OGH 7Ob67/24i

OGH7Ob67/24i22.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. D* K*, Rechtsanwalt, *, gegen die beklagte Partei F* AG, *, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH, wegen 14.046,30 EUR sA, infolge der Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. November 2023, GZ 60 R 112/23k‑21, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 17. August 2023, GZ 19 C 148/23p‑13, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0070OB00067.24I.0522.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Aus Anlass der Revision werden die Urteile der Vorinstanzen sowie das diesen vorangegangene Verfahren als nichtig aufgehoben und die Klage zurückgewiesen.

Die Kosten werden gegenseitig aufgehoben.

 

Begründung:

[1] Der Kläger schloss 1997 mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine fondsgebundene Lebensversicherung ab, die er 2013 kündigte. Die Beklagte leistete den Rückkaufswert zum 10. 7. 2013 in Höhe von 45.121,36 EUR an den Kläger, der insgesamt Prämien in Höhe von 50.358,31 EUR investiert hatte.

[2] Im Jahr 2018 trat der Kläger wegen fehlender Belehrung über sein Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG vom Vertrag zurück. Dieser Rücktritt wurde mit Urteil vom 2. 8. 2019 des Handelsgerichts Wien zu 20 Cg 64/18t als wirksam beurteilt und die Beklagte zur Rückzahlung der geleisteten Prämien abzüglich des erhaltenen Rückkaufswerts, der Versicherungssteuer und der Risikokosten verurteilt. Das Begehren auf Zahlung von Vergütungszinsen für den Zeitraum August 1997 bis Juni 2013 wurde im Einklang mit der Entscheidung des EuGH C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18 , Rust‑Hacker, wegen Verjährung abgewiesen. Dieses Urteil wurde vom Oberlandesgericht Wien zu 133 R 116/19k bestätigt. Die dagegen erhobene Revision des Klägers wurde vom Obersten Gerichtshof zu 7 Ob 150/20i zurückgewiesen.

[3] Der Kläger begehrt erneut die Zahlung der Vergütungszinsen für den Zeitraum August 1997 bis Juni 2013. Die Versicherungsbedingungen der Beklagten würden mehrere intransparente und missbräuchliche Klauseln zur Fondsveranlagung enthalten. Es handle sich um Hauptleistungsklauseln, welche ersatzlos zu entfallen hätten. Zufolge des Entfalls des Lebensversicherungsvertrags sei das Versicherungsverhältnis bereicherungsrechtlich unter Berücksichtigung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (in Hinkunft auch Klausel‑RL) rückabzuwickeln, wodurch bereits empfangene Leistungen allseits zurückzustellen seien. Klagsgegenständlich sei der Anspruch auf Vergütungszinsen (§ 1000 ABGB), welcher von der jeweils einbezahlten Prämie vom jeweiligen Zahlungstag bis zum Zeitpunkt des Rückkaufs (Juni 2013) in gesetzlicher Höhe gefordert werde. Der Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag einerseits und die Anfechtung des Vertrags wegen intransparenter und missbräuchlicher Klauseln andererseits erfolge vor dem Hintergrund unterschiedlicher Regelungsregime. Das Rücktrittrecht beruhe auf der Richtlinie 90/619/EWG in Verbindung mit der Richtlinie 92/96/EWG („Richtlinie Leben“), während die Anfechtungsmöglichkeit eines Vertrags aufgrund ungültiger Vertragsklauseln auf die Richtlinie 93/13/EWG zurückzuführen sei. Die Rechtsfolgen des Rücktritts seien mit jenen der Gesamtnichtigkeit des Lebensversicherungsvertrags aufgrund gebotenen Klauselentfalls nicht ident. Im Anwendungsbereich der Klausel‑RL sei eine kenntnisunabhängige Verjährung von Vergütungszinsen unionsrechtlich ausgeschlossen.

[4] Die Beklagte bestritt und wandte ein, der Vertrag sei aufgrund des Rücktritts des Klägers schuldrechtlich ex tunc rückabgewickelt worden. Weitere Ansprüche des Klägers aus dem nicht mehr existenten Versicherungsvertrag würden ausscheiden.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger habe den Rücktritt vom Vertrag gemäß § 165a VersVG erklärt, der zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung geführt habe. § 1435 ABGB räume einen Rückforderungsanspruch ein, wenn der zunächst vorhandene rechtliche Grund, wie bei einem Rücktritt wegfalle. Der Wegfall des Vertrags beseitige bei beiden Parteien den Rechtsgrund für das Behalten der empfangenen Leistungen. Die Aufhebung wirke auf den Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses zurück. Es sei denkunmöglich, dass der Kläger aus einer etwaigen Nichtigkeit des Vertrags weitere Ansprüche habe.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Die Bestimmungen zur Rückabwicklung nach einem Rücktritt von einer Lebensversicherung seien von dem Bemühen getragen, eine Situation zu schaffen, die jener am nächsten komme, wenn das Vertragsverhältnis nie eingegangen worden wäre. Der Vertrag sei 2018 rechtswirksam aufgelöst und rückabgewickelt worden, weshalb der Vertrag auch keine missbräuchlichen oder sonstigen Klauseln enthalten könne. Wann der Kläger Kenntnis von der Missbräuchlichkeit der Klausel erlangt habe, sei irrelevant, weil diese zwischen den Parteien nicht mehr existierten. Selbst wenn die Klauseln inhaltlich zu prüfen und für missbräuchlich zu befinden wären, stünde dem Kläger kein Anspruch zu. Zinsenansprüche verjährten innerhalb von drei Jahren ab der objektiven Möglichkeit zur Geltendmachung.

[7] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu. Zur Frage, ob nach einem bereits erfolgten Spätrücktritt nach § 165a VersVG ein weiterer Rücktritt im Hinblick auf die Klausel‑RL zulässig sei, existiere keine höchstgerichtliche Rechtsprechung.

[8] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zulässig, weil aus Anlass des Rechtsmittels von Amts wegen eine Nichtigkeit wahrzunehmen ist und dieser Frage immer erhebliche Bedeutung zur Wahrung der Rechtssicherheit zukommt (RS0042743; RS0041896 [T7]).

[11] 1. Nach § 411 Abs 2 ZPO ist die Rechtskraft eines Urteils von Amts wegen zu berücksichtigen. Die Einmaligkeitswirkung der materiellen Rechtskraft setzt Identität des Anspruchs der Parteien und des rechtserzeugenden Sachverhalts voraus (RS0039347; vgl RS0041340). Sie schließt die neuerliche Anhängigmachung desselben Begehrens, das auf denselben rechtserzeugenden Sachverhalt gestützt ist, aus (RS0039347; RS0041115 [T4]). Liegt das Prozesshindernis der entschiedenen Sache vor, ist dem Gericht eine Sachverhandlung und Entscheidung verwehrt. Wurde das Prozesshindernis nicht wahrgenommen, liegt ein Nichtigkeitsgrund vor, der in jeder Lage des Verfahrens bis zur Rechtskraft der Entscheidung im zweiten Prozess zur amtswegigen Aufhebung des durchgeführten Verfahrens und der neuerlichen Entscheidung sowie zur Zurückweisung der Klage führen muss (RS0041115 [T3]).

[12] 1.2 Identität des Anspruchs liegt nur dann vor, wenn das neu gestellte Begehren sowohl inhaltlich dieselbe Leistung, Feststellung oder Rechtsgestaltung fordert, wie sie bereits Gegenstand des rechtskräftigen Vorerkenntnisses war, als auch die zur Begründung des neuen Begehrens vorgetragenen rechtserzeugenden Tatsachen dieselben sind, auf die sich auch die rechtskräftige Entscheidung gründet, sodass sie auch zwangsläufig dieselbe rechtliche Beurteilung zur Folge haben muss (RS0041229).

[13] 1.3 Als Teil der Bindungswirkung ist die Präklusionswirkung anerkannt. Dementsprechend wird durch die Rechtskraft der Vorentscheidung auch das Vorbringen aller Tatsachen ausgeschlossen, die zur Begründung oder Widerlegung des entschiedenen Anspruchs rechtlich erforderlich waren und schon bei Schluss der mündlichen Verhandlung bestanden haben (RS0041321 [T1]). Die Rechtskraftwirkung besteht darin, dass die Rechtsbeziehungen zwischen den Streitteilen hinsichtlich des strittigen Rechtschutzanspruchs unbestreitbar, dauernd bindend und daher unwiderlegbar und unabänderbar festgestellt werden. Diese Wirkung kann nur nach den in der Rechtsordnung vorgesehenen Regeln beseitigt werden (RS0041272). Das nachfolgend angerufene Gericht hat in einem solchen Fall von dem bereits rechtskräftig entschiedenen Anspruch auszugehen und ihn ohne weiteres seiner neuen Entscheidung zugrundezulegen (RS0041321 [T2]). Ein neues Vorbringen ist durch die Rechtskraft dann nicht präkludiert, wenn es mit dem Prozessstoff des ersten Rechtsstreits nicht im Zusammenhang steht (RS0036744).

[14] Die Rechtskraft hindert auch die neuerliche Geltendmachung eines aufgrund der Rechtslage bei Schluss der mündlichen Verhandlung verneinten Anspruchs, soweit diese aufÄnderungen der Rechtslage nach diesem Zeitpunkt gestützt wird. Die Änderung der Rechtslage kann einen neuen Anspruch gewähren, aber niemals den vor ihrer Wirksamkeit liegenden Zeitabschnitt erfassen (vgl Klicka in Fasching/Konecny 3 III/2 § 411 ZPO Rz 100 mwN). Auch die bloße Änderung der Rechtsauffassung in Lehre und Rechtsprechung ist von der Rechtskraft umfasst. Das Abgehen von einer ständigen Rechtsprechung rechtfertigt keine neuerliche Klage zur Bekämpfung der rechtskräftigen Vorentscheidung und stellt auch keinen Wiederaufnahmegrund dar (KlickaaaO § 411 ZPO Rz 101).

[15] 1.4 Im vorliegenden Verfahren begehrt der Kläger – wie schon im Vorverfahren – die Zahlung der Vergütungszinsen aus den im Zeitraum August 1997 bis Juni 2013 geleisteten Prämien, gegründet auf die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung des Vertrags. Somit ist das Begehren jedenfalls ident. Sein neues Vorbringen und seine neue rechtliche Beurteilung, die behauptete Intransparenz oder Missbräuchlichkeit einiger Vertragsklauseln hätte zur Nichtigkeit des Vertrags und zu einem doch nicht verjährten Anspruch der Zahlung von Vergütungszinsen geführt, steht im Zusammenhang mit dem Prozessstoff des Vorprozesses und ist präkludiert.

[16] 2.1 Nach dem vom EuGH etablierten „Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten“ obliegen die Modalitäten der Verfahren zum Schutz der unionsrechlichen Rechte Einzelner mangels unionsrechtlicher Regelung grundsätzlich der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten (statt vieler C‑869/19 , Unicaja Banco Rn 22). In deren Zuständigkeitsbereich fällt somit insbesondere die Ausgestaltung des Grundsatzes der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen (C‑234/04 , Kapferer Rn 21).

[17] 2.2 Zwar räumtein nicht vergleichbaren gesondert gelagerten Fällen der EuGH dem Verbraucherschutz – insbesondere die Durchsetzung der subjektiven Rechte, die sich aus Art 6 Abs 1 Klausel‑RL ergeben, derzufolge missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern für letztere unverbindlich sind – gegenüber den tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts große Bedeutung ein (vgl beispielsweise C‑421/14 , Banco Primus Rn 49; C‑600/19 , Ibercaja Banco Rn 40; C‑693/19 und C‑831/19 , SPV Project 1503 und Dobank ; C‑869/19 Unikaja Banco Rn 33).

[18] 2.3 Die Frage, ob der Effektivitätsgrundsatz es erfordert, sich über die nationalen Rechtskraftregeln hinwegzusetzen, um das Aufgreifen missbräuchlicher Vertragsklauseln im Sinn der Klausel-RL zu gewährleisten, stellt sich hier jedoch nicht:

[19] Der vorliegende Fall ist nämlich dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger mit Schreiben vom 30. 7. 2018 sein Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG ausübte, was zu einer Vertragsaufhebung mit schuldrechtlicher ex‑tunc‑Wirkung führte. Dies bedeutet, der Vertrag wurde rückwirkend auf den Vertragsabschlusszeitpunkt beseitigt, sodass die Rechtslage so zu beurteilen ist, als ob der Vertrag nie abgeschlossen worden wäre (vgl Rieder in Schwimann/Kodek ABGB Praxiskommentar5 § 871 Rz 40 mwN). Etwaige Klauseln des Lebensversicherungsvertrags wurden damit nicht wirksam und entfalteten auch keine Verbindlichkeit gegenüber dem Kläger. Der Effektivitätsgrundsatz erfordert aber keine Einschränkung österreichischer Rechtskraftregeln um – für den Kläger ohnedies nicht verbindliche – vermeintlich missbräuchliche Vertragsklauseln aufzugreifen.

[20] 3. Daher bedarf es – entgegen der Anregung des Klägers – keiner Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Frage, ob dem Verbraucher die Berufung auf missbräuchliche Vertragsklauseln und somit die Geltendmachung der Nichtigkeit eines Vertrags zu verweigern sei, wenn dieser Vertrag aufgrund eines vom Verbraucher ausgeübten Rücktrittsrechts beendet ist.

[21] 4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 51 Abs 2 ZPO.

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