OGH 10Ob55/23w

OGH10Ob55/23w4.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Mag. Schober als Vorsitzenden sowie den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer, die Hofräte Dr. Annerl und Dr. Vollmaier und die Hofrätin Dr. Wallner‑Friedl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei V* AG, *, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 1.) 8.190 EUR sA und 2.) Feststellung (Streitwert: 2.000 EUR), über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis als Berufungsgericht vom 25. September 2023, GZ 6 R 106/23i‑21, mit dem über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Schärding vom 11. Juli 2023, GZ 2 C 679/22v‑16, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0100OB00055.23W.0604.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.024,29 EUR (darin enthalten 163,54 EUR USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger kaufte am 27. 5. 2015 bei der A* GmbH & Co KG den von der Beklagten produzierten neuen Pkw VW Tiguan Lounge TDI SCR um 27.300 EUR. In diesem Fahrzeug ist unstrittig ein Dieselmotor des Typs EA288 einschließlich SCR‑Katalysator verbaut; für das Fahrzeug ist die Abgasnorm EU 6 maßgebend.

[2] Im Fahrzeug des Klägers ist eine temperaturgesteuerte Abgasrückführung („Thermofenster“) verbaut. Diese bewirkt, dass nur im Temperaturbereich zwischen - 24 Grad Celsius und + 70 Grad Celsius das Abgasreinigungssystem voll aktiv ist. Das Fahrzeug verfügt zusätzlich über ein Abgasreinigungssystem, zu dem nähere Feststellungen fehlen. Im Zeitpunkt der Typengenehmigung durfte der Stickoxidausstoß am Prüfstand 80 mg/km betragen. Diesen Wert hält das Fahrzeug am Prüfstand ein, nicht aber im realen Fahrbetrieb.

[3] Der Kläger begehrt die Zahlung von 8.190 EUR sA aus dem Titel des Schadenersatzes sowie die Feststellung, dass die Beklagte für jeden Schaden hafte, welcher dem Kläger aus dem Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung im Motortyp seines Fahrzeugs zukünftig entstehe. Die von der Beklagten verwendete Abgasstrategie entspreche nicht den unionsrechtlich vorgegebenen Kriterien, die Beklagte habe unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut. Durch die vorsätzliche Manipulation der Vertreter der Beklagten sei der Kläger in die Irre geführt worden, weshalb die Beklagte gemäß § 874 ABGB hafte. Die Beklagte hafte auch deliktisch wegen sittenwidriger Schädigung im Sinn des § 1295 Abs 2 ABGB sowie wegen Verletzung von Schutzgesetzen und aus dem Titel der „Garantie“. Der Schaden liege darin, dass in das Fahrzeug auf rechtswidrige Weise unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut worden seien, ohne diese Abschalteinrichtungen die gesetzlichen Grenzwerte beim NEFZ‑Test nicht eingehalten worden wären und es keine Typisierung gegeben hätte. Hätte der Kläger davon gewusst, hätte er um den Klagebetrag, der 30 % des Kaufpreises entspreche, weniger gezahlt.

[4] Die Beklagte wandte ein, dass dem Kläger kein Schaden entstanden sei. Beim vorliegenden Motortyp sei keine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut worden. Aufgrund des weiten Thermofensters komme es nur im Ausnahmefall zur Abschaltung der Abgasrückführung. Innerhalb des Thermofensters komme es zu keiner „Abrampung“. Weder liege eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form einer unzulässigen Fahrkurvenerkennung („Prüfstandserkennung“) vor, noch liege eine solche im Zusammenhang mit der AdBlue‑Einspritzung vor. Dem Feststellungsbegehren fehle es am erforderlichen Feststellungsinteresse.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Da das Fahrzeug des Klägers am Prüfstand den zulässigen Grenzwert für den Stickoxidausstoß einhalte, erfülle es den Ausnahmetatbestand des Art 5 Abs 2 lit c der VO (EG) 715/2007 und weise keine unzulässige Abschalteinrichtung auf. Darüber hinaus sei die Abschalteinrichtung aufgrund des weiten Temperaturfensters keineswegs „den überwiegenden Teil des Jahres“ aktiv.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers gegen dieses Urteil Folge, hob es auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung zurück. Das Temperaturfenster der temperaturgesteuerten Abgasrückführung („Thermofenster“) gewährleiste, dass die Abgasreinigungsanlage während des gesamten Fahrbetriebs im Unionsgebiet nicht abgeschaltet werde. Beim vorliegenden Thermofenster handle es sich daher schon nicht um eine Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Z 10 VO (EG) 715/2007 , sodass dahingestellt bleiben könne, inwieweit dieses Thermofenster zum Motorschutz erforderlich sei. Auf die Stickoxidgrenzwerte im Realbetrieb komme es für die Erteilung der EG‑Typengenehmigung nicht an, sodass der in diesem Zusammenhang vom Kläger behauptete sekundäre Feststellungsmangel nicht vorliege. Zum Vorbringen des Klägers, dass das System der Abgasnachbehandlung (SCR‑System) zur Folge habe, dass die Abgasrückführung außerhalb der Prüfumgebung reduziert werde, sodass die Ausnahme zur Regel werde und die Stickoxidemissionen im realen Fahrbetrieb zu hoch seien, fehlten allerdings Feststellungen. Diese seien relevant, weil der im realen Fahrbetrieb angewandte „Onlinemodus“ durch eine andere technische Lösung (Sperrkatalysator) verhindert werden könnte, sodass in diesem Zusammenhang eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegen könnte. Das Verfahren sei daher ergänzungsbedürftig.

[7] Der Rekurs sei zulässig, weil der Oberste Gerichtshof zur Frage, ob es sich bei einem Emissionskontrollsystem, bei dem die Abgasrückführung bei Temperaturen von unter – 24 Grad Celsius und über + 70 Grad Celsius verringert wird, um eine (unzulässige) Abschalteinrichtung handelt, bisher nicht ausdrücklich Stellung genommen habe. Darüber hinaus komme es nach der Entscheidung 3 Ob 77/23d entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts darauf an, dass die Emissionsgrenzwerte im realen Straßenverkehr nicht überschritten werden. Schließlich sei die Frage zu klären, „ob bei den nach dem Parteienvorbringen stattfindenden Funktionsänderungen des Emissionskontrollsystems nach der Warmlaufphase (Zusammenspiel zwischen AGR‑ und SCR‑System) und beim Betrieb (Wechsel zwischen Speicher‑ und Onlinemodus des SCR‑Systems) die Einhaltung der Grenzwerte im NEFZ ausreicht, um das Vorliegen einer Abschalteinrichtung nach Art 3 Z 10 VO (EG) 715/2007 zu verneinen, oder eine Abschalteinrichtung selbst dann vorliegt, wenn sich durch die Veränderung der Funktion des Gesamtsystems die Stickoxidemissionen erhöhen, obwohl der Grenzwert im NEFZ eingehalten wird“.

[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich der von der Beklagten beantwortete Rekurs des Klägers, mit dem er beantragt, dem Erst‑ oder Berufungsgericht die Verfahrensergänzung „unter Abstandnahme der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, wonach es nicht auf die Einhaltung der NOx‑Grenzwerte im Realbetrieb ankommt“ aufzutragen.

Rechtliche Beurteilung

[9] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 526 Abs 2 ZPO) – Zulassungsausspruch ist der Rekurs nicht zulässig. Die darin aufgeworfene erhebliche Rechtsfrage wurde vom Obersten Gerichtshof in der Zwischenzeit in anderen Verfahren bereits beantwortet (vgl RS0112921 [T5]). Die Zurückweisung des Rekurses kann sich auf die Anführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a iVm § 510 Abs 3 letzter Satz ZPO; RS0043691).

[10] 1.1 Der Rekurswerber thematisiert ausschließlich die Frage der Relevanz der Einhaltung von Emissionsgrenzwerten im realen Straßenverkehr. Er vertritt dazu unter Bezugnahme auf die Entscheidungen 3 Ob 33/23h und 6 Ob 155/22w die Ansicht, dass die Grenzwerte im Realbetrieb einzuhalten seien und eine Abschalteinrichtung, die dies verhindere, unzulässig sei.

[11] 1.2 Der Oberste Gerichtshof hat jedoch jüngst bereits mehrfach entschieden, dass für eine Prüfung, ob die Emissionsgrenzwerte trotz Aktivität der Abschalteinrichtung „im realen Straßenverkehr“ eingehalten werden, keine Rechtsgrundlage besteht und eine solche Prüfung daher nicht durchzuführen ist. Die für Emissionen festgelegten Grenzwerte müssen unter den in der Durchführungsverordnung angegebenen Prüfbedingungen eingehalten werden (10 Ob 31/23s Rz 46; 8 Ob 92/23x Rz 12; 10 Ob 52/23d Rz 16; 3 Ob 215/23y Rz 13 ua). Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht mit dieser Rechtsprechung im Einklang. Im Hinblick auf den klaren Wortlaut des – hier noch anwendbaren (Art 19 VO (EU) 2017/1151) – Art 3 Z 6 DVO 692/2008/EG (vgl 10 Ob 31/23s Rz 38) besteht keine Veranlassung, der Anregung des Rekurswerbers auf Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union zu folgen.

[12] 2.1 Der Kläger ist nach der – vom Berufungsgericht beachteten – Rechtsprechung für das Vorliegen einer „Abschalteinrichtung“ im Sinn von Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG nach allgemeinen Regeln behauptungs‑ und beweispflichtig (jüngst 6 Ob 175/23p Rz 53 ua). Der Oberste Gerichtshof hat dazu schon klargestellt, dass einerseits zwischen verschiedenen Arten von (möglichen) Abschalteinrichtungen und andererseits zwischen den Systemen der Abgasrückführung (Thermofenster) und der Abgasnachbehandlung (SCR‑Katalysator) als unterschiedliche Bestandteile des Emissionskontrollsystems zu unterscheiden ist. Greifen die(se) technischen Systeme ineinander, ist auf das Gesamtergebnis, also auf das „Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit“ abzustellen. Bei Vorliegen eines Thermofensters kommt es daher darauf an, ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt (dh unter Einschluss der Abgasnachbehandlung) verringert wird (3 Ob 215/23y Rz 17; 6 Ob 175/23p Rz 54 und 60; 10 Ob 52/23d Rz 11; vgl BGH VIa ZR 335/21 Rn 51).

[13] 2.2 Mit dieser Rechtsprechung stimmt die weitere Rechtsansicht des Berufungsgerichts überein, dass ungeachtet des weiten Temperaturbereichs des Thermofensters im vorliegenden Fall eine Abschalteinrichtung unter Berücksichtigung der Funktionsweise des SCR‑Systems vorliegen kann. Dazu enthält der Rekurs keine Ausführungen. Wenn das Berufungsgericht das Verfahren diesbezüglich für ergänzungsbedürftig hält, kann der Oberste Gerichtshof dem nicht entgegentreten (RS0042179; RS0043414). Bisher fehlt es an Feststellungen, die mit ausreichender Sicherheit beurteilen lassen, ob ein zur Entscheidung 3 Ob 33/23h („Precon“) vergleichbarer Sachverhalt vorliegt, sodass im jetzigen Verfahrensstadium kein Anlass besteht, das Verfahren im Hinblick auf das in dieser Entscheidung gestellte Vorabentscheidungsersuchen zu unterbrechen (vgl 3 Ob 172/23z; 6 Ob 178/23d).

[14] 3. Die Aufhebung der Abweisung des Feststellungsbegehrens wird im Rekurs nicht angesprochen, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist. Im fortgesetzten Verfahren werden jedoch die Entscheidungen 10 Ob 17/23g Rz 26 ff und 8 Ob 90/22a Rz 27 ff zu erörtern sein (vgl 6 Ob 154/23z Rz 14).

[15] Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit des Rekurses hingewiesen.

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