf 10 ObS 44/21z Rz 30). Die Ausübung einer Tätigkeit lediglich im geringfügigen Ausmaß genügt somit nicht, weil der Abschluss einer Selbstversicherung gemäß § 19a ASVG freiwillig erfolgt und jegliche Einbindung in das System der Pensionsversicherung fehlt (10 ObS 135/22h Rz 37). Auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG können somit Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung (wie zB der Selbstversicherung gemäß § 19a ASVG), die nicht die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründen, nicht als Monate gewertet werden, in denen die versicherte Person eine „Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG ausgeübt hat (10 ObS 135/22h Rz 38).

[21] 2.4. Im hier vorliegenden Fall war der Kläger aber aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigungen nach dem ASVG (§ 5 Abs 1 Z 2) im betreffenden Zeitraum auch in der Pensionsversicherung pflichtversichert. Die nötige Einbindung in das System der Pensionsversicherung liegt somit auch für diese Beitragszeiten vor, weshalb diese Zeiten nach § 255 Abs 4 ASVG zu berücksichtigen sind.

[22] 3.1. Die Rechtsprechung, wonach unter dem Begriff der „einen“ Tätigkeit nicht nur eine einzige (einheitliche) Tätigkeit zu verstehen ist, sondern auch bei mehreren ausgeübten Tätigkeiten – unter Bedachtnahme auf die wesentlichen Tätigkeitselemente (den Kernbereich) – sehr ähnliche Tätigkeiten zu einer Tätigkeit zusammengefasst werden können (RS0117063 [T2]), ist für den hier vorliegenden Fall, wo beide Tätigkeiten, nämlich sowohl die Tätigkeit als Tischler, als auch jene als Hausbesorger über den nötigen Zeitraum hinweg parallel ausgeübt wurden, nicht einschlägig. Es kommt somit auch entgegen der Ansicht der Revision nicht darauf an, ob die beiden Tätigkeiten miteinander vergleichbar sind oder die wesentlichen Tätigkeitselemente der verrichteten Tätigkeiten übereinstimmen (vgl dazu mwN 10 ObS 143/06m), wurden doch diese nicht nacheinander oder abwechselnd, sondern stets beide gleichzeitig ausgeübt und sind somit die Tätigkeit als Tischler und die Tätigkeit als Hausbesorger sowie in der Folge die Tätigkeit als Hausbesorger, der auch teilweise Tischlerarbeiten verrichtete, als eine Gesamttätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG (vgl RS0117063 [T10]) anzusehen.

[23] 3.2. Dies steht auch in Einklang mit der Entscheidung 10 ObS 18/10k. Im dortigen Fall lag bei Charakterisierung der Gesamttätigkeit der zeitliche und arbeitsumfängliche Schwerpunkt der „kombinierten“ Tätigkeit ganz eindeutig bei der Nicht‑Hausbesorgertätigkeit und konnte aus der umfänglich nur zu einem kleinen Teil gleichen Tätigkeit (nämlich als Hausbesorger) nicht abgeleitet werden, dass zwei völlig verschiedene Haupttätigkeiten, die nicht parallel verrichtet wurden, nämlich die Tätigkeit als Elektrohelfer und Hausbesorger mit der zu anderen Zeiten ausgeübten Tätigkeit als Maler(‑gehilfe) und Hausbesorger als „eine Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG anzusehen wäre. Im dortigen Fall erreichte die jeweils zusammen zu zählende Gesamttätigkeit aber nicht die nötige Dauer von 120 Kalendermonaten.

[24] 3.3. Dem Kläger ist nach den Feststellungen die Tätigkeit als Hausbesorger nicht mehr zumutbar und ist er unter der Annahme eines Tätigkeitsschutzes auch nicht mehr verweisbar. Dass der Kläger noch auf Tätigkeiten als Tischler verweisbar wäre, behauptet die Revision nicht; zudem wäre Voraussetzung für die Verweisbarkeit auf eine (auf dem Arbeitsmarkt nachgefragte) Teiltätigkeit der bisherigen Tätigkeit, dass dieser Teiltätigkeit weder nach der Gewichtung im Arbeitsverlauf, noch nach ihrem zeitlichen Umfang nur eine untergeordnete Bedeutung in der bisher ausgeübten „einen“ Tätigkeit zugekommen ist (RS0100022 [T13, T33]). Da die Tischlerarbeit seit 2011 nur etwa 10 % der gesamten Tätigkeit betrug, käme somit eine Verweisung in diesem Bereich ohnehin nicht in Frage.

[25] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.

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