OGH 10ObS39/24v

OGH10ObS39/24v9.7.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Dr. Helmut Graupner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Waisenpension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. August 2023, GZ 6 Rs 25/23 b‑22, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 10. Jänner 2023, GZ 30 Cgs 136/22g‑11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00039.24V.0709.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wirdzurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Die Mutter der Klägerin lebte mit M* in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft. Während aufrechter Lebensgemeinschaft brachte die Mutter der Klägerin im Wege der künstlichen Befruchtung die Klägerin und zwei weitere Kinder zur Welt, die die beiden Frauen – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung – im gemeinsamen Haushalt aufzogen.

[2] Beide Frauen waren Elternteil für die Kinder. Die Beziehung der Kinder war auch zu beiden Elternteilen im selben Maß ausgeprägt.

[3] Die beiden Frauen gingen niemals eine Ehe oder eine eingetragene Partnerschaft ein. Die Kinder wurden von M* auch nie adoptiert. Ihnen war die Möglichkeit einer (gleichgeschlechtlichen) Ehe oder eingetragenen Partnerschaft zwar bekannt. Dass sie nicht verheiratet waren oder in einer eingetragenen Partnerschaft lebten, war ihnen letztlich aber nicht wichtig.

[4] M* verstarb im Oktober 2018.

[5] Mit Bescheid vom 31. Mai 2022 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den auf Gewährung der Waisenpension nach M* gerichteten Antrag der damals noch minderjährigen Klägerin mangels Kindeseigenschaft ab.

[6] MitihrerKlage begehrt die Klägerin, ihr ab 1. Juni 2022 die Waisenpension nach M* in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

[7] Die Vorinstanzen schlossen sich der Ansicht der Beklagten an und wiesen die Klage ab. Stiefkinder seien nach § 123 Abs 3 ASVG nur die (leiblichen) Kinder des Ehegatten oder eingetragenen Partners, nicht aber die Kinder eines Lebensgefährten. Diese Definition gelte auch für die in § 252 Abs 1 Z 4 ASVG genannten Stiefkinder, sodass die Klägerin nicht zu den Anspruchsberechtigten zähle. Das sei nicht unsachlich oder diskriminierend, weil nicht zwischen den Kindern gleich- und verschiedengeschlechtlicher Paare differenziert werde.

[8] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Auslegung des § 252 Abs 1 Z 4 iVm § 260 ASVG noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die – von der Beklagten nicht beantwortete – Revision der Klägerin ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

[10] Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn das Gesetz selbst eine klare, das heißt eindeutige Regelung trifft (RS0042656). Entgegen der Ansicht der Klägerin ist das bei § 252 Abs 1 Z 4 ASVG der Fall.

[11] 1. Anspruch auf Waisenpension haben nach dem Tod des (der) Versicherten die Kinder im Sinn des § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 und Abs 2 ASVG (§ 260 ASVG).

[12] Nach dem verwiesenen § 252 Abs 1 Z 4 ASVG gelten auch Stiefkinder als Kinder (sofern sie mit dem Versicherten ständig in Hausgemeinschaft leben), ohne dass darüber Aufschluss gegeben wird, was unter „Stiefkindern“ zu verstehen ist.

[13] Eine Definition findet sich dagegen in § 123 Abs 3 ASVG. Bis zum 2. SVÄG 2013 (BGBl I 2013/139) waren Stiefkinder einer Person nur die nicht von ihr abstammenden leiblichen Kinder ihres Ehegatten. Seit der Novellierung lautet § 123 Abs 3 erster Satz ASVG:

Stiefkinder einer Person sind die nicht von ihr abstammenden leiblichen Kinder ihrer Ehegattin/ihres Ehegatten oder ihrer eingetragenen Partnerin/ihres eingetragenen Partners, und zwar auch dann, wenn der andere leibliche Elternteil des Kindes noch lebt.

[14] 2. Auf dieser Grundlage argumentiert die Klägerin, es gäbe keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber in § 252 Abs 1 Z 4 ASVG den Kreis der bezugsberechtigten Stiefkinder in gleicher Weise einschränken habe wollen wie in § 123 Abs 3 ASVG. Die Ansicht der Vorinstanzen führe zu einem unsachlichen, dem Kindeswohl widersprechenden und vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis, weil sich die Situation von Kindern, deren leiblicher Elternteil in einer Lebensgemeinschaft mit einem Partner lebe, bezüglich der Waisenpensionnicht anders darstelle als die von Stiefkindern iSd § 123 Abs 3 ASVG. Denn weder seien „echte“ Stiefkinder gegenüber dem Stiefelternteil unterhaltsberechtigt, noch bestehe ein gradueller Unterschied hinsichtlich der Intensität des Zusammenlebens und des Zusammengehörigkeitsgefühls. Angesichts dessen habe der Gesetzgeber Stiefkinder in § 252 Abs 1 Z 4 ASVG bewusst offen bzw nicht so eng definiert wie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 123 Abs 3 ASVG).

[15] Damit spricht die Klägerin keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO an.

[16] 3. Kernprämisse ihrer Argumentation ist, dass die Beschränkung der Anspruchsberechtigten auf Stiefkinder iSd § 123 Abs 3 ASVG im Zusammenhang mit der Waisenpension nicht gewollt sei. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.

[17] 3.1. Die Änderung des § 123 Abs 3 ASVG durch das 2. SVÄG 2013 war direkte Folge der Entscheidung des EGMR vom 19. Februar 2013, 19010/07, X ua gegen Österreich. Nach den Gesetzesmaterialien sollte den Vorgaben dieses Urteils durch „eine Neudefinition des sozialversicherungsrechtlichen Stiefkind-Begriffs durch ausdrückliche Bezugnahme auf die eingetragene Partnerschaft“ in § 123 Abs 3 ASVG und den entsprechenden Bestimmungen der „Parallelgesetze“ (§ 83 Abs 3 GSVG, § 78 Abs 3 BSVG und des neu geschaffenen § 56 Abs 2a B-KUVG) entsprochen und damit die „Öffnung der Waisenrente für Kinder eingetragener PartnerInnen“ erreicht werden (AB 2508 BlgNR 24. GP , 3). Dass die Definitionsystematisch in den jeweils die Krankenversicherung betreffenden Gesetzesabschnitten eingebettet wurde, ändert nichts daran, dass sie nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers auch für den Bereich der Waisenpension relevant sein soll (besonders deutlich zeigt das § 119 Abs 1 Z 4 BSVG, der sogar ausdrücklich auf § 78 Abs 3 BSVG verweist). Die gewählte Regelungstechnik trägt auch der herrschenden Ansicht Rechnung, die die Definition des § 123 Abs 3 ASVG auch in der Pensionsversicherung anwendet (vgl Panhölzl in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Komm § 252 ASVG Rz 18; Marek in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG § 252 Rz 7). Des Rückgriffs auf die vom Berufungsgericht grundsätzlich zu Recht ins Treffen geführte Rechtsprechung, wonach ein in einem Gesetz mehrfach verwendeter Ausdruck im Zweifel jeweils dasselbe bedeutet (RS0008797), bedarf es angesichts dieser eindeutigen Regelung (gar) nicht.

[18] 4. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie, unvollständig ist (RS0098756 [T4]), weil der Gesetzgeber den Kreis der Anspruchsberechtigten nur versehentlich zu eng gefasst respektive auf Stiefkinder von (Ehegatten und) eingetragenen Partnern beschränkt hätte (vgl RS0008866 [T10, T27]).

[19] 4.1. Der Oberste Gerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber mit der Waisenpension die Absicht verfolgt, Versorgungsansprüche eines Kindes zu erhalten und nicht neu zu schaffen (vgl RS0113891; 10 ObS 137/23d Rz 18). Zweck der Waisenpension ist daher, den Lebensunterhalt eines Waisen nach dem Tod des bisher Unterhalt Leistenden an dessen Stelle zu sichern (10 ObS 67/18b ErwGr 3.2.; Neumayr in SV‑Komm § 260 ASVG Rz 2 ua). Das scheidet bei Stiefkindern rechtlich gesehen aus, weil sie gegenüber dem Verstorbenen nicht unterhaltsberechtigt waren. § 260 iVm § 252 Abs 1 Z 4 ASVG ist daher eine Ausnahme von der allgemeinen Regel und dementsprechend nicht ausdehnend auszulegen (RS0008903).

[20] 4.2. Dazu kommt, dass die bloße – wenn auch noch so lange und bis zum Tod des Versicherten dauernde – nichteheliche Lebensgemeinschaft dem hinterbliebenen Partner keinen Anspruch auf Witwenpension eröffnet (RS0085158; 10 ObS 118/23k Rz 7 ua), weil sie Ersatz für den Entfall einer Unterhaltsleistung sein soll und eine Unterhaltsverpflichtung unter Lebensgefährten nicht besteht (RS0116507 [T3]; 10 ObS 132/16h ErwGr 1. ua). Es wäre aber ein Wertungswiderspruch, wenn aus einer Lebensgemeinschaft zwar das (leibliche) Kind des Lebensgefährten, nicht aber dieser selbst einen Anspruch auf eine Hinterbliebenenpension ableiten könnte.

[21] 5.1. Die von der Klägerin behauptete Erstreckung des Begriffs des Stiefkindes auf Kinder von Lebensgefährten hat der Gesetzgeber somit – wie hier den Gesetzesmaterialien zu entnehmen ist – „ausdrücklich“ nicht angeordnet, sodass es an der Grundvoraussetzung für die von der Revision angestrebten ergänzende Rechtsfindung fehlt (vgl RS0008866 [T8, T13]; RS0008870 [T4]). In einem solchen Fall können auch auf rechtspolitisch vielleicht wünschenswerte Ergebnisse gestützte Überlegungen keine extensive Auslegung des Gesetzes rechtfertigen (vgl RS0008859; RS0008768 [T1]; RS0098756 [T3, T10]). Vermeintlich unbefriedigende, aber eindeutige Gesetzesbestimmungen zu ändern, ist nicht Sache der Rechtsprechung (vgl RS0009099; RS0098756 [T3, T5]).

[22] 5.2. Die Verfassungskonformität des § 123 Abs 3 ASVG bezweifelt die Klägerin nach Zurückweisung ihres Parteienantrags durch den Verfassungsgerichtshof (Beschluss vom 13. Juni 2023, G 163/2023 = iFamZ 2023/181) nicht mehr.

[23] 6. Angesichts der völlig eindeutigen Gesetzeslage wirft die Auslegung des § 252 Abs 1 Z 4 iVm § 260 und § 123 Abs 3 ASVG somit keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf.

[24] 7. Zwar kann ein Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG auch dann erfolgen, wenn das Berufungsgericht die ordentliche Revision zugelassen hat, der Oberste Gerichtshof diese jedoch mangels einer Rechtsfrage iSd § 502 ZPO zurückweist (RS0085898 [T2]). Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden jedoch nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

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