OGH 8Ob57/24a

OGH8Ob57/24a26.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka, Dr. Stefula, Dr. Thunhart und Mag. Dr. Sengstschmid als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. G*, 2. G*, 3. D*, und 4. J*, alle vertreten durch Mag. Bernhard Lehofer, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei M*, vertreten durch Mag. Dr. Regina Schedlberger, Rechtsanwältin in Graz, wegen Räumung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 3. April 2024, GZ 5 R 25/24v‑56, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0080OB00057.24A.0626.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Bestandrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1. Ein dem Familienverhältnis entspringender tatsächlicher Wohnzustand ist nicht nur dann anzunehmen, wenn eine Verpflichtung besteht, anderen Familienangehörigen Wohnung zu geben; vielmehr gibt es zahlreiche aus dem natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühl unter Familienangehörigen entspringende tatsächliche Benützungsgewährungen, die rechtlich nicht geregelt, gegen den Willen des Gewährenden nicht rechtlich durchsetzbar und jederzeit widerrufbar sind (RS0020503; vgl RS0020507). Für die Beurteilung einer schlüssigen Einräumung eines (vertraglichen) Wohnungs‑(gebrauchs‑)rechts unter Familienangehörigen ist daher ein strenger Maßstab anzulegen (vgl RS0011850 [T5, T14]; RS0011888; 6 Ob 18/18t). Lassen die konkreten Umstände des Falls auf ein solches aus dem natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühl unter Familienangehörigen entstandenes Wohnverhältnis schließen, so ist es – anders als im Fall eines Prekariums zwischen nicht miteinander verwandten Personen (vgl RS0019200; RS0020518 [T2, T3]) – Sache des Benützers der Wohnung, konkrete Umstände darzulegen und zu beweisen, die dagegen einen unzweifelhaften Schluss auf das Vorliegen eines Rechtstitels zur Wohnungsbenützung zulassen (vgl RS0020500 [T3]).

[2] Aus dem bloßen Umstand, dass der Benützer Investitionen vorgenommen hat, ist nicht abzuleiten, es liege eine vertragliche Rechtsgrundlage für die Wohnungsbenützung vor. Derartige Investitionen sind nämlich auch im Rahmen eines ungeregelten, sich aus dem verwandtschaftlichen Naheverhältnis ergebenden tatsächlichen Zustands denkbar (RS0020507; vgl RS0020511).

[3] Der gute Glaube fehlt bzw geht verloren, wenn der Besitzer positiv Kenntnis erlangt, dass sein Besitz nicht rechtmäßig ist, oder zumindest solche Umstände erfährt, die Anlass geben, an der Rechtmäßigkeit der Besitzausübung zu zweifeln (RS0010184; RS0010137 [T1]), wobei bereits leichte Fahrlässigkeit die Redlichkeit ausschließt (RS0103701; RS0010189 [T6, T7]). Sachen oder Rechte an Sachen, an denen den Berechtigten die Gewahrsame rechtsgeschäftlich überlassen wurde, können nicht ersessen werden, weil es außer am Ersitzungsbesitz auch an der erforderlichen Redlichkeit des Besitzes fehlt (vgl RS0034095; 2 Ob 119/13h mwN); dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn dem Nutzer – wie das häufig der Fall ist – der Umstand einer bloß obligatorischen Gebrauchsüberlassung bekannt ist oder bei ausreichender Sorgfalt bekannt sein muss (vgl RS0034095 [T14, T17]). Diese Grundsätze gelten auch für eine familienrechtliche Bittleihe (6 Ob 18/18t mwN).

[4] 1.2. Bei der Abgrenzung eines nur aus dem natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühl unter Familienangehörigen – ohne vertragliche Bindung – entstandenen Wohnverhältnisses, das rechtlich nicht durchsetzbar und jederzeit widerrufbar ist (vgl RS0020503), von einem infolge des Familienverhältnisses, aber nicht mit voller Bestimmtheit vereinbarten Vertragsverhältnis kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalls an (3 Ob 247/18x; RS0020503 [T2]).

[5] Ob durch Investitionen das Maß der üblichen familiären Beistandspflicht überschritten wurde, hängt ebenso von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0020511 [T4]) wie die Qualifikation des Verhaltens eines Besitzers als redlich oder unredlich (vgl RS0010184 [T13]; RS0010185 [T7]).

[6] 2. Die Vorinstanzen sind zum Ergebnis gekommen, dass der Beklagten der Nachweis weder eines – vertraglich oder konkludent eingeräumten – obligatorischen Wohnrechts an sich noch der des Vertrauens auf einen solchen Titel als Voraussetzung uneigentlicher Ersitzung (§ 1477 ABGB) eines Wohnungsgebrauchsrechts im den vier Klägern gehörenden Haus gelungen ist.

[7] 3.1. Die Revision möchte dagegen eine nur von der Zweitklägerin mit ihrem Sohn und der Beklagten, dessen Ehefrau, 1995 abgeschlossene „Vereinbarung“, wonach das Ehepaar die hier fragliche Wohnung bewohnen dürfe, als Titel der Einräumung eines lebenslangen Wohnungsrechts verstanden wissen, auf dessen Gültigkeit die Beklagte vertraut und daher das Wohnrecht ersessen habe.

[8] 3.2. Dagegen kamen die Vorinstanzen aber zum Schluss, der „Vereinbarung“ könne unter den sonst festgestellten Umständen (Wohngelegenheit für den multipel suchtkranken und überschuldeten Sohn bzw Bruder und Schwager; kein Wissen der anderen Miteigentümer von der „Vereinbarung“) redlicherweise nicht der Inhalt beigemessen werden, dass damit alle Kläger als Miteigentümer dem damaligen Lebensgefährten und späteren Ehemann der Beklagten sowie dieser selbst ein Wohnungsrecht oder mit der Vereinbarung als Titel ein dingliches Recht einräumen hätten wollen.

[9] Dies ist im Einzelfall zumindest vertretbar. Wenn der Beklagten und ihrem Mann der Umstand der hier nicht einmal durch eine Vereinbarung titulierten faktischen Gebrauchsüberlassung bekannt war bzw bekannt sein musste (vgl nochmals RS0034095 [T14, T17]), ist dies mit Vertrauen auf das Bestehen eines die Ersitzung ermöglichenden Titels und damit Redlichkeit ihrer Besitzausübung nicht vereinbar.

[10] Der vorliegende Sachverhalt ist mit der zu 8 Ob 134/19t festgestellten Erlaubnis der nachbarlichen Mitbenützung eines neuerrichteten landwirtschaftlichen Weges schon mangels dortiger familienrechtlicher Beziehungen nicht vergleichbar.

[11] 4.1. Soweit nachvollziehbar möchte die Revision auch das Vertrauen der Beklagten auf ein konkludent eingeräumtes Wohnrecht als solchen Ersitzungstitel heranziehen, wozu aber schon das Berufungsgericht darauf hingewiesen hat, dass die in der Revision (ebenso wie schon in der Berufung) bemühte erstinstanzliche Behauptung, die Beklagte habe das Wohnrecht „konkludent ersessen“, nicht in diesem Sinne verstanden werden könne.

[12] 4.2. Die Auslegung von Parteienvorbringen und damit die Beantwortung der Frage, ob eine im Berufungsverfahren unzulässige Neuerung vorliegt, geht aber in ihrer Bedeutung über den Einzelfall nicht hinaus und begründet daher – vom Fall krasser Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO (RS0042828 [insb T35]). Aktenwidrigkeit liegt in diesem Zusammenhang nicht vor.

[13] Die zur Begründung der Konkludenz der Duldung des Wohnens weiter aufgestellte erstinstanzliche Behauptung, die Beklagte sei gegenüber den Klägern – ihren Schwiegereltern bzw ihrer Schwägerin und deren Ehemann – „rechtlich fremd“ und die Wohnmöglichkeit schon deshalb nicht als Ausfluss familiärer Beistandspflicht anzusehen, wurde im Rechtsmittelverfahren nicht mehr aufrechterhalten. Sonstige Umstände, aus denen in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise (§ 863 ABGB) und zudem nach dem gebotenen strengen Maßstab (vgl 6 Ob 18/18t; oben Pkt 1.1) geschlossen werden könnte, warum die Duldung des Mannes der Beklagten und der Beklagten selbst aus anderen als familiären Gründen erfolgt wäre, zeigt die Revision nicht auf und sind auch weder dem erstinstanzlichen Vorbringen noch dem Sachverhalt nicht zu entnehmen.

[14] 5.1. Auf die Frage der im Laufe der Jahre mehrmals und auch schon vor Ablauf der Ersitzungszeit an den Mann der Beklagten und diese selbst wiederholt herangetragenen Aufforderungen auszuziehen, muss daher nicht mehr eingegangen werden.

[15] 5.2. Rechtliche Feststellungsmängel liegen in diesem Zusammenhang nicht vor. Zu einer (primären) Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens enthält die Revision keine Ausführungen.

[16] 6. Wie der vorliegende Sachverhalt mit einer nicht als Zubehör zu einer Eigentumswohnung ausgewiesenen Garage und deren Ersitzung trotz Eintragung als eigenes Wohnungseigentumsobjekt (10 Ob 20/23y) oder der Ersitzung eines Wanderweges durch eine Gemeinde (9 Ob 16/15s) vergleichbar sein und was daraus hier folgen sollte, zeigt die Revision nicht auf.

[17] 7. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).

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