European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00082.23S.0709.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Sozialrecht, Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht aufgetragen, über den Antrag der beklagten Partei, den Kläger dazu zu verpflichten, das ihm anlässlich der Geburt des Kindes L* gewährte Kinderbetreuungsgeld in der Höhe von insgesamt 1.300 EUR binnen vier Wochen an die beklagte Partei zurückzuzahlen, unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund zu entscheiden.
Begründung:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Verpflichtung des Sozialgerichts, im Verfahren über den Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld aufgrund der materiellen Berechtigung des Rückersatzanspruchs des beklagten Krankenversicherungsträgers dem Kläger nach § 89 Abs 4 ASGG den Rückersatz aufzuerlegen.
[2] Der Kläger ist der Vater des am 21. 4. 2020 geborenen Kindes L*. Ihm wurde für den Zeitraum von 21. 4. 2021 bis 20. 7. 2021 pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto in Höhe von 33,88 EUR täglich ausgezahlt.
[3] Mit Bescheid vom 9. 11. 2021 sprach die Beklagte aus, aufgrund des nicht rechtzeitigen Nachweises der vorgeschriebenen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen reduziere sich der Anspruch um 1.300 EUR, hiervon seien bereits 338,80 EUR einbehalten worden, es hafte ein Betrag von 961,20 EUR aus. Dieser sei binnen vier Wochen zu überweisen.
[4] Dagegen richtet sich die am 6. 12. 2021 erhobene Klage, in der der Kläger vorbringt, sämtliche Nachweise gemäß § 7 Abs 2 KBGG erbracht zu haben.
[5] Die Beklagte beantragte die Klageabweisung sowie den Ausspruch der Verpflichtung des Klägers, das ihm anlässlich der Geburt des Kindes gewährte Kinderbetreuungsgeld in Höhe von insgesamt 1.300 EUR zurückzuzahlen. Sie hielt dem Klagebegehren entgegen, die Nachweise der siebten bis zehnten Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung seien erst mit der Klage und daher verspätet vorgelegt worden, sodass sich der Anspruch des Klägers auf Kinderbetreuungsgeld um 1.300 EUR reduziere.
[6] Das Erstgericht wies den Antrag der Beklagten, den Kläger zur Rückzahlung des Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von 1.300 EUR zu verpflichten, mit Beschluss zurück und wies im Übrigen die Klage auf Feststellung, dass sich der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht um 1.300 EUR reduziere und die Beklagte schuldig sei, das zuerkannte Kinderbetreuungsgeld ohne Kürzung um 338,80 EUR auszuzahlen, ab.
[7] Rechtlich führte es aus, mangels rechtzeitigen Nachweises der in § 7 Abs 2 KBGG vorgesehenen Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen reduziere sich der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nach § 3 Abs 4 KBGG um 1.300 EUR. Der Rückforderungsanspruch der Beklagten bestehe daher materiell zu Recht. Ungeachtet dessen bestehe infolge der Teilaufhebung einer Wortfolge in § 89 Abs 4 Satz 1 ASGG durch den Verfassungsgerichtshof für die unter § 65 Abs 1 Z 2 ASGG fallende Rechtsstreitigkeit über den Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld keine prozessrechtliche Grundlage dafür, den Kläger zu einer Leistung an die Beklagte zu verpflichten. § 89 Abs 4 ASGG idF BGBl I 2022/61 sehe zwar wieder eine Rückzahlungsverpflichtung vor, komme aber gemäß § 98 Abs 31 ASGG nicht zur Anwendung, weil die Klage vor dem 30. 4. 2022 eingebracht worden sei.
[8] Die Beklagte erhob Rekurs gegen den Beschluss auf Zurückweisung ihres Antrags.
[9] Die Abweisung des Klagebegehrens erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
[10] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Beklagten nicht Folge und bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Es ließ den Revisionsrekurs zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auferlegung einer Rückersatzpflicht durch das Gericht in Fällen der Unanwendbarkeit von § 89 Abs 4 ASGG idF vor Inkrafttreten der Teilaufhebung von § 89 Abs 4 erster Satz ASGG durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs G 264/2019 und Unanwendbarkeit von § 89 Abs 4 ASGG idF BGBl I 2022/61 vorliege.
[11] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Beklagten, mit dem sie die Abänderung des angefochtenen Beschlusses dahin, dass die Verpflichtung des Klägers zum Rückersatz ausgesprochen werde, anstrebt.
[12] Der Kläger beteiligte sich nicht am Revisionsrekursverfahren.
Rechtliche Beurteilung
[13] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig, er ist auch berechtigt.
1. Zur Zulässigkeit des Revisionsrekurses im Lichte des § 528 Abs 2 Z 2 ZPO
[14] 1.1. Es ist anerkannt, dass Entscheidungen, die einer Klagezurückweisung ohne Sachentscheidung aus formellen Gründen iSd § 528 Abs 2 Z 2 ZPO gleichkommen, weil sie in vergleichbarer Weise zu einer Verweigerung des Anspruchs auf Sacherledigung führen, mit Revisionsrekurs anfechtbar sind (Musger in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ § 528 Rz 59). Dies trifft etwa auf die Bestätigung der Zurückweisung eines Zwischenantrags auf Feststellung (RS0119816; RS0118457) zu.
[15] 1.2. Hier beantragt die Beklagte gemäß § 89 Abs 4 Satz 1 ASGG wegen des Bestehens einer Rückersatzpflicht, unter einem mit der Klageabweisung den Kläger zum Rückersatz der empfangenen Leistung zu verpflichten. Die Zurückweisung dieses Antrags aus prozessualen Gründen bewirkt, dass die Beklagte im anhängigen Verfahren ihr auf die Schaffung eines Exekutionstitels gerichtetes Rechtsschutzziel nicht mehr verfolgen kann. Die Zurückweisung ihres Antrags ist daher der Zurückweisung einer Klage aus formellen Gründen gleichzuhalten. Die Bestätigung der Zurückweisung ihres Antrags ist daher analog § 528 Abs 2 Z 2 ZPO anfechtbar.
2. Zur Auferlegung des Rückersatzes nach § 89 Abs 4 ASGG
[16] 2.1. Nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG sind Rechtsstreitigkeiten über den Rückersatz einer zu Unrecht erbrachten Versicherungsleistung oder eines zu Unrecht erbrachten Pflegegeldes Sozialrechtssachen. Von § 65 Abs 1 Z 2 ASGG sind auch Streitigkeiten über den Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld erfasst (Klammerverweis auf Z 8; vgl Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm³ § 65 Rz 13). Der Rückersatzwerber hat einen Bescheid zu erlassen, den der Gegner mit Klage bekämpfen kann (Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm³ § 65 Rz 14). Das Klagebegehren hat auf Feststellung zu lauten, dass die Pflicht zum Rückersatz nicht besteht (RS0084315; vgl RS0109892; Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm³ § 65 Rz 15).
[17] Nach § 71 Abs 1 ASGG tritt der Bescheid hinsichtlich des von der Klage betroffenen Anspruchs durch die Klageerhebung außer Kraft (vgl RS0085721 [T1]). Aus diesem Grund ist die Anordnung des § 89 Abs 4 ASGG notwendig (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1992] 536; vgl M. K. Greifeneder, Kognitionsbefugnis in Rückersatzfragen verfassungswidrig – zugleich ein Vorschlag zur Neugestaltung, JAS 2021, 195 [206]): Das Sozialgericht hat daher im Fall der Abweisung der negativen Feststellungsklage – wenn also der Rückersatzanspruch materiell zu Recht besteht – unter einem einen Rückzahlungsausspruch zu treffen.
[18] 2.2. § 89 Abs 4 ASGG idF vor der mit BGBl I 2021/21 kundgemachten Aufhebung einer Wortfolge in Satz 1 dieser Bestimmung lautete:
„Wird in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 oder über die Kostenersatzpflicht des Versicherten nach § 65 Abs 1 Z 5 die Klage abgewiesen, weil eine Rückersatz- oder Kostenersatzpflicht des Klägers besteht, so ist ihm unter einem der Rück(Kosten)ersatz an den Beklagten aufzuerlegen. Hiebei ist die Leistungsfrist unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht die Zahlung auch in Raten anordnen.“
[19] 2.3. Mit Erkenntnis G 264/2019 vom 11. 12. 2020 hob der Verfassungsgerichtshof über einen Normenkontrollantrag nach Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG die Wortfolgen „nach § 65 Abs 1 Z 2 oder“ sowie „Rückersatz- oder“ und „Rück(“ sowie das Zeichen „)“ in § 89 Abs 4 ASGG mit Ablauf des 31. 12. 2021 auf und sprach aus, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht in Kraft treten.
[20] § 89 Abs 4 ASGG idF der mit BGBl I 2021/21 kundgemachten Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof lautet:
„Wird in einer Rechtsstreitigkeit über die Kostenersatzpflicht des Versicherten nach § 65 Abs 1 Z 5 die Klage abgewiesen, weil eine Kostenersatzpflicht des Klägers besteht, so ist ihm unter einem der Kostenersatz an den Beklagten aufzuerlegen. Hiebei ist die Leistungsfrist unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht die Zahlung auch in Raten anordnen.“
[21] 2.4. Der Verfassungsgerichtshof trug mit seiner Entscheidung den geltend gemachten Bedenken betreffend die fehlende Kognitionsbefugnis der Sozialgerichte im Hinblick auf die Möglichkeit der gänzlichen oder teilweisen Nachsicht von der Rückersatzpflicht in Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG, wie sie im Anlassfall vorlag, Rechnung:
[22] Während nämlich dem Sozialversicherungsträger nach (in casu) § 76 Abs 3 GSVG (ebenso § 107 Abs 3 ASVG, § 72 Abs 3 BSVG, § 49 Abs 3 B-KUVG; § 40 Abs 3 NVG 2020) bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände sowohl die Befugnis zur Gewährung von Raten als auch die Befugnis, auf die Rückforderung ganz oder zum Teil zu verzichten, eingeräumt ist, war den Sozialgerichten nach § 89 Abs 4 ASGG nur die Möglichkeit der Ratengewährung eingeräumt, nicht hingegen die Möglichkeit, die gänzliche oder teilweise Nachsicht von der Rückersatzpflicht zu gewähren (RS0085706).
[23] Der Verfassungsgerichtshof führte aus, die verfassungsmäßige Ausgestaltung der sukzessiven Kompetenz in Rückforderungsangelegenheiten setze voraus, dass den ordentlichen Gerichten auch die Kognition über den gänzlichen oder teilweisen Verzicht auf die Rückforderung zustehe (G 264/2019 ErwGr 2.2.4.3.). Diesen Anforderungen genüge § 89 Abs 4 ASGG nicht, weil er dem Arbeits- und Sozialgericht nur eine vollumfängliche Auferlegung der Rückersatzpflicht oder die vollumfängliche Verneinung dieser einräume, ohne die Rückersatzpflicht bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände in einer der Vorgangsweise der Sozialversicherungsträger entsprechenden Weise mindern zu können. Darin erkannte er einen Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip (G 264/2019 ErwGr 2.2.4.4. f).
[24] Diesen Bedenken trug er durch die Aufhebung der genannten Wortfolgen Rechnung, weil dadurch ein Rechtszustand, gegen den die im Antrag dargelegten Bedenken nicht bestünden, hergestellt werde (G 264/2019 ErwGr 2.2.4.5.).
[25] 2.5. Die Aufhebung bewirkt, dass Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht mehr von den zuvor auch für Rückersatzstreitigkeiten in § 89 Abs 4 ASGG normierten Anordnungen erfasst sind. Durch die Aufhebung ist die zuvor in § 89 Abs 4 ASGG festgeschriebene Verpflichtung des Gerichts, in Rückforderungsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG im Fall des (materiellen) Bestehens des Anspruchs des Versicherungsträgers auf Rückersatz einer (Versicherungs-)Leistung dem Gegner den Ersatz aufzuerlegen, also einen Leistungsbefehl zugunsten des Sozialversicherungsträgers zu schaffen, entfallen. Durch die Aufhebung wurde ein Rechtszustand geschaffen, nach dem die vom Beschwerdeführer vor dem Verfassungsgerichtshof relevierten Bedenken insofern nicht mehr bestehen, als der Kläger in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht mehr damit konfrontiert ist, dass ihm von einem mit unzureichender Kognitionsbefugnis ausgestatteten Gericht eine Rückersatzpflicht auferlegt werden kann.
[26] 2.6. Dass es nicht sachgerecht ist, wenn der Rückforderungsanspruch im Gerichtsverfahren geprüft und als materiell berechtigt erkannt wird, gleichzeitig jedoch eine Rechtsgrundlage für die Auferlegung der Rückersatzpflicht im Urteil fehlt, liegt auf der Hand (vgl nur M. K. Greifeneder, JAS 2021, 195 [206]; siehe unten ErwGr 3.3.2.).
[27] Diese Erwägung führt allerdings nicht zum Schluss, der Verfassungsgerichtshof sei von einer aus einer anderen Rechtsgrundlage als § 89 Abs 4 ASGG zu entnehmenden Befugnis des Sozialgerichts zur Schaffung eines Exekutionstitels ausgegangen (vgl dazu Sonntag, Zur Aufhebung des § 89 Abs 4 ASGG durch den VfGH, in FS Neumayr 2972 [2976], wonach der VfGH davon ausgehe, das Gericht habe § 76 GSVG anzuwenden). Dem Verfassungsgerichtshof kann zum einen nicht unterstellt werden, er halte (ohne diesbezügliche eindeutige Ausführungen) § 76 GSVG bzw die in Punkt 2.4. genannten Parallelnormen, die sich nach ihrem Wortlaut nur an die Sozialversicherungsträger richten, auch für die Gerichte für maßgeblich. Zum anderen ordnete er gemäß Art 140 Abs 5 B‑VG das Inkrafttreten seiner Aufhebung mehr als ein Jahr nach seinem Erkenntnis an:
[28] Die Möglichkeit der Einräumung einer solchen Frist dient gerade dem Zweck, eine Neuregelung zu ermöglichen, wenn das sofortige Außerkrafttreten einer Regelung wegen der dadurch bewirkten Rechtslücke größere Nachteile mit sich brächte als die übergangsweise Beibehaltung der für verfassungswidrig erkannten Regelung (Rohregger/Pechhacker in Korinek/Holoubek et al, Bundesverfassungsrecht [19. Lfg 2024] Art 140 B-VG Rz 343). Die Einräumung der Frist nach Art 140 Abs 5 B-VG bestätigt insofern den Befund, dass der durch die bloße Aufhebung entstehende Rechtszustand nicht wünschenswert ist.
[29] 2.7. Der Gesetzgeber reagierte auf die Aufhebung mit einer Änderung des § 89 Abs 4 ASGG im Zuge der Zivilverfahrens-Novelle 2022 (ZVN 2022, BGBl I 2022/61):
[30] § 89 Abs 4 ASGG wurde durch die neu gefassten Absätze 4 (betreffend die Rückersatzpflicht) und 5 (betreffend die im vorliegenden Fall nicht gegenständliche Kostenersatzpflicht des Versicherten) ersetzt.
[31] § 89 Abs 4 ASGG idF ZVN 2022 lautet:
„Wird in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 die Klage abgewiesen, weil eine Rückersatzpflicht des Klägers besteht, so ist ihm unter einem der Rückersatz an den Beklagten aufzuerlegen. Das Gericht kann jedoch bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände, insbesondere unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, die Erstattung des zu Unrecht gezahlten Betrages in Teilbeträgen anordnen oder die Rückersatzpflicht zum Teil oder zur Gänze entfallen lassen.“
3. Zum Übergangsrecht
3.1. Keine Anwendung der aufgehobenen Bestimmung auf den vorliegenden Fall
[32] 3.1.1. Art 140 Abs 7 B-VG ordnet die Bindung aller Gerichte und Verwaltungsbehörden an die Aufhebung eines Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit an. Nach Satz 2 dieser Bestimmung ist jedoch das Gesetz auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalls (ein solcher liegt im vorliegenden Fall nicht vor) weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht.
[33] Maßgeblich für die weitere Anwendung der aufgehobenen Bestimmung ist, dass sich der Sachverhalt vor der Aufhebung verwirklicht hat (Rohregger/Pechhacker in Korinek/Holoubek et al, Bundesverfassungsrecht Art 140 B‑VG Rz 363). Ein „verwirklichter“ Tatbestand in diesem Sinn liegt vor, wenn ein noch vor dem Zeitpunkt, in dem die Sache selbst entschieden werden soll, verwirklichter, unveränderter Sachverhalt vorliegt, der den Tatbestand einer vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenen Rechtsvorschrift erfüllt (Schäffer/Kneihs in Kneihs/Lienbacher, Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht [18. Lfg 2017] Art 140 B‑VG Rz 90).
[34] 3.1.2. Im Zusammenhang mit der gegenständlichen Aufhebung einer Wortfolge in § 89 Abs 4 ASGG besteht der Sachverhalt, der den Tatbestand der aufgehobenen Rechtsvorschrift erfüllt, darin, dass in Rechtssachen nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG die Klage abgewiesen wird, weil eine Rückersatzpflicht des Klägers besteht (vgl Sonntag in FS Neumayr 2973 [2977]).
[35] 3.1.3. Im vorliegenden Fall wurde zwar die Klage am 6. 12. 2021, also vor dem Inkrafttreten der vom Verfassungsgerichtshof ausgesprochenen Aufhebung mit Ablauf des 31. 12. 2021, eingebracht. Die Abweisung der Klage erfolgte aber erst am 13. 7. 2022. Zu diesem Zeitpunkt war die Aufhebung, die nach dem Ausspruch des Verfassungsgerichtshofs mit Ablauf des 31. 12. 2021 in Kraft trat, bereits nach Art 140 Abs 7 B-VG für die Gerichte bindend. Die vor dem Erkenntnis G 264/2019 geltende Fassung des § 89 Abs 4 ASGG war daher im vorliegenden Rechtsstreit vom Erstgericht nicht mehr anzuwenden.
3.2. Gesetzgeberisches Konzept des Übergangsrechts zu § 89 Abs 4 ASGG idF BGBl I 2022/61 (ZVN 2022)
[36] 3.2.1. Nach der Übergangsbestimmung des § 98 Abs 31 ASGG idF der Regierungsvorlage zur Zivilverfahrensnovelle 2022 (ZVN 2022, BGBl I 2022/61) sollte die Neufassung des (hier interessierenden) Abs 4 des § 89 ASGG am 1. 1. 2022 in Kraft treten und auf Verfahren anzuwenden sein, in denen die Klage nach dem 31. 12. 2021 eingebracht wird (§ 98 Abs 31 ASGG idF der Regierungsvorlage 1291 BlgNR 27. GP 10).
[37] Die Neufassung wäre damit im unmittelbaren Anschluss an das Wirksamwerden der vom Verfassungsgerichtshof ausgesprochenen Aufhebung in Kraft getreten.
[38] 3.2.2. Die Materialien führen dazu aus, im ASGG werde eine Nachfolgeregelung für die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Sonderbestimmung zu Verfahren über den Rückersatz von zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistungen oder eines Pflegegeldes geschaffen und auch das KBGG und das FamZeitbG entsprechend angepasst (ErläutRV 1291 BlgNR 27. GP 3).
[39] Zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof und den dadurch ausgelösten Regelungsbedarf ist festgehalten, dass Rückzahlungsbescheide der Sozialversicherungsträger über zu Unrecht bezogene Leistungen durch die Erhebung einer Klage außer Kraft und durch die Klageabweisung nicht wieder in Kraft treten. Die abgewiesene Klage beseitige daher den Rückzahlungsausspruch aufgrund des Bescheids, weshalb im § 89 Abs 4 ASGG vorgesehen sei, dass das Sozialgericht einen Rückzahlungsausspruch treffen müsse. Weiters wird dargelegt, dass die Entscheidungskompetenz des Sozialgerichts nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs auch die Kognition über den gänzlichen oder teilweisen Verzicht enthalten müsse. Im Folgenden wird ausgeführt:
„Es soll daher eine Rechtsgrundlage für die Festlegung der Rückzahlungsverpflichtung durch die Sozialgerichte geschaffen werden, die diesen Anforderungen entspricht:
Ab 1. Jänner 2022 soll nach Abs 4 zweiter Satz aufgrund von Urteilen über Streitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG die festzulegende Rückzahlungsverpflichtung des unterlegenen Klägers bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände auch zum Teil oder zur Gänze entfallen können […]“ (ErläutRV 1291 BlgNR 27. GP 15).
[40] 3.2.3. Aus der Nennung des Datums („Ab 1. Jänner 2022“) ist der Wille des Gesetzgebers ersichtlich, das zeitliche Übergangsrecht so zu gestalten, dass ohne zeitliche Lücke nach dem 31. 12. 2021 die Sozialgerichte verpflichtet sein sollten, in Fällen des materiellen Bestehens einer Rückersatzpflicht dem Leistungsempfänger im klageabweisenden Urteil den entsprechenden Rückersatz aufzuerlegen.
3.3. Geeignete Regelungstechnik zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels
[41] Verfahrensgesetze sind nach ständiger Rechtsprechung, sofern nicht ausdrücklich eine andere Regelung getroffen wurde, immer nach dem letzten Stand anzuwenden (RS0008733 [T1]).
[42] Aus diesem Grundsatz folgt, dass in Fällen, in denen das Gericht die negative Feststellungsklage abweist, weil die Rückersatzpflicht materiell zu Recht besteht, die Frage, ob das Gericht die Befugnis (und Verpflichtung) hat, neuerlich den Rückersatz aufzuerlegen, nach den im Zeitpunkt der Fällung der Entscheidung geltenden Verfahrensvorschriften zu entscheiden ist.
[43] Hätte sich die Übergangsvorschrift darauf beschränkt, das Inkrafttreten des § 89 Abs 4 idF der ZVN 2022 am 1. 1. 2022 anzuordnen, dann hätte der Gesetzgeber damit sein Ziel, trotz der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof lückenlos eine Befugnis des Gerichts zur Auferlegung der Rückersatzpflicht zu schaffen, erreicht: Für Urteile, die bis einschließlich am 31. 12. 2021 erlassen wurden, ergibt sich diese Verpflichtung aus der weiterhin dem Rechtsbestand angehörenden „alten“ Fassung des § 89 Abs 4 ASGG, für ab dem 1. 1. 2022 erlassene Urteile hätte sie sich (sofern die Novelle tatsächlich am 1. 1. 2022 in Kraft getreten wäre) aus der ab diesem Tag geltenden novellierten Fassung der Bestimmung ergeben.
[44] Es ist daher nicht nachvollziehbar, was den Gesetzgeber bewogen hat, die Anwendung des § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 vom Zeitpunkt der Klageeinbringung abhängig zu machen. Denn dadurch sind zeitliche „Lücken“, in denen eine Rechtsgrundlage für die Befugnis des Gerichts, den Rückersatz aufzuerlegen, fehlt, vorprogrammiert.
3.4. Problematik des zeitlichen Übergangsrechts zu § 89 Abs 4 ASGG idF ZVN 2022
[45] 3.4.1. Stellt man für die Anwendung des novellierten § 89 Abs 4 ASGG auf die Klageeinbringung ab dem (geplant) 1. 1. 2022, also ab dem Tag des Inkrafttretens der Neuregelung, ab, wäre das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel, anschließend an die Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof ohne zeitliche Lücke eine neue Rechtsgrundlage für die Auferlegung des Rückersatzes durch die Sozialgerichte zur Verfügung zu stellen, nicht erreichbar. Zur Verwirklichung dieses Ziels bedürfte es einer Rechtsgrundlage, die die Auferlegung des Rückersatzes in ab dem 1. 1. 2022 gefällten Urteilen, unabhängig vom Zeitpunkt der Klageeinbringung, ermöglichte.
[46] Dazu kommt, dass § 89 Abs 4 und 5 ASGG in der Folge nicht, wie angestrebt, am 1. 1. 2022, sondern erst am 1. 5. 2022 in Kraft traten; sie sind nach dem Wortlaut des § 98 Abs 31 ASGG auf Verfahren anzuwenden, in denen die Klage nach dem 30. 4. 2022 eingebracht wird.
[47] 3.4.2. Eine zeitliche Lücke in der Anwendbarkeit der gesetzlichen Verpflichtung zur Auferlegung des Rückersatzes führt zu dem offenkundig unsachlichen Ergebnis, dass der Leistungsempfänger durch die bloße Klageeinbringung und unabhängig vom materiellen Bestand des Rückforderungsanspruchs die Schaffung eines Rückforderungstitels verhindern könnte (vgl nur M. K. Greifeneder, JAS 2021, 195 [206]). Die Sozialgerichte müssten für Urteile, die aufgrund einer vor dem 1. 5. 2022 eingebrachten Klage zu irgendeinem Zeitpunkt nach dem 31. 12. 2021 ergehen, weiterhin die Berechtigung des Rückersatzanspruchs prüfen, könnten aber keinen Leistungsbefehl über den Rückersatz erlassen.
[48] 3.4.3. Dass ein solches Ergebnis vermieden werden soll, ergibt sich auch aus der systematischen Zusammenschau mit § 72 Z 3 ASGG, der anordnet, dass in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG die Klage nicht zurückgenommen werden kann. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Versicherte seiner Zahlungsverpflichtung dadurch entzieht, dass er den ihn belastenden Bescheid durch Klageerhebung außer Kraft setzt und dann die Klage zurückzieht (Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm³ § 72 ASGG Rz 6).
[49] 3.4.4. Zwar steht dem Gesetzgeber – gerade im Sozialversicherungsbereich – ein Gestaltungsspielraum insofern zu, als er in seinen rechts- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Dieser Gestaltungsspielraum bringt es mit sich, dass er auch die rechtspolitische Freiheit hat, im Weg einer Stichtagsregelung festzulegen, ab wann eine neue materiell‑rechtliche Bestimmung zu gelten hat (vgl RS0117654). Eine zeitliche Stichtagsregel verstößt daher nicht grundsätzlich gegen das Gleichheitsgebot (RS0053393; RS0117654).
[50] Das aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete Sachlichkeitsgebot ist zwar nicht schon dann berührt, wenn das Ergebnis der Normanwendung nicht in allen Fällen als befriedigend angesehen wird (vgl RS0053882). Es ist allerdings verletzt, wenn der Gesetzgeber zur Zielerreichung völlig ungeeignete Mittel vorsieht oder die vorgesehenen, an sich geeigneten Mittel zu einer sachlich nicht begründbaren Differenzierung führen (RS0058455).
[51] 3.4.5. Eine zeitliche Lücke in der Anwendbarkeit der Regel, nach der die Sozialgerichte in Fällen einer materiell berechtigten Rückersatzpflicht des Leistungsempfängers verpflichtet sind, diesem den Rückersatz aufzuerlegen, führt zu einer Differenzierung je nach dem Zeitpunkt, zu dem das klageabweisende Urteil in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG ergeht. Diese Differenzierung beruht im vorliegenden Fall nicht bloß auf dem späteren Inkrafttreten der ZVN 2022, sondern auf dem Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung.
[52] Dieses Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung in § 98 Abs 31 ASGG ist offenkundig nicht Ausdruck der Inanspruchnahme des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums. Vielmehr wollte der Gesetzgeber eine Stichtagsregelung, die selbst bei einem Inkrafttreten am 1. 1. 2022 zu einer zeitlichen Lücke in der Verpflichtung der Gerichte, einen Rückersatzausspruch zu treffen, geführt hätte, gar nicht schaffen.
[53] Gemessen an den Intentionen des Gesetzgebers handelt es sich beim Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung daher um eine offenkundige regelungstechnische Fehlleistung.
[54] 3.4.6. Eine sachliche Rechtfertigung dafür, je nach dem Zeitpunkt der Klageeinbringung und Urteilsfällung trotz materieller Berechtigung des Rückersatzanspruchs dem Gericht die Schaffung eines Titels zu verwehren, ist nicht ersichtlich. Insofern erweist sich das Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung im Übergangsrecht auch als unsachlich iSd Art 7 B-VG.
[55] 3.4.7. Die in § 98 Abs 31 ASGG angeordnete Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der Klageeinbringung führt darüber hinaus zu Wertungswidersprüchen, die sich aus der systematischen Zusammenschau von § 89 Abs 4 ASGG und § 31 Abs 4 KBGG oder § 7 Abs 3 FamZeitbG ergeben:
[56] 3.4.8. Mit BGBl I 2016/53 wurde im KBGG sowie im neu geschaffenen FamZeitbG für Fälle der Rückforderung angeordnet, dass „abweichend von § 89 Abs 4 letzter Satz ASGG den Gerichten in Angelegenheiten der Leistungen nach diesem Bundesgesetz nicht das Recht [obliegt], Ratenzahlungen anzuordnen, sondern ist dies ausschließlich dem Krankenversicherungsträger im nachgeschalteten Verwaltungsverfahren vorbehalten“ (§ 31 Abs 4 letzter Satz KBGG; § 7 Abs 3 vorletzter Satz FamZeitbG).
[57] Mit der ZVN 2022, mit der – wie dargestellt – die Kompetenz der Sozialgerichte dahin erweitert wurde, dass sie in Rückersatzstreitigkeiten nicht nur zur Ratengewährung, sondern auch dazu berechtigt wurden, vom Rückersatz aus Billigkeitsgründen zum Teil oder zur Gänze abzusehen, wurden auch die beiden genannten Bestimmungen des KBGG und des FamZeitbG geändert.
[58] § 31 Abs 4 letzter Satz KBGG und § 7 Abs 3 vorletzter Satz FamZeitbG idF der ZVN 2022 ordnen nun ausdrücklich an, dass den Gerichten abweichend von § 89 Abs 4 ASGG weder das Recht, die Erstattung in Teilbeträgen anzuordnen, noch das Recht, die Rückersatzpflicht zum Teil oder zur Gänze entfallen zu lassen, zukommt, sondern dass beides dem Krankenversicherungsträger im nachgeschalteten Verwaltungsverfahren vorbehalten ist.
[59] § 31 Abs 4 KBGG und § 7 Abs 3 FamZeitbG idF der ZVN 2022 traten jeweils am 1. 5. 2022 in Kraft (§ 50 Abs 28 KBGG; § 12 Abs 4 FamZeitbG). Die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen wird – anders als bei § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 – also nicht vom Zeitpunkt der Klageeinbringung abhängig gemacht.
[60] 3.4.9. Die Verschiebung der Befugnis zur Ratengewährung, nach der ZVN 2022 auch jener zum Absehen von der Rückersatzpflicht, ins nachgeschaltete Verwaltungsverfahren setzt logisch zwingend die Möglichkeit des Sozialgerichts voraus, im Fall der Abweisung der negativen Feststellungsklage wegen Berechtigung des Rückersatzanspruchs überhaupt einen Ausspruch über die Rückersatzpflicht in sein Urteil aufzunehmen.
[61] 3.4.10. Dass auch § 72 Z 3 ASGG, wonach die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht zurückgenommen werden kann, nur zusammen mit der Möglichkeit der Sozialgerichte, in Rückforderungsstreitigkeiten den Ersatz aufzuerlegen, die Funktionsfähigkeit des gerichtlichen Rückforderungsverfahrens wahren kann (vgl Fink, Sukzessive Zuständigkeit 420), wurde bereits oben ausgeführt.
[62] 3.4.11. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die durch das Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung in § 98 Abs 31 ASGG entstehende zeitliche „Anwendungslücke“ Widersprüche innerhalb der Systematik der Regelung der Rückforderung von Leistungen hervorruft. Diese tritt in Fällen der Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld oder Familienzeitbonus in besonders zugespitzter Weise zutage.
3.5. Zu einer Wertungswidersprüche vermeidenden Auslegung des § 98 Abs 31 ASGG
3.5.1. Grundsätze der Gesetzesauslegung
[63] 3.5.1.1. Für die Auslegung generell-abstrakter Normen sehen §§ 6 und 7 ABGB eine Reihe von Kriterien vor: § 6 ABGB stellt sowohl auf die „eigentümliche Bedeutung der Worte“, und zwar „in ihrem Zusammenhang“ ab, was der Wortinterpretation unter Berücksichtigung des Bedeutungszusammenhangs und der Gesetzessystematik entspricht, als auch auf die „klare Absicht des Gesetzgebers“ und schreibt damit die Erforschung der Absicht des Gesetzgebers vor (8 Ob 563/85). Dabei sind die einzelnen Auslegungsmethoden nicht mechanisch hintereinander anzuwenden, es ist vielmehr eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und unter Heranziehung aller zur Verfügung stehender Kriterien in wertender Entscheidung der Sinn einer Regelung klarzustellen (RS0008877; 8 Ob 563/85; 5 Ob 233/22h). Dass selbst der eindeutige Gesetzeswortlaut keine unübersteigbare Grenze juristischer Argumentation darstellt, ist auf Grundlage des § 7 ABGB in der Rechtsprechung anerkannt (vgl RS0008765 [T1]).
[64] In Fällen, in denen das Gesetz in seinem wörtlichen Verständnis offenbare Wertungswidersprüche in der Rechtsordnung provozieren müsste, mit dem bestehendem Wertekonsens innerhalb der Rechtsgemeinschaft unvereinbar oder der „Natur der Sache“ zuwider wäre, ist die Heranziehung von historischem Interpretationsmaterial erforderlich. Gelingt in einem solchen Fall der Nachweis einer vom Wortlaut abweichenden Absicht des Gesetzgebers, so wird diese, unterstützt von den objektiv-teleologischen Argumenten, durchdringen (RS0008765; 10 ObS 126/88; vgl 5 Ob 118/07z; 5 Ob 6/11k). Dabei geht es nicht darum, unter Außerachtlassung der Gewaltenteilung eine als unbefriedigend empfundene Gesetzgebung durch die Rechtsprechung zu korrigieren (vgl RS0106011), sondern vielmehr darum, einem eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers, der mit der Gesetzessystematik und ihren zugrunde liegenden Wertungen im Einklang steht, über einen unzulänglich formulierten Gesetzestext hinaus zum Durchbruch zu verhelfen (vgl RS0009100; RS0008763; Kerschner/Kehrer in Klang³ §§ 6, 7 ABGB Rz 101: „Redaktionsversehen“). In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Erzielung eines verfassungswidrigen Auslegungsergebnisses tunlichst zu vermeiden ist (6 Ob 157/14b [ErwGr 4.4.]; RS0008793), sofern sich der Gesetzgeber nicht gezielt über verfassungsgesetzliche Wertungen hinweggesetzt hat (vgl Kerschner/Kehrer in Klang³ §§ 6, 7 ABGB Rz 79).
[65] 3.5.1.2. Im vorliegenden Fall wurde bereits aufgezeigt, dass das gesetzgeberische Ziel darin bestand, für Rückersatzstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG eine Rechtsgrundlage für die Auferlegung des Rückersatzes durch die Sozialgerichte zu schaffen, die lückenlos im Anschluss an das Wirksamwerden der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof zur Anwendung kommen sollte.
[66] Ebenso wurde dargestellt, dass der Gesetzeswortlaut insofern, als er die Anwendbarkeit der Neuregelung von der Klageeinbringung ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der novellierten Fassung des § 89 Abs 4 ASGG abhängig macht, der Verwirklichung dieses Ziels entgegensteht. Denn das – nach dem Wortlaut gebotene – Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung (ab dem Tag des Inkrafttretens) führt zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten zeitlichen Lücke in der Befugnis der Sozialgerichte, unberechtigten Leistungsempfängern den Rückersatz aufzuerlegen. Eine Auslegung des § 98 Abs 31 ASGG ausschließlich nach grammatikalischen Gesichtspunkten würde – auch das wurde bereits ausgeführt –bei systematischer Betrachtung zu teleologisch-systematischen Wertungswidersprüchen und zu einem unsachlichen Ergebnis führen.
[67] Vor diesem Hintergrund ist es im vorliegenden Fall geboten, die Übergangsvorschrift des § 98 Abs 31 ASGG entgegen ihrem Wortlaut dahin auszulegen, dass für die Anwendbarkeit von § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 nicht auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung nach dem 30. 4. 2022 abgestellt wird. Ob darin eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlauts oder eine analoge Anwendung des § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 auf Fälle, die nach dem Wortlaut der Übergangsbestimmung von ihr noch nicht erfasst sind, kann dahinstehen.
[68] Diese Auslegung verhilft dem aus den zitierten Materialien ersichtlichen wahren Willen des Gesetzgebers unter Berichtigung des unzulänglich gestalteten Wortlauts (eines offenkundigen Redaktionsversehens) des § 98 Abs 31 ASGG zum Durchbruch und vermeidet eine Auslegung, die unter systematischen und teleologischen Gesichtspunkten wertungswidersprüchlich und mit dem allgemeinen Sachlichkeitsgebot des Art 7 B-VG kaum in Einklang zu bringen wäre.
3.5.2. Ergebnis
Als Ergebnis der vorstehenden Erwägungen wird festgehalten:
[69] § 98 Abs 31 ASGG ist infolge eines Redaktionsversehens des Gesetzgebers so auszulegen, dass dessen zweiter Satz, wonach § 89 Abs 4 und 5 ASGG idF BGBl I 2022/61 (ZVN 2022) auf Verfahren anzuwenden sind, in denen die Klage nach dem 30. 4. 2022 eingebracht wird, zumindest für Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht gilt. Die Sozialgerichte haben daher § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 auch in Verfahren, in denen die Klage vor dem 1. 5. 2022 eingebracht wurde und das Urteil nach diesem Zeitpunkt liegt, anzuwenden.
3.5.3. Vorliegender Fall
[70] Die unter 3.5.2. angeführten Voraussetzungen liegen auch hier vor, weshalb das Erstgericht unter einem mit der Abweisung der Feststellungsklage dem Kläger den Rückersatz an die Beklagte im über die Feststellungsklage ergehenden Urteil hätte auferlegen müssen.
4. Keine Auferlegung des Rückersatzes im Revisionsrekursverfahren
[71] 4.1. Der Ausspruch, mit dem dem Kläger in einer Rückersatzstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nach § 89 Abs 4 ASGG der Rückersatz auferlegt wird, hat „unter einem“ mit der Abweisung der negativen Feststellungsklage in Urteilsform (Fink, Sukzessive Zuständigkeit 536) in der für Urteile der Sozialgerichte gebotenen Senatsbesetzung zu erfolgen (vgl nur 10 ObS 174/21t).
[72] 4.2. Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht den vom beklagten Sozialversicherungsträger gestellten Antrag, den Kläger zum Rückersatz zu verpflichten, zurückgewiesen.
[73] Das Rekursgericht bestätigte den Zurückweisungsbeschluss.
[74] Ein Zurückweisungsgrund liegt allerdings nicht vor. Vielmehr ist in der vorliegenden Streitigkeit über die Verpflichtung zum Rückersatz durch die Erlassung des Bescheids der Rechtsweg für die Klage des Leistungsempfängers eröffnet (vgl § 69 ASGG). Der Antrag des beklagten Sozialversicherungsträgers auf Auferlegung des Rückersatzes nach § 89 Abs 4 ASGG ist auch nicht unstatthaft. Dass die Beklagte im vorliegenden Fall im Bescheid aufgrund des teilweise bereits erfolgten Einbehalts dem Kläger nur die Zahlung von 961,20 EUR auferlegte, ändert nichts daran, dass der Rechtsweg zur Überprüfung der Berechtigung der Kürzung des Kinderbetreuungsgeldes um insgesamt 1.300 EUR, worüber der Bescheid meritorisch absprach (vgl RS0085867 [insb T3]), eröffnet ist. Der laut Bescheid bereits erfolgte Einbehalt des Überbezugs schränkt daher die Zulässigkeit des Rechtswegs im Hinblick auf den Antrag der Beklagten auf Auferlegung des Rückersatzes nach § 89 Abs 4 ASGG nicht ein, sondern ist bei der materiellen Beurteilung dieses Antrags zu berücksichtigen.
[75] 4.3. Der Oberste Gerichtshof ist im vorliegenden Fall im Revisionsrekursverfahren tätig.
[76] Es ist ihm daher verwehrt, die Zurückweisung des Ausspruchs in eine meritorische Entscheidung darüber abzuändern. Eine solche läge aber vor, wenn der Oberste Gerichtshof dem Kläger den Rückersatz mit Leistungsbefehl (vgl nur 10 ObS 174/21t) auferlegen würde. Die meritorische Entscheidung ist vielmehr vom Erstgericht unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund – des „Fehlens einer prozessrechtlichen Grundlage“ für die Auferlegung des Rückersatzes an die Beklagte – zu treffen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)