OGH 16Ok5/23f

OGH16Ok5/23f17.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Kartellobergericht durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Parzmayr und Dr. Annerl und die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Herzele und KR Dr. Dernoscheg als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, Wien 3, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerin E*, wegen Feststellung gemäß § 28 KartG 2005, über den Rekurs des Bundeskartellanwalts, Wien 1, Hansenstraße 6, gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 22. Juni 2023, GZ 28 Kt 3/23k‑15, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0160OK00005.23F.0517.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird in seinem Punkt 1 aufgehoben und dem Erstgericht insoweit die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Die Antragsgegnerin betrieb ein nicht im Firmenbuch eingetragenes Einzelunternehmen. Sie war unter anderem im Bereich der Marktforschung tätig.

[2] Die Antragsgegnerin stimmte mehrere Angebote für die Erstellung von Studien und Meinungsumfragen mit zwei weiteren Unternehmerinnen (der K* GMBH und der B* GmbH) ab, um die jeweiligen Auftraggeber zur Annahme des Angebots der K* GMBH (nachfolgend kurz „begünstigte Gesellschaft“) zu bewegen. Zu diesem Zweck erstellten sowohl die Antragsgegnerin als auch die B* GmbH (nachfolgend kurz „Mitbewerberin“) Deckungsangebote, die preislich über dem Angebot der begünstigten Gesellschaft lagen. Ein solches Zusammenwirken erfolgte ua bei folgenden Aufträgen (darüber hinaus auch bei weiteren Aufträgen, die nicht Gegenstand des Rekursverfahrens sind):

[3] Das Bundesministerium für öffentlichen Dienst und Sport beabsichtigte 2019 die Erstellung einer Studie zum Thema „Bewegung und Sport“. Verantwortliche des Ministeriums wollten die begünstigte Gesellschaft im Wege einer Direktvergabe beauftragen. Dafür waren aufgrund einer internen Vorgabe aber zwei weitere Vergleichsangebote notwendig. Dies wurde der Geschäftsführerin der begünstigten Gesellschaft mitgeteilt. Sie kontaktierte die Mitbewerberin und ersuchte sie, ein Vergleichsangebot zu legen sowie einen weiteren Mitbewerber für ein solches zu nennen. Die Mitbewerberin nannte ihr unter anderem die Antragsgegnerin als weitere Anbieterin. Die Geschäftsführerin der begünstigten Gesellschaft gab die Daten beider Mitbieterinnen an den Auftraggeber weiter. In der Folge wurden alle drei zur Angebotslegung aufgefordert. Sowohl die Antragsgegnerin als auch die Mitbewerberin gaben Scheinangebote ab, um der begünstigten Gesellschaft zum Zuschlag zu verhelfen. Deren Geschäftsführerin machte beiden Mitbieterinnen konkrete Vorgaben für deren Angebote. Alle drei stimmten ihre Angebote so ab, dass der Preis der begünstigten Gesellschaft unter jenem der beiden Mitbieterinnen lag. Die Mitbewerberin und die Antragsgegnerin sollten am Auftrag als Subauftragnehmer profitieren. Der Auftrag wurde der begünstigten Gesellschaft erteilt.

[4] Eine weitere Auftragsvergabe betraf die Studie „Frauen im Vereinssport“ für das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport im Jahr 2020. Auch dazu war vom Auftraggeber eine Beauftragung der begünstigten Gesellschaft „angepeilt“. Die Antragsgegnerin und die Mitbewerberin wurden neuerlich um Vergleichsangebote ersucht. Die Geschäftsführerin der begünstigten Gesellschaft forderte diese wieder – unter konkreten inhaltlichen Vorgaben – auf, Scheinangebote zu legen, um dieser zum Zuschlag zu verhelfen. Aufgrund dieser Absprache legte die begünstigte Gesellschaft ein Angebot um 63.890 EUR und die Mitbewerberin sowie die Antragsgegnerin jeweils ein Angebot mit einem darüber liegenden Preis. Die begünstigte Gesellschaft wurde mit der Erstellung der Studie beauftragt.

[5] Aufgrund des Verdachts, die Antragsgegnerin habe in Vergabeverfahren Angebote gelegt, die auf rechtswidrigen Absprachen über den Preis und den Inhalt der Angebote beruht und darauf abgezielt hätten, die Auftraggeber zur Annahme eines bestimmten Angebots, nämlich jenes der begünstigten Gesellschaft, zu veranlassen, leitete die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption („WKStA“) ein Ermittlungsverfahren gegen die Antragsgegnerin ein. Am 23. 11. 2022 bot die WKStA der Antragsgegnerin gemäß § 201 Abs 1 StPO eine diversionelle Erledigung durch Erbringung gemeinnütziger Leistungen und Leistung eines pauschalen Kostenbeitrags an. Die Antragsgegnerin erbrachte diese Leistungen. Am 3. 4. 2023 trat die WKStA gemäß § 201 Abs 5 StPO von der Verfolgung der Antragsgegnerin zurück.

[6] Die Antragstellerinbegehrte aufgrund der Teilnahme der Antragsgegnerin an diesen – sowie weiteren –Submissionsabsprachen zunächst die Verhängung einer Geldbuße gemäß § 29 Abs 1 Z 1 lit a KartG in angemessener Höhe über die Antragsgegnerin. Nachdem das gegen diese geführte strafrechtliche Ermittlungsverfahren mit Diversion beendet worden und die WKStA von der Verfolgung zurückgetreten war, begehrte die Antragstellerin nur mehr die Feststellung einer Zuwiderhandlung der Antragsgegnerin gegen § 1 KartG gemäß § 28 Abs 1 KartG, weil aufgrund der geringen Umsätze der Antragsgegnerin nur die Verhängung einer niedrigen Geldbuße zu erwarten wäre, welche ihren präventiven Zweck nicht erfüllen könne. Im Hinblick auf ihre untergeordnete Beteiligung, ihre bisherige Verantwortung und die beabsichtigte Schließung ihres Unternehmens sei mit keinen weiteren Zuwiderhandlungen der Antragsgegnerin zu rechnen. Eine spürbare Geldbuße würde außerdem ihr Fortkommen gefährden. Aufgrund der im öffentlichen Interesse gelegenen Aufklärung des gegenständlichen Kartells bestehe aber ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Zuwiderhandlung.

[7] Die begehrte Feststellung betreffend die Studien „Bewegung und Sport“ und „Frauen im Vereinssport“ verstoße nicht gegen das Doppelbestrafungsverbot, weil das Kartellverfahren und das strafrechtliche Ermittlungsverfahren auf unterschiedlichen Tatbeständen beruhten und auf unterschiedliche Schutzobjekte abzielten. Während § 168b StGB dem Schutz des Vermögens des Auftraggebers im Vergabeverfahren diene, verfolge § 29 KartG die Durchsetzung der kartellrechtlich vorgesehenen Wirtschaftsordnung.

[8] Der Bundeskartellanwaltschloss sich dem Antrag und dem Vorbringen der Antragstellerin an. Weder die ursprünglich angestrebte Verhängung einer Geldbuße noch die zuletzt angestrebte Feststellung nach § 28 Abs 1 KartG würden gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen. Letztere sei als „Pendant“ zur Abstellung eines bereits beendeten Wettbewerbsverstoßes „eher“ dem Zivilrecht zuzuordnen und stelle keine Sanktion strafrechtlicher Natur dar. Aus dem Urteil des EuGH zu C‑151/20 , Nordzucker ua, wonach auch ein Verfahren, in dem ein Wettbewerbsverstoß lediglich festgestellt werden soll, dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen könne, sei für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen, weil dort ein Feststellungsbegehren gegen einen Kronzeugen zu beurteilen gewesen sei. Eine Doppelbestrafung sei nach der Judikatur des EuGH und des EGMR unter bestimmten Voraussetzungen auch zulässig, wenn das strafrechtliche und das wettbewerbsrechtliche Verfahren – wie hier – komplementäre Zwecke verfolgten, eine Kumulierung der Verfolgung und Sanktionierung vorhersehbar gewesen sei, die Möglichkeit für die Behörden bestehe, koordiniert vorzugehen, beide Verfahren in einem zeitlichen Zusammenhang geführt würden und es – wie hier durch die bloße Feststellung des Wettbewerbsverstoßes – zu keiner unverhältnismäßigen Belastung der betreffenden Person komme.

[9] Die Antragsgegnerin trat den Anträgen inhaltlich nicht entgegen.

[10] Das Erstgericht wies den Antrag auf Feststellung, dass die Antragsgegnerin an einer Zuwiderhandlung gegen § 1 KartG in Form kartellrechtswidriger Absprachen zum Zweck der Abstimmung von Angeboten im Bereich der Erstellung von Marktstudien teilgenommen habe, insoweit zurück, als sich diese Absprachen auf die Studien „Bewegung und Sport“ und „Frauen im Vereinssport“ bezogen hätten. Im Übrigen – hinsichtlich in zweiter Instanz nicht mehr relevanter Kartellverstöße – gab es dem Feststellungsbegehren statt.

[11] Die Abstimmung der Angebote und das darauf basierende Legen von „Deckangeboten“ habe eine verbotene Wettbewerbsbeschränkung bewirkt, die als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot anzusehen sei. Der Antragstellerin komme ein berechtigtes Interesse an der Feststellung dieser Wettbewerbsverstöße zu.

[12] Die angestrebte Feststellung von Wettbewerbsverstößen durch Absprachen bei der Vergabe von Aufträgen zur Erstellung der Studien „Bewegung und Sport“ sowie „Frauen im Vereinssport“ verstoße jedoch gegen das Doppelbestrafungsverbot der Art 4 7. ZP‑EMRK sowie Art 50 GRC.

[13] Nach der Rechtsprechung des EGMR seien „doppelte Verfahren“ zwar nicht generell unzulässig. Ein Verstoß gegen Art 4 7. ZP‑EMRK könne aber nur ausgeschlossen werden, wenn beide Verfahren „inhaltlich und zeitlich ausreichend eng verbunden“, die verfolgten Zwecke und die zu ihrer Erreichung verwendeten Mittel im Wesentlichen komplementär und die möglichen Konsequenzen beider Verfahren verhältnismäßig und vorhersehbar seien.

[14] Nach der Judikatur des EuGH solle der in Art 50 GRC normierte Grundsatz ne bis in idem verhindern, dass ein Unternehmen erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird, obwohl es dafür bereits in einer früheren (unanfechtbaren) Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde. Ein Kartellverfahren, in dem wegen der Teilnahme an einem nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht bloß festgestellt werden könnte, könne gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen. Das Doppelbestrafungsverbot des Art 50 GRC stehe der Verhängung einer Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union nach einer bereits wegen desselben Sachverhalts verhängten Sanktion aber nicht entgegen, wenn klare und präzise Regelungen bestünden, anhand derer vorhersehbar sei, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage komme, und diese Regelungen eine Koordinierung der jeweils zuständigen Behörden ermöglichen, sofern beide Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt würden und die verhängten Sanktionen insgesamt der Schwere der begangenen Straftaten entsprächen.

[15] Die rechtswissenschaftliche Lehre vertrete teilweise, dass eine doppelte Sanktionierung eines „Submissionskartells“ nach § 29 KartG und § 168b StGB gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoße, weil beide Bestimmungen dasselbe Rechtsgut, nämlich den freien Wettbewerb, schützten. Kriminalstrafrechtliche Sanktionen und Kartellgeldbußen dienten also keinen komplementären Zwecken im Sinn der Rechtsprechung des EGMR und des EuGH. Andere Autoren verneinten hingegen einen Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot, weil es sich bei § 168b StGB und § 29 KartG um komplementäre rechtliche Antworten auf sozialschädliche Verhaltensweisen handle, unterschiedliche Rechtsgüter geschützt würden und die Möglichkeit einer Koordinierung der Verfahren (im Wege der Amtshilfe) bestehe.

[16] Auf Basis dieser – im angefochtenen Beschluss ausführlich dargestellten – Rechtsprechung und Lehre stellte das Erstgericht folgende Erwägungen zum konkreten Fall an:

[17] Ob neben einer Strafe nach § 168b StGB auch eine Geldbuße nach § 29 KartG verhängt werden dürfe, sei gesetzlich ebensowenig geregelt, wie der Fall der parallelen Führung eines strafrechtlichen und kartellrechtlichen Verfahrens. § 168b StGB knüpfe zwar an das Kartellrecht an, weil nur eine kartellrechtlich unzulässige Absprache strafbar sei. Diese Bestimmung erfasse durch die Bezugnahme auf Vergabeverfahren aber nur einen kleinen Ausschnitt der nach § 1 KartG verbotenen Verhaltensweisen. Während § 1 KartG bloß eine verbotene Willensübereinstimmung voraussetze, fordere § 168b StGB (soweit hier relevant) das Legen eines Angebots als Tathandlung. Das Kartellrecht sanktioniere Unternehmer und Unternehmervereinigungen, § 168b StGB hingegen die „für einen Verband handelnde“ natürliche Person und auch dies nur im „besonders gravierenden Fall des vorsätzlichen Submissionskartells“. Die Geldbuße nach § 29 KartG schütze (zumindest als Reflexwirkung) neben der kartellrechtlichen Wirtschaftsordnung auch das Vermögen der jeweiligen Marktgegenseite. § 168b StGB verfolge den selben Zweck wie § 1 iVm § 29 KartG, nämlich den Schutz des Wettbewerbs (im Vergabeverfahren) und damit des Vermögen des Auftraggebers. Dies gelte auch für die – hier angestrebte – Feststellung einer Zuwiderhandlung nach § 28 KartG. Einer strafrechtlichen Verurteilung nach § 168b StGB komme dieselbe Feststellungswirkung für den Geschädigten zu wie einer kartellrechtlichen Feststellung. Außerdem sei das Feststellungsverfahren nach § 28 KartG – aufgrund der Veröffentlichung des dazu ergehenden Beschlusses – ebenso mit einer stigmatisierenden Wirkung verbunden wie das Strafverfahren. Die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen § 1 KartG bringe ebenso wie eine strafrechtliche Verurteilung einen „staatlichen Tadel“ zum Ausdruck. Die kartellrechtliche Feststellung stelle in einem weiteren Kartellverfahren wegen gleichartiger Zuwiderhandlungen auch einen Erschwerungsgrund dar. Im Verfahren nach § 28 KartG spielten – wie im Strafprozess – auch spezial- und generalpräventive Gründe eine Rolle.

[18] Das kartellrechtliche Feststellungsverfahren weise somit wesentliche Merkmale eines Strafverfahrens auf, sodass komplementäre Zwecke nach § 168b StGB und § 28 KartG zu verneinen seien. Straf- und Kartellverfahren seien – im Sinn der Judikatur des EGMR und des EuGH – auch nicht hinreichend koordiniert, da das Verhältnis beider Verfahren weitgehend ungeregelt sei. Es sei auch nicht gewährleistet, dass beide Verfahren in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt würden. Schließlich bestehe auch keine Regelung über eine Anrechnung oder Berücksichtigung der im jeweils anderen Verfahren verhängten Sanktion.

[19] Für das vorliegende Verfahren sei daher nicht sichergestellt, dass eine zusätzliche Belastung durch Kumulierung straf- und kartellrechtlicher Sanktionen auf das zwingend Erforderliche beschränkt wären. Die Antragsgegnerin habe die Bedingungen für die diversionelle Erledigung ihres Strafverfahrens vor Erhebung des vorliegenden Feststellungsantrags erfüllt, bei den Wettbewerbsverstößen nur eine untergeordnete Rolle gespielt, diese aus eigenem und vor Einleitung behördlicher Erhebungen eingestellt und maßgeblich zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen. Angesichts dieser Umstände – sowie im Hinblick auf die vom EGMR und EuGH geforderte Verhältnismäßigkeit der Schwere der verhängten Sanktionen in Bezug auf die verfolgten Handlungen – sei eine zusätzliche Sanktionierung auch durch eine bloße Feststellung nach § 28 KartG nicht zwingend erforderlich.

[20] Zusammengefasst verstoße das Kartellverfahren daher – soweit die Wettbewerbsverstöße bereits Gegenstand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens waren – gegen den Grundsatz ne bis in idem.

[21] Dagegen richtet sich der von der Antragstellerin und der Antragsgegnerin unbeantwortet gebliebene Rekurs des Bundeskartellanwaltsmit dem Antrag, den zurückweisenden Teil der erstinstanzlichen Entscheidung aufzuheben und auch hinsichtlich der dort genannten Absprachen einen Verstoß gegen § 1 KartG festzustellen. In seiner Rechtsrüge kritisiert der Rekurswerber die Rechtsansicht des Kartellgerichts, wonach die beantragte Feststellung gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art 4 7. ZP‑EMRK bzw Art 50 GRC verstoße.

Rechtliche Beurteilung

[22] Der Rekurs ist im Ergebnis berechtigt.

1. Grundsätzliches zu den Kartellsanktionen

[23] 1.1. Mit der Kartellrechtsnovelle 2002 (BGBl I 2002/62) wurde das bis dahin bestehende System gerichtlicher Straftatbestände für Verstöße gegen das KartG durch Einführung einer vom Kartellgericht aufzuerlegenden Geldbuße in § 142 KartG 1988 (nunmehr § 29 KartG 2005) neu gestaltet (16 Ok 5/08). Das Geldbußenverfahren ist demnach nicht (mehr) den Strafbehörden, sondern dem Kartellgericht zugeordnet (16 Ok 4/07). Kartellrechtliche Geldbußen sanktionieren zwar ein bestimmtes Verhalten, richten sich aber nicht an die Allgemeinheit, sondern – soweit hier relevant – nur gegen eine bestimmte Personenkategorie, nämlich Unternehmer, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Sie sind nach ihrer „wahren Natur“ nicht gegen strafrechtliche Zuwiderhandlungen gerichtet, sondern Mittel staatlichen Zwangs, um die kartellrechtlich vorgesehene Wirtschaftsordnung durchzusetzen. Pönalisiert wird nicht Kriminalunrecht, sondern die Verletzung von Wettbewerbsvorschriften. Kartellrechtliche Geldbußen sind daher weder „echte“ Kriminalstrafen (16 Ok 4/07 mwN) noch Verwaltungsstrafen (etwa Zeder in Hinterhofer, Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch [2003] § 168b StGB Rz 33; Reidlinger in Kert/Kodek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht² [2022] Rz 16.106). Nach ständiger Judikatur kommt ihnen aber Präventionsfunktion zu (RS0130389; vgl auch Zeder, Die österreichischen Kartellbußen am Maßstab des Kriminalrechts, JBl 2007, 477 [478]). Sie werden daher als Sanktionen mit „strafrechtsähnlichem Charakter“ angesehen (RS0120560).

[24] 1.2. Mit der Kartellrechtsnovelle 2002 wurde § 168b in das StGB eingefügt. Danach ist zu bestrafen, wer bei einem Vergabeverfahren einen Teilnahmeantrag stellt, ein Angebot legt oder Verhandlungen führt, die auf einer rechtswidrigen Absprache beruhen, die darauf abzielt, den Auftraggeber zur Annahme eines bestimmten Angebots zu veranlassen. Nach den Materialien sollte ein Ersatztatbestand geschaffen werden, soweit § 129 KartG 1988 zur Abdeckung von Absprachen im Vergabeverfahren herangezogen wurde (ErläutRV 1005 BlgNR 21. GP  32). Der Wegfall kartellrechtlicher Strafbestimmungen habe zu einer Lücke im Bereich der Korruption im Vergabewesen geführt, die durch § 168b StGB geschlossen werde (ErläutRV 1005 BlgNR 21. GP  19). Vorbild dieser Bestimmung war § 298 des deutschen StGB. Der Ministerialentwurf übernahm dessen Text nahezu wörtlich, ordnete § 168b StGB aber als Vermögensdelikt ein (Kirchbacher/Ifsits in Höpfel/Ratz, WK‑StGB² [2022] § 168b Rz 7 f).

[25] 1.3. Das Kartellgericht kann Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot gemäß § 26 KartG 2005 auch abstellen und den Kartellbeteiligten zu diesem Zweck die erforderlichen Aufträge erteilen. Diesen kommt kein strafrechtlicher Charakter zu (5 Ob 154/07v mwN).

[26] 1.4. Nach § 28 KartG kann das Kartellgericht eine Zuwiderhandlung – wenn diese bereits beendet ist – auch bloß feststellen, soweit daran ein berechtigtes Interesse besteht. Einer solchen Feststellung kann ua für allfällige Schadenersatzprozesse oder künftige Zuwiderhandlungen Bedeutung zukommen (16 Ok 4/13).

2. Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem)

2.1. Keine ausdrückliche Regelung im KartG

[27] Das KartG enthält keine Regelung der Frage, ob die Teilnahme an einem Submissionskartell nur nach § 168b StGB zu bestrafen ist oder ob dafür auch nach § 29 KartG eine Geldbuße verhängt oder nach § 28 KartG eine Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot festgestellt werden kann (zur Geldbuße etwa Zeder, JBl 2007, 477 [480]; B. Müller/E. Müller, Ne bis in idem: Geldbußen und Kriminalstrafen für Submissionskartelle, wbl 2014, 61 [66]; vgl auch Maier, Unionsrechtliche Probleme einer parallellaufenden Sanktionierung von Submissionskartellen, ÖZK 2021, 49: „keine verfahrensrechtlichen Kollisionsregelungen“).

2.2. Art 4 7. ZP-EMRK

2.2.1. Wortlaut der Bestimmung

[28] Auf verfassungsgesetzlicher Ebene (vgl Muzak, B‑VG6 [2020] Vor MRK Rz 1 mwN) ist das Verbot der Doppelverfolgung und -bestrafung in Art 4 7. ZP‑EMRK verankert. Demnach darf niemand „wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden“.

[29] In der authentischen englischen Fassung lautet die Konventionsbestimmung wie folgt: „No one shall be liable to be tried or punished again in criminal proceedings under the jurisdiction of the same State for an offence for which he has already been finally acquitted or convicted in accordance with the law and penal procedure of that State.“

[30] Die ebenfalls authentische französische Fassung des Art 4 7. ZP‑EMRK lautet: „Nul ne peut ȇtre poursuivi ou puni pénalement par les juridictions du mȇme État en raison d'une infraction pour laquelle il a déjàété acquitté ou condamné par un jugement définitif conformément à la loi et à la procédure pénale de cet État.“

2.2.2. Inhalt und Reichweite des Art 4 7. ZP‑EMRK

[31] 2.2.2.1. Der sachliche Schutzbereich des Art 4 7. ZP‑EMRK betrifft den jeweiligen Mitgliedstaat. Wegen „derselben strafbaren Handlung“ darf also niemand im selben Staat („under the jurisdiction of the same State“) mehrfach verfolgt oder verurteilt werden. Die neuerliche Strafverfolgung einer in einem anderen Staat sanktionierten strafbaren Handlung verstößt nicht gegen Art 4 7. ZP‑EMRK (Giese in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht [2021] Art. 4 7. ZP‑EMRK Rz 7).

[32] 2.2.2.2. Art 4 Abs 1 7. ZP‑EMRK normiert nicht nur ein materielles Doppelbestrafungsverbot, sondern auch ein prozessuales Doppelverfolgungsverbot (etwa Starl, Idealkonkurrierend verwirklichte Finanzvergehen und der Grundsatz ne bis in idem, ZWF 2020, 307; Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht Allgemeiner Teil16 [2020] Rz 38.55a; Birklbauer, Der Ne-bis-in-idem-Grundsatz für nationale Straftaten in Österreich, in Leitner, Finanzstrafrecht 2006 [2007] 177 [182 f]). Unzulässig ist also nicht nur eine neuerliche Bestrafung derselben Straftat, sondern bereits die Einleitung eines zweiten Strafverfahrens (EGMR 29. 5. 2001, 37950/97, Fischer, Rz 22; Birklbauer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2011] § 17 Rz 49 ua).

[33] 2.2.2.3. Prozessuale Sperrwirkung kommt nur Entscheidungen zu, die in einem Strafverfahren iSd Art 4 7. ZP‑EMRK ergingen. Sie wirkt auch nur für solche Strafverfahren. Der Begriff „Strafverfahren“ ist dabei analog zu Art 6 und 7 EMRK autonom auszulegen. Der EGMR wendet dafür die sogenannten „Engel-Kriterien“ an und stellt auf die Einordnung der Zuwiderhandlung im nationalen Recht, auf Art und Schwere der angedrohten Sanktion sowie auf die Natur des Vergehens ab (etwa 15. 11. 2016, 24.130/11 und 29.758/11, A und B/Norwegen, Rn 105 ff mwN). Ein kumulativer Zugang ist nicht ausgeschlossen, wenn eine Analyse der einzelnen Kriterien keinen klaren Schluss auf das Vorliegen einer „strafrechtlichen Anklage“ zulässt (EGMR 8. 7. 2019, 54012/10, Mihalache / Rumänien , Rn 54).

[34] 2.2.2.4. In der Rechtssache A. Menarini Diagnostics (27. 9. 2011, 43509/08, Rn 38 ff) legte der EGMR dar, dass Kartellbußen als Strafen iSd Art 4 7. ZP‑EMRK angesehen werden können, weil (wenn) sie sich durch einen „abschreckenden sowie vergeltenden Charakter […] und eine die Schwere des Vergehens belegende erhebliche Sanktion darstellen, die zur Auferlegung einer finanziellen Belastung führen könne. Unabhängig davon, dass eine solche Maßnahme ihre Grundlage im Kartell- und nicht im (Kern-)Strafrecht finde, weise sie einen strafrechtlichen bzw strafrechtsähnlichen […] Charakter auf“ (EGMR aaO Rn 44). Zu erwähnen ist auch die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Öztürk/Deutschland (21. 2. 1984, 8544/79, insb Rn 53), wonach eine Geldbuße nach dem deutschen OrdnungswidrigkeitenG – das auch Grundlage für die Verhängung von Geldbußen wegen Wettbewerbsverstößen ist – eine solche Strafe sei.

[35] Nach der überwiegenden Literatur handelt es sich bei kartellrechtlichen Geldbußen um Strafen und beim Geldbußenverfahren um eine strafrechtliche Anklage iSd EMRK (etwa Rosbaud, Das Kartellstrafrecht ist tot! Lang lebe das Kartellstrafrecht!, JBl 2003, 907; Zeder, JBl 2007, 477 [479]; B. Müller/E. Müller, wbl 2014, 61 [62 f], je mwN).

[36] 2.2.2.5. Art 4 7. ZP‑EMRK setzt eine (rechtskräftige) Verurteilung (conviction) oder einen Freispruch (acquittal) im ersten Verfahren voraus.

[37] Dass die Einstellung („discontinuance“) eines Strafverfahrens durch den Staatsanwalt weder einer Verurteilung noch einem Freispruch iSd Art 4 7. ZP‑EMRK entspreche, legte der EGMR bereits mehrfach dar (etwa 27. 5. 2014, 4455/10, Margus/Kroatien, Rn 120; 8. 7. 2019, 54012/10, Mihalache / Rumänien , Rn 96). Zu Mihalache / Rumänien (aaO Rn 95) ging der EGMR allerdings davon aus, dass eine Verurteilung oder ein Freispruch nicht durch ein Gericht erfolgen müsse, sondern es darauf ankomme, ob es sich um die Entscheidung einer Behörde mit judiziellen Aufgaben im Rahmen der Strafrechtspflege gehandelt habe, der nach nationalem Recht die Befugnis zukomme, das einer Person vorgeworfene rechtswidrige Verhalten festzustellen und gegebenenfalls zu bestrafen („competent under domestic law to establish and, as appropriate, punish the unlawful behaviour of which the person has been accused“; vgl eingehend Pkt 3.2.2.3).

[38] Der EGMR stellte in dieser Entscheidung (aaO Rn 97) außerdem klar, dass einer behördlichen Entscheidung nur dann die Qualität einer „Verurteilung“ oder eines Freispruchs iSd Art 4 7. ZP‑EMRK zukommen könne, wenn eine inhaltliche Beurteilung des Falls in der Sache („a determination as to the merits of the case“) erfolgt sei. Dies bestätigte er auch in seiner Entscheidung Smokovic/Kroatien (12. 11. 2019, 57849/12, Rn 37 f) und (wohl) auch in der Rechtssache Horhat/Rumänien (3. 3. 2020, 53173/10, Rn 34).

[39] 2.2.2.6. Zur Tatidentität nach Art 4 7. ZP‑EMRK verlief die Rechtsprechung des EGMR nicht linear:

[40] Zunächst verfolgte der Gerichtshof einen rein prozessualen Ansatz, wonach es für die Identität der Tat nur auf denselben (Lebens‑)Sachverhalt ankam (etwa 23. 10. 1995, 15963/90, Gradinger/Österreich, Rn 55: „same conduct“).

[41] In der Folge argumentierte er mit einem eher materiell-rechtlichen Tatbegriff und stellte darauf ab, ob (gesetzliche) Straftatbestände die „gleichen wesentlichen Elemente“ aufweisen (etwa EGMR 29. 5. 2001, 37950/97, Fischer/Österreich, Rn 25: „whether or not such offences have the same essential elements“; vgl auch Rn 31;EGMR30. 5. 2002, 38275/97, W. F./Österreich, Rn 23: „tried or punishes twice for the same aspect of one criminal act“; vgl auch Rn 25 mit dem Hinweis auf Fischer/Österreich; auf diese Entscheidung bezugnehmend auch die Entscheidung vom 6. 6. 2002, 38237/97, Sailer/Österreich, Rn 25).

[42] Um diese Judikaturlinien zu harmonisieren, kehrte der EGMR in seiner Entscheidung in der Rechtssache Zolotukhin/Russland (10. 2. 2009, 14939/03) zu einem prozessualen Tatbegriff zurück. Demnach sei Art 4 7. ZP‑EMRK so zu verstehen, dass die weitere Verfolgung oder Bestrafung einer Tat verboten sei, wenn sie aus denselben Sachverhaltselementen oder aus Sachverhaltselementen, die im Wesentlichen dieselben sind, resultiert (aaO Rn 82: „as it arises from identical facts or facts which are substantially the same“).

[43] In der Folge setzte der EGMR diese „faktenbasierte“ Rechtsprechung im Wesentlichen fort (vgl etwa 14. 1. 2010, 2376/03, Tsonyo Tsonev/Bulgarien, Rn 52: „facts of the two offences [...] substantially the same“; siehe auch Rn 56: substantially the same facts“; ebenso etwa 8. 7. 2019, 54012/10, Mihalache/Rumänien, Rn 67: „factual approach“). Teilweise bezog er dabei aber auch die jeweils zu beurteilenden Tatbestände in die Beurteilung ein und nahm die Prüfung einer Übereinstimmung der Sachverhalte danach vor, ob diese jeweils das wesentliche Element der Subsumtion bilden (so etwa zu Tsonyo Tsonev/Bulgarien in Rn 52; ebenso in der Entscheidung vom 14. 1. 2014, 32042/11, Muslija/Bosnien und Herzegovina, Rn 35: „facts of the two offences“).

[44] 2.2.2.7. Wohl aufgrund des tendenziell eher weiten Verständnisses von der „Identität der Tat“ entwickelte der EGMR in der Rechtssache A und B/Norwegen (15. 11. 2016, 24130/11 und 29758/11) einen neuen Ansatz für eine Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots.

[45] In diesem Fall wurden wegen einer Steuerverkürzung sowohl in einem Finanzverfahren Zuschläge festgesetzt als auch ein gerichtliches Strafverfahren eingeleitet. Der EGMR ging davon aus, dass das Doppelbestrafungsverbot durch eine mehrfache Sanktionierung nicht verletzt werde, wenn zwischen beiden Verfahren eine ausreichend enge Verbindung („sufficiently close connection“) bestehe (aaO Rn 132 ff und 153). Die Mitgliedstaaten könnten für ein sozialschädliches Verhalten „komplementäre“ rechtliche Reaktionen in verschiedenen Verfahren wählen, die ein zusammenhängendes Ganzes bilden, um unterschiedliche Aspekte des betreffenden Problems anzusprechen. Voraussetzung sei, dass die kumulierten rechtlichen Antworten keine exzessive Last darstellen (aaO Rn 121: „[…] States should be able legitimately to choose complementary legal responses to socially offensive conduct […] through different procedures forming a coherent whole so as to address different aspects of the social problem involved, provided that the accumulated legal responses do not represent an excessive burden for the individual concerned“; Rn 132: „different proceedings pursue complementary purposes and thus address, not only in abstracto but also in concreto, different aspects of the social misconduct involved“) und die möglichen rechtlichen Konsequenzen angemessen und vorhersehbar sind (aaO Rn 130: „proportionate and foreseeable“; Rn 132: „foreseeable consequence, both in law and in practice, of the same impugned conduct“).

[46] Ein weiteres Kriterium für die Zulässigkeit einer doppelten Verfolgung sei die Vermeidung von Doppelgleisigkeiten bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen, insbesondere durch angemessene Interaktion zwischen den Behörden (aaO Rn 132: „[…] to avoid as far as possible any duplication in the collection and in the assessment of the evidence, notably through adequate interaction between the various competent authorities to ensure that the establishment of the facts in one set of proceedings is replicated in the other“). Die zuerst verhängte Sanktion müsse in der späteren Entscheidung berücksichtigt werden, um zu verhindern, dass der Betroffene am Ende einer übermäßigen Belastung ausgesetzt sei (aaO Rn 132: „sanction imposed in the proceedings which become final first is taken into account in those which become final last, so as to prevent the situation where the individual concerned is in the end made to bear an excessive burden“). Insgesamt müsse eine ausreichend enge inhaltliche und zeitliche Verbindung bestehen (aaO Rn 130: „sufficiently closely connected in substance and in time“; vgl auch Rn 134).

[47] Der EGMR bestätigte diese in der Rechtssache A und B/Norwegen vertretene Rechtsansicht in der Folge in weiteren Entscheidungen (etwa 8. 7. 2019, 54012/10, Mihalache / Rumänien, Rn 82 ff; 31. 8. 2021, 45512/11, Galović/Kroatien, Rn 113; 16. 6. 2022, 1735/13, Goulandris und Vardinogianni/Griechenland , Rn 54).

2.2.3. Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zu Art 4 7. ZP-EMRK

[48] Der Verfassungsgerichtshof vertrat stets –unabhängig von der Rechtsprechung des EGMR (vgl Giese in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht, Art 4 7. ZP‑EMRK Rz 17) – eine eigenständige Ansicht zur Tatidentität. Er stellt auch nach den zu einem prozessualen Tatbegriff zurückkehrenden Entscheidungen des EGMR (siehe oben) darauf ab, ob der in einem (ersten) Strafverfahren herangezogene Straftatbestand den Unrechts- und Schuldgehalt eines Täterverhaltens vollständig erschöpfe, sodass ein weitergehendes Strafbedürfnis entfalle, weil das eine Delikt den Unrechtsgehalt des anderen Delikts in jeder Beziehung mitumfasse (vgl etwa VfSlg 14.696; VfSlg 15.824; VfSlg 15.821; VfSlg 18.833; VfSlg 19.280; siehe auch Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2022] § 190 Rz 28/1; Giese in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht, Art 4 7. ZP‑EMRK Rz 17). Der Verfassungsgerichtshof hielt an seiner Judikatur zur Tatidentität grundsätzlich auch nach der Entscheidung des EGMR zu A und B/Norwegen fest, übernahm aber die dort entwickelte Einschränkung des Doppelverfolgungsverbots bei Vorliegen „komplementärer Sanktionen“ (VfSlg 20.207).

2.2.4. Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu Art 4 7. ZP‑EMRK

[49] Auch der Verwaltungsgerichtshof geht – unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs – davon aus, dass eine unzulässige Doppelbestrafung iSd Art 4 7. ZP‑EMRK vorliegt, wenn eine Strafverfolgung wegen einer strafbaren Handlung bereits Gegenstand eines Strafverfahrens war und der dabei herangezogene Deliktstypus den Unrechts- und Schuldgehalt des Täterverhaltens vollständig erschöpft. Ein weitergehendes Strafbedürfnis entfalle dann, weil das eine Delikt den Unrechtsgehalt des anderen Delikts in jeder Beziehung mitumfasse (etwa Ra 2018/05/0266 mwN). Inhaltlich stellte der Verwaltungsgerichtshof in dieser Entscheidung im Ergebnis allerdings darauf ab, ob beiden Verfahren derselbe historische Lebenssachverhalt zugrunde lag. Da sich beide Tatvorwürfe zumindest im Wesentlichen auf denselben Sachverhalt bezogen hätten, liege „dieselbe Sache“ iSd Art 4 7. ZP‑EMRK vor. Dass für die Anwendung dieser Bestimmung „auf die Fakten“ abzustellen sei und deren rechtliche Qualifikation außer Betracht zu bleiben habe, bekräftigte der Verwaltungsgerichtshof jüngst etwa auch zu Ra 2023/09/0073 (dort unter Bezugnahme auf EGMR 15. 11. 2016, A und B/Norwegen). Eine neuerliche Strafverfolgung sei unzulässig, wenn sie sich auf den „zumindest im Wesentlichen selben Sachverhalt“ beziehe.

2.2.5. Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu Art 4 7. ZP‑EMRK

[50] Der Oberste Gerichtshof schloss sich im Wesentlichen ebenfalls dem Verfassungsgerichtshof an, wonach Art 4 7. ZP‑EMRK die Verfolgung bereits rechtskräftig geahndeter idealkonkurrierender strafbarer Handlungen nur dann verbiete, wenn die zusammentreffenden Delikte, deren eines den Unrechtsgehalt des anderen in jeder Beziehung mitumfasse, dieselben wesentlichen Tatbestandsmerkmale aufwiesen. Das prozessuale Verfolgungshindernis greife bei einer Überlagerung der normativ zu ermittelnden wesentlichen Tatbestandselemente der in Rede stehenden Norm, nicht aber, wenn zur vollen Auswertung des Unrechtsgehalts die Betrachtung unter dem Aspekt mehrerer einander ergänzender Tatbestände erforderlich sei (etwa 12 Os 26/04; 15 Os 89/08i; 14 Os 63/22d). Zu 15 Os 89/08i stellte der Oberste Gerichtshof allerdings auch auf den Schutzzweck der Normen ab. Die Literatur spricht der Judikatur des Obersten Gerichtshofs bisweilen eine „gefestigte Linie“ ab (B. Müller/E. Müller, wbl 2014, 61 [64]; vgl auch Birklbauer, Der Grundsatz „Ne bis in idem“ in der Rechtsprechung europäischer Instanzen und die Auswirkungen auf den Tatbegriff der öStPO, in Moos/Jesionek/Müller, Strafprozessrecht im Wandel, FS Miklau [2006] 45 [62]).

2.3. Doppelbestrafungsverbot der StPO

[51] Für das österreichische Strafprozessrecht ist das Verbot der Doppelbestrafung bzw -verfolgung in § 17 StPO geregelt, womit Art 4 7. ZP‑EMRK umgesetzt wurde (15 Os 24/19x). Demnach ist nach rechtswirksamer Beendigung eines Strafverfahrens die neuerliche Verfolgung desselben Verdächtigen wegen derselben Tat unzulässig. Im Unterschied zu Art 4 7. ZP‑EMRK setzt § 17 StPO keine rechtskräftige Verurteilung oder einen solchen Freispruch voraus, sondern nur eine rechtswirksame Beendigung des Strafverfahrens. Insoweit ist der Anwendungsbereich der nationalen Bestimmung weiter, weil nicht zwischen formaler und inhaltlicher Erledigung der Sache unterschieden wird (Birklbauer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2011] § 17 Rz 42 mwN). § 17 StPO bezieht sich außerdem nur auf Strafverfahren nach der StPO (Birklbauer aaO Rz 48). Für die Beurteilung eines Verstoßes gegen das Doppelbestrafungs- bzw -verfolgungsverbot durch Verhängung einer Sanktion nach dem KartG bietet diese Bestimmung daher keine taugliche Beurteilungsgrundlage.

2.4. Doppelbestrafungsverbot des Art 50 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC)

2.4.1. Anwendungsbereich des Art 50 GRC

[52] 2.4.1.1. Gemäß Art 51 Abs 1 GRC gilt die GRC für Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach Abs 2 leg cit dehnt die GRC den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.

[53] 2.4.1.2. Art 51 Abs 1 GRC zielt darauf ab, den Kreis der durch die GRC Verpflichteten und deren Reichweite festzulegen. Ihr Anwendungsbereich umfasst primär die Union, unter bestimmten Umständen aber auch die Mitgliedstaaten, wobei historisch eine möglichst umfassende Bindung der Union, hingegen eine „Zurückhaltung“ bei der Bindung der Mitgliedstaaten angestrebt war. Da die Mitgliedstaaten nach Art 51 Abs 1 GRC „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ an die GRC gebunden sind, bedarf es eines konkreten unionsrechtlichen Anknüpfungspunktes, der eine bestimmte Fallgestaltung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit auch in den Anwendungsbereich der GRC bringt. Die europäischen Grundrechte selbst begründen einen solchen nicht (jeweils 1 Ob 199/22d mwN).

[54] 2.4.1.3. Die Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der GRC kann wie folgt zusammengefasst werden (dazu wieder 1 Ob 199/22d mwN):

[55] Ausgehend von der (noch vor der GRC ergangenen) Leitentscheidung vom 13. 7. 1989, C‑5/88 , Wachauf (insb Rn 19 ff), nahm der EuGH eine Bindung der Mitgliedstaaten an europäische Grundrechte jedenfalls dann an, wenn sie Unionsrecht unmittelbar vollziehen. Diese Fallkonstellation wird auch als „Agency‑Situation“ beschrieben. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mitgliedstaat unmittelbar „im Dienst“ des Unionsrechts handelt. Erfasst sind insbesondere die Anwendung von Verordnungen und von vom nationalen Gesetzgeber umgesetzten (oder auch nicht umgesetzten, aber ausnahmsweise unmittelbar anwendbaren) Richtlinien.

[56] In einer zweiten Rechtsprechungslinie, die der EuGH mit seiner Entscheidung vom 18. 6. 1991, C‑260/89 , ERT, begründete, nahm er eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsrechtsgrundrechte auch dann an, wenn sie in ihrem eigenen Kompetenzbereich eine europäische Grundfreiheit durch eine nationale Maßnahme beschränken. Der EuGH prüfte dann, ob eine solche Beschränkung mit den Grundrechten vereinbar sei („Schranken-Schranke“). Diese erstmals in der Rechtssache ERT vertretene Rechtsansicht wurde vom EuGH in weiteren Entscheidungen bekräftigt (etwa 26. 6. 1997, C‑368/95 , Familiapress, Rn 24; 11. 7. 2002, C‑60/00 , Carpenter, Rn 28 ff; nach Inkrafttreten der GRC etwa EuGH 30. 4. 2014, C‑390/12 , Pfleger, Rn 30 ff; 18. 6. 2020, C‑78/18 , Kommission/Ungarn, Rn 101; 6. 10. 2020, C‑66/18 , Kommission/Ungarn, Rn 212 ff). Demnach seien in Grundfreiheiten eingreifende nationale Rechtsakte sowohl dann am Maßstab der GRC zu prüfen, wenn sich der Mitgliedstaat zu deren Rechtfertigung auf primärrechtlich normierte Ausnahmetatbestände von den Grundfreiheiten berufe (EuGH C‑260/89 , ERT, Rn 42), als auch dann, wenn er sich auf vom EuGH entwickelte Schranken beziehe.

[57] Nach jüngerer Rechtsprechung des EuGH stehen die beiden Judikaturlinien Wachauf und ERT nicht isoliert nebeneinander, vielmehr sieht der EuGH den Anwendungsbereich des Unionsrechts als entscheidend für die Frage der Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten an. In seinem Urteil vom 26. 2. 2013, C‑617/10 , Åkerberg Fransson (Rn 21), nahm er den Anwendungsbereich der GRC als gegeben an, „wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“. Die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte fänden demnach in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, nicht aber außerhalb derselben Anwendung (Rn 19). Unzuständig sei der Gerichtshof – und der Anwendungsbereich der GRC daher nicht gegeben – nur dann, wenn eine „rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst sei“ (Rn 22; vgl auch EuGH 8. 5. 2014, C‑483/12 , Pelckmans Turnhout, Rn 20).

[58] In seiner Entscheidung vom 6. 3. 2014, C‑206/13 , Siragusa, rückte der EuGH wieder von seinem zuvor vertretenen weiten Verständnis ab. Er hob in dieser Entscheidung zunächst hervor, dass Art 51 Abs 2 GRC (sowie Art 6 Abs 1 EUV) klarstelle, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der GRC in keiner Weise erweitert werden dürften (Rn 20). In weiterer Folge nahm er zwar auf seine Rechtsprechung Bezug, wonach es für den Anwendungsbereich der GRC darauf ankomme, ob eine (auf ihre Grundrechtskonformität zu prüfende) Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle (Rn 21; vgl auch C‑198/13 , Hernández, Rn 33). Der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ iSv Art 51 GRC verlange jedoch einen „hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad, der darüber hinausgehe, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“ (C‑206/13 , Siragusa, Rn 24; vgl auch EuGH 10. 7. 2014, C‑198/13 , Hernández, Rn 34; jüngst etwa 20. 10. 2022, C‑301/21 , Curtea de Apel Alba Iulia, Rn 73).

[59] Um festzustellen, ob eine nationale Regelung die Durchführung des Rechts der Union betreffe, sei ua zu prüfen, ob mit ihr die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt werde, welchen Charakter diese Regelung habe und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt würden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen könne, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gebe, die für diesen Bereich spezifisch sei oder ihn beeinflussen könne (C‑206/13 , Siragusa, Rn 25; so auch bereits EuGH 18. 12. 1997, C‑40/11 , Iida, Rn 79; ebenso 8. 5. 2013, C‑87/12 , Ymeraga, Rn 41; 10. 7. 2014, C‑198/13 , Hernández, Rn 37; 22. 1. 2020, C‑177/18 , Almudena, Rn 59). Die Grundrechte der Union seien im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schüfen (C‑206/13 , Siragusa, Rn 26; ebenso etwa EuGH 10. 7. 2014, C‑198/13 , Hernández, Rn 35; 7. 9. 2017, C‑177/17 , Demarchi Gino Sas, Rn 21; 24. 9. 2019, C‑467/19 , QR, Rn 41).

[60] In seiner Entscheidung vom 10. 7. 2014 (C‑198/13 , Hernández) stellte der EuGH darüber hinaus klar, dass allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich falle, in dem die Union über Zuständigkeiten verfüge, diese Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts bringe und somit zur Anwendbarkeit der GRC führen könne (Rn 36). Dies bestätigte er unter anderem in seinem Urteil vom 19. 11. 2019 zu C‑609/17 , C‑610/17 , TSN und AKT (dort in Rn 46). Dass ein bestimmter (Sach-)Bereich unionsrechtlich geregelt werden könnte bzw sich ein Sachverhalt in einem Bereich „abspielt“, der „von Unionskompetenzen erfasst wird“, reiche für die Anwendung der GRC nicht aus (EuGH 19. 11. 2019, C‑609/17 , C‑610/17 , TSN und AKT, Rn 46 mwN). Unionsrecht werde auch nicht schon dann iSd Art 51 Abs 1 Satz 1 GRC „durchgeführt“, wenn Ziele und Aufgaben der Union betroffen seien (EuGH 26. 2. 2013, C‑117/14 , Nisttahuz Poclava, insb Rn 40). Ein bloß hypothetischer Bezug zum Unionsrecht genüge nicht (EuGH 14. 11. 2018, C‑215/17 , Nova Kreditna, Rn 44 f); ebensowenig der Umstand, dass eine nationale Maßnahme das Funktionieren unionsrechtlich geregelter Bereiche mittelbar beeinflusse (EuGH 18. 12. 1997, C‑309/96 , Annibaldi, Rn 22).

2.4.2. Unanwendbarkeit der GRC

[61] 2.4.2.1. Die „Rechtsprechungslinie Wachauf“ (EuGH 13. 7. 1989, C‑5/88 ua) ist schon deshalb nicht auf den vorliegenden Fall anzuwenden, weil hier kein Unionsrecht zu vollziehen ist. Mit dem KartG 2005 sollten zwar die materiell-rechtlichen Vorschriften im Bereich wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen an die europarechtlichen Bestimmungen angepasst werden. Dies ändert aber nichts daran, dass das österreichische Kartellrecht einen eigenständigen Anwendungsbereich für jene Sachverhalte hat, die sich nur auf den inländischen Markt auswirken (Hiersche/Mertel in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht [2022] § 1 KartG 2005 Rz 6). Art 3 der VO 1/2003 ordnet zwar eine parallele Anwendung des nationalen und des europäischen Kartellverbots für Fälle an, in denen eine potenzielle Beeinträchtigung des Handels innerhalb des Binnenmarktes besteht. Dann hätte die nationale Kartellbehörde (auch) europäisches Kartellrecht zu vollziehen, weshalb der Anwendungsbereich der GRC eröffnet wäre. Eine Beeinträchtigung des Handels innerhalb des Binnenmarktes ist hier aber nicht einmal potenziell erkennbar.

[62] Auch die „Rechtsprechungslinie ERT“ (EuGH 18. 6. 1991, C‑260/89 ua) führt zu keiner Anwendbarkeit der GRC, weil nicht erkennbar ist, inwieweit eine unionsrechtliche Grundfreiheit der Antragsgegnerin durch eine nationale Maßnahme beschränkt würde.

[63] Auch nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson sowie der daran anschließenden Judikatur, wonach die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“ anzuwenden seien, nicht aber wenn eine „rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst sei“, ergibt sich keine Anwendung der GRC. Eine vom Unionsrecht geregelte Situation ist hier eben nicht zu beurteilen.

[64] 2.4.2.2. Dass die Verfahrensgarantien der GRC im Kartellverfahren nur bei einem Verstoß gegen Art 101 AEUV anzuwenden sind, entspricht auch der Ansicht in der rechtswissenschaftlichen Literatur (Koprivnikar/Mertel in Egger/Harsdorf‑Borsch, Kartellrecht [2022] § 29 KartG Rz 7; idS wohl auch B. Müller/E. Müller, wbl 2014, 61 [65]; vgl auch allgemein Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2022] § 190 Rz 32/1). Dies legt auch Art 3 der Richtlinie (EU) 2019/1 des europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes nahe. Demnach müssen (nur) in Verfahren, die Zuwiderhandlungen gegen Art 101 oder Art 102 AEUV betreffen, einschließlich der Ausübung der in dieser Richtlinie genannten Befugnisse durch die nationalen Wettbewerbsbehörden, die GRC eingehalten werden. Der in Umsetzung dieser Richtlinie ergangene (vgl Ranftl/Harsdorf‑Borsch in Egger/Harsdorf‑Borsch, Kartellrecht [2022] § 13 WettbG Rz 1) § 13 Abs 1 WettbG idF des KaWeRÄG 2021 differenziert zwar nicht zwischen nationalem und europäischem Wettbewerbsrecht, richtet sich aber nur an die Bundeswettbewerbsbehörde.

[65] 2.4.2.3. Auch aus der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 16 Ok 51/05 ergibt sich keine Anwendbarkeit der GRC auf den vorliegenden Fall. Zwar ging der Senat dort davon aus, dass das KartG das Ziel verfolge, das materielle österreichische Kartellrecht an die (damals) in Art 81 EG enthaltenen Wettbewerbsregeln anzugleichen und sich § 1 Abs 1 KartG mit (damals) Art 81 erster Satz EG (mit Ausnahme der Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten als Abgrenzung des Anwendungsbereichs des gemeinschaftsrechtlichen vom nationalen Kartellrecht) decke. Es erscheine daher angezeigt, zur Auslegung der § 1 Abs 1 und 2, § 2 Abs 1 KartG die Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu Art 81 EG heranzuziehen. Hier geht es aber nicht um die Auslegung einer nationalen Bestimmung im Licht einer inhaltsgleichen Unionsnorm, sondern darum, ob der allgemeine Anwendungsbereich der GRC eröffnet ist.

2.5. Doppelbestrafungsverbot nach Art 54 SDÜ

[66] Ein –auch für Österreich maßgebliches – Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung enthält auch Art 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ). Dieses gilt aber nur zwischen den Vertragsstaaten (vgl etwa Zeder, Verbot der Doppelbestrafung [ne bis in idem] in der EU: Fragen, Fragen, Fragen – und einige Antworten, AnwBl 2007, 454 [455]; siehe auch Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2022] § 190 Rz 32: „im Verhältnis der Mitgliedstaaten“). Es soll verhindern, dass eine Person von ihrem Recht auf Freizügigkeit wegen einer doppelten Bestrafung nicht Gebrauch machen kann (Zeder aaO mwN in Fn 32). Art 54 SDÜ statuiert demnach ein staatenübergreifendes Doppelverfolgungsverbot für den Schengenraum (vgl 11 Os 73/13i) und ist daher auf den vorliegenden – rein nationalen –Fall nicht anzuwenden.

2.6. Zwischenergebnis

[67] Ob das vorliegende Kartellverfahren, in dem die Antragstellerin zuletzt nur mehr die Feststellung einer Zuwiderhandlung gemäß § 28 KartG anstrebte, insoweit, als einzelne Vorwürfe bereits Gegenstand des gegen die Antragsgegnerin geführten Strafverfahrens waren, gegen den Grundsatz ne bis in idem verstößt, ist daher anhand von Art 4 7. ZP‑EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR zu beurteilen. Das KartG enthält dazu keine Regelungen. § 17 StPO regelt nur die Frage der Zulässigkeit der Einleitung eines weiteren Strafverfahrens iSd StPO und ist daher nicht anzuwenden. Auch die Art 50 GRC und Art 54 SDÜ sind auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.

3. Beurteilung des konkreten Falls

3.1. Vorliegen der „selben Tat“

[68] 3.1.1. § 168b StGB sanktioniert Submissionskartelle. Tathandlung ist (soweit hier maßgeblich) das Legen eines Angebots im Vergabeverfahren. Die wettbewerbswidrige Absprache für sich allein ist nicht strafbar. Das Angebot im Vergabeverfahren muss aber auf einer rechtswidrigen Absprache beruhen. Deren Rechtswidrigkeit ist nach dem Kartellrecht (§ 1 KartG) zu beurteilen (Kirchbacher/Ifsits in Höpfel/Ratz, WK‑StGB² [2022] § 168b Rz 44 mwN). § 168b StGB ist ein schlichtes Tätigkeitsdelikt, bei dem das vorsätzliche tatbestandsmäßige Handeln die Vollendung bewirkt, ohne dass es eines Vermögensschadens bedürfte. Der Tatbestand ist erfüllt, sobald vorsätzlich auf der in § 168b Abs 1 StGB genannten Absprache beruhend ein Angebot in einem Vergabeverfahren gelegt wird (Kirchbacher/Ifsits aaO Rz 54). Durch das Tatbestandsmerkmal der rechtswidrigen Absprache ist § 168b StGB zum Kartellrecht akzessorisch.

[69] 3.1.2. Berücksichtigt man nur den historischen Lebenssachverhalt (so der EGMR in seiner Entscheidung vom 23. 10. 1995, 15523/89, Gradinger/Österreich; in diese Richtung auch dessen Entscheidung vom 10. 2. 2009, 14939/03, Zolotukhin/Russland; vgl oben), läge jedenfalls eine Tatidentität iSd Art 4 7. ZP‑EMRK vor, weil Gegenstand sowohl des Strafverfahrens als auch des Kartellverfahrens jeweils das selbe Verhalten der Antragsgegnerin (Teilnahme an Absprachen bei der Ausschreibung öffentlicher Aufträge) war bzw ist.

[70] 3.1.3. Eine Tatidentität wäre aber auch dann gegeben, wenn nicht allein auf den historischen Lebenssachverhalt, sondern im Sinn der jüngeren Rechtsprechung des EGMR auf das „sachverhaltsmäßig festgestellte Subsumtionsmaterial“ (etwa EGMR 14. 1. 2010, 2376/03, Tsonyo Tsonev/Bulgarien, Rn 52: „facts of the two offences“) –also auch auf die rechtliche Qualifikation –abgestellt würde. Die für eine Anwendung des § 168b StGB maßgeblichen Sachverhaltselemente umfassen nämlich auch den für eine Sanktionierung nach dem KartG notwendigen Sachverhalt, weil die nach § 1 KartG verbotene Absprache zentrale Voraussetzung des Straftatbestands ist (nach Maier, ÖZK 2021, 49, ist die Preisabsprache „inhärentes Element“ des [nach § 168b StGB strafbaren] Submissionskartells; idS auch B. Müller/E. Müller, wbl 2014, 61 [64], wonach § 168b StGB „materiell betrachtet“ das Bilden eines Kartells im Vergabeverfahren sanktioniert).

[71] 3.1.4. Als Zwischenergebnis geht der Senat daher – entsprechend dem weiten Verständnis des EGMR – von einer Identität jener Tat, die Gegenstand des (mit Diversion beendeten) Strafverfahrens wegen § 168b StGB war, und jener Tat, wegen der das Kartellverfahren (zu den Absprachen bei den Studien „Bewegung und Sport“ und „Frauen im Vereinssport“) geführt wird, aus.

3.2. Verfahrensbeendigung durch Diversion

3.2.1. Grundsätzliches

[72] 3.2.1.1. Diversion ist die Beendigung des Strafverfahrens ohne Schuldspruch und ohne förmliche Sanktionierung des Beschuldigten (Schroll/Kert in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2019] Vor §§ 198–209b Rz 2 mwN). Im Fall einer diversionellen Vorgangsweise bleibt die staatsanwaltschaftliche Erledigung ein Verfolgungsverzicht unter Wahrung der Unschuldsvermutung (Schroll/Kert aaO Rz 9/1; vgl auch Leitner in Schmölzer/Mühlbacher, StPO Kommentar, Band 1² [2021] Vor §§ 198–209b StPO Rz 6). Der Verfahrensbeendigung durch Diversion kommt auch keine Bindungswirkung für nachfolgende Zivilprozesse zu (RS0106015 [T2]). Ein Verfolgungsrücktritt der Staatsanwaltschaft wegen einer Diversion wäre daher wohl eher einem (rechtskräftigen) Freispruch, nicht aber einer Verurteilung iSd Art 4 7. ZP‑EMRK gleichzuhalten (vgl aber VwGH Ra 2018/05/0266, wonach der Rücktritt des Staatsanwalts nach einer Diversion so zu behandeln sei, als hätte das Verfahren mit Verurteilung geendet).

[73] 3.2.1.2. Eine diversionelle Erledigung durch die Staatsanwaltschaft setzt nach § 198 Abs 1 StPO aber voraus, dass aufgrund eines hinreichend geklärten Sachverhalts feststeht, dass eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 190192 StPO nicht in Betracht kommt. Der geforderte Tatverdacht muss nicht nur ausreichen, um eine Anklage erheben zu können, sondern es wird eine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit gefordert (Schroll/Kert in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2019] § 198 Rz 3 mwN). Demgegenüber wird der „herkömmliche Strafprozess“ als erforderlich angesehen, wenn die Aktenlage erst eine Klärung der Beweislage zur Schuld erfordert (Schroll/Kert aaO Vor §§ 198–209b Rz 1).

3.2.2. Rechtsprechung zum Doppelbestrafungsverbot bei einer Diversion

[74] 3.2.2.1. Wie bereits erwähnt, ging der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 28. 5. 2019 zu Ra 2018/05/0266 davon aus, dass ein Rücktritt der Staatsanwaltschaft im Fall einer Diversion nach den §§ 198 ff StPO so zu behandeln sei, als hätte das Verfahren mit einer Verurteilung iSd Art 4 7. ZP‑EMRK geendet. In früheren Entscheidungen ging dieser davon aus, dass die Einstellung eines Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft (von der Verwaltungsstrafbehörde) darauf zu prüfen sei, auf welcher inhaltlichen Basis und welcher Prüfungstiefe diese ergangen sei (2012/02/0238; Ra 2016/02/0230).

[75] 3.2.2.2. Der Oberste Gerichtshof hielt in seiner Entscheidung vom 5. 3. 2019 zu 14 Os 144/18k eine Verfahrenseinstellung „aus den in §§ 198 ff StPO genannten Gründen“ – also wegen Rücktritts von der Verfolgung wegen Diversion – einem Freispruch iSd Art 4 7. ZP‑EMRK gleich.

[76] 3.2.2.3. Zentrale Bedeutung für die Beurteilung des vorliegenden Falls kommt der bereits mehrfach erwähnten Entscheidung des EGMR vom 8. 7. 2019 (54012/10) in der Rechtssache Mihalache / Rumänien zu:

[77] Dort war der Fall zu beurteilen, dass bei einem Autofahrer bei einer Verkehrskontrolle ein die gesetzlichen Grenzwerte überschreitender Blutalkoholgehalt festgestellt wurde. Eine genauere Überprüfung des Alkoholisierungsgrades in einem Spital verweigerte er, was nach rumänischem Kriminalstrafrecht selbständig strafbar war. Im deshalb eingeleiteten Strafverfahren gestand der Autofahrer seine Alkoholisierung und Verweigerung der Überprüfung im Spital zu. Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin das kriminalstrafrechtliche Verfahren wegen Geringfügigkeit ein, er legte dem Beschuldigten aber gleichzeitig eine Verwaltungsstrafe von 250 EUR auf, die dieser bezahlte. Später setzte die übergeordnete Staatsanwaltschaft diese Entscheidung amtswegig außer Kraft und verfügte die Wiedereröffnung des Kriminalstrafverfahrens. Die Staatsanwaltschaft erhob in der Folge Anklage wegen des strafrechtlichen Vorwurfs der Verweigerung der Untersuchung im Spital, weswegen er verurteilte wurde.

[78] Der EGMR erachtete Art 4 7. ZP‑EMRK als verletzt. Er prüfte insbesondere, ob die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Einstellung des Verfahrens (womit gleichzeitig eine Verwaltungsstrafe verhängt wurde) als „acquittal or conviction“ im Sinn dieser Bestimmung anzusehen sei und bejahte dies, weil die staatsanwaltschaftliche Entscheidung durch eine Behörde mit judiziellen Aufgaben im Rahmen der Strafrechtspflege ergangen und dieser Behörde Strafbefugnis zugekommen sei. Konkret begründete er dies wie folgt (aaO Rn 95): „What matters in any given case is that the decision in question has been given by an authority participating in the administration of justice in the national legal system concerned, and that that authority is competent under domestic law to establish and, as appropriate, punish the unlawful behaviour of which the person has been accused. The fact that the decision does not take the form of a judgment cannot call into question the person’s acquittal or conviction, since such a procedural and formal aspect cannot have a bearing on the effects of the decision.“

[79] Der EGMR hob auch hervor, dass die Nichtfortsetzung eines Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich keinem Freispruch und keiner Verurteilung entspreche („[…] the discontinuance of criminal proceedings by a public prosecutor does not amount to either a conviction or an acquittal“), was besonders für eine einfache Einstellungsverfügung („simple dicontinuance order“) gelte (aaO Rn 99). Außerdem könne einer behördlichen Entscheidung nur dann die Qualität einer Verurteilung oder eines Freispruchs iSd Art 4 7. ZP‑EMRK zukommen, wenn sie eine inhaltliche Beurteilung in der Sache („on the merits“) enthalte.

3.2.3. Literatur zum Doppelbestrafungsverbot bei einer Diversion

[80] Zur Frage, ob sich Art 4 7. ZP‑EMRK auch auf die diversionelle Erledigung eines Strafverfahrens bezieht, werden unterschiedliche Ansichten vertreten.

3.2.3.1. Zur Rechtslage vor der Entscheidung Mihalache sind folgende Stellungnahmen hervorzuheben:

[81] Thienel/Hauenschild (Verfassungsrechtliches „ne bis in idem“ und seine Auswirkungen auf das Verhältnis von Justiz- und Verwaltungsstrafverfahren, 2. Teil, JBl 2004, 153) gehen zwar davon aus, dass nach Art 4 7. ZP‑EMRK ein maßgeblicher Unterschied zwischen einer freisprechenden Sachentscheidung und einer sonstigen Verfahrensbeendigung bestehe.Einer Diversion „könne“ aber die Wirkung einer Sachentscheidung (einer rechtskräftigen Verurteilung) zukommen.

[82] Zeder (AnwBl 2007, 454 [464 f]; dort allerdings zu Art 54 SDÜ) vertritt, dass jedenfalls dann, wenn eine Verfahrenseinstellung unter der Auflage der Zahlung eines Geldbetrags erfolge, kein weiteres Strafverfahren mehr eingeleitet werden dürfe. Ob dies auch für andere Formen diversioneller Erledigungen gelte, lässt dieser Autor offen.

[83] Die Kommentierung von Schroll/Kert (in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2019] Vor §§ 198–209b Rz 9) datiert vom 1. 8. 2019 und somit kurz nach Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Mihalache. Diese wurde aber ganz offensichtlich nicht berücksichtigt. Dennoch gehen diese Autoren davon aus, dass einem Vorschlag der Staatsanwaltschaft auf diversionelle Verfahrenserledigung ein Sanktionscharakter iSd Art 6 EMRK (und daher wohl auch iSd Art 4 7. ZP‑EMRK) fehle.

3.2.3.2. Zur Rechtslage nach Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Mihalache sind folgende Stellungnahmen zu nennen:

[84] Lewisch (Quo vadis „ne bis in idem“? Neues zur Sperrwirkung in (Wirtschafts-)Strafverfahren, in: Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2019, 183 [186 ff]) geht zwar davon aus, dass der EGMR in dieser Entscheidung eine Klarstellung zur Reichweite der Sperrwirkung des Art 4 7. ZP‑EMRK bei staatsanwaltschaftlichen Erledigungen traf. Allerdings steht dieser Autor auch nach dieser – von ihm kritisierten – Entscheidung auf dem (nicht näher begründeten) Standpunkt, wonach diversionellen Erledigungen eine Sperrwirkung im Sinn dieser Bestimmung zukomme. Darauf, dass der EGMR für die Anwendung des Art 4 7. ZP‑EMRK ganz allgemein („in any given case“) voraussetzte, dass die entscheidende Behörde nach nationalem Recht mit der Befugnis zur Feststellung und – soweit erforderlich – Bestrafung eines gesetzwidrigen Verhaltens ausgestattet sein müsse, geht er in diesem Zusammenhang nicht ein.

[85] Harta (Anforderungen für die Sperrwirkung gem Art 4 7. ZP‑EMRK, JSt 2020, 473 f) weist demgegenüber zutreffend darauf hin, dass der EGMR in der Rechtssache Mihalache die Strafbefugnis der Strafbehörde als über den Einzelfall hinausgehende Anforderung ansah. Dafür spreche insbesondere Aufbau und Wortlaut der Entscheidung, finde sich diese Aussage doch in jenem Abschnitt, in dem sich der Gerichtshof abstrakt damit befasst habe, ob eine gerichtliche Intervention erforderlich sei, und nicht in jenem, der spezifische einzelfallbezogene Erwägungen zum Gegenstand gehabt habe. Zudem spreche der EGMR explizit davon, dass es „in jedem konkreten Fall“ („in any given case“) darauf ankomme, ob die Behörde die genannten Eigenschaften aufweise. Daher sei davon auszugehen, dass einer Entscheidung nur dann Sperrwirkung iSd Art 4 7. ZP‑EMRK zukomme, wenn die sie erlassende Behörde die Kompetenz zur Verhängung von Strafen habe. Entscheidungen österreichischer Staatsanwaltschaften komme damit keine solche Sperrwirkung zu, weil diese keine Strafbefugnis hätten. Sie könnten weder kriminalstrafrechtliche noch – anders als in dem vom EGMR entschiedenen Fall – verwaltungsstrafrechtliche Sanktionen verhängen. Auch ein diversionelles Vorgehen sei daher –sowie aufgrund der dafür notwendigen Zustimmung des Beschuldigten – keine Strafe im Sinn dieser Bestimmung.

[86] Nordmeyer (in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2022] § 190 Rz 28) hebt hervor, dass der EGMR für die Anwendung des Art 4 7. ZP‑EMRK eine inhaltliche Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten sowie die Befugnis der Behörde, über die strafrechtliche Verantwortung in der Sache zu entscheiden, gefordert habe.

[87] Giese (in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht [2021] Art 4 7. ZP‑EMRK Rz 10) tritt für eine Sperrwirkung diversioneller Erledigungen ein. Er bezieht sich zwar ausdrücklich auf die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Mihalache, nimmt auf diese aber nur insoweit Bezug, als der EGMR dort auf eine inhaltliche Prüfung des Tatvorwurfs abstellte. Dass die entscheidende Behörde außerdem eine Strafbefugnis haben müsse, wird von diesem Autor nicht erwähnt.

3.2.4. Zwischenergebnis

[88] Entsprechend der Auslegung des Art 4 7. ZP‑EMRK durch den EGMR in der Rechtssache Mihalache spricht nach Ansicht des Senats vieles dafür, der diversionellen Erledigung des gegen die Antragsgegnerin geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens keine Sperrwirkung nach Art 4 7. ZP‑EMRK zuzugestehen. Dafür spricht vor allem, dass die Staatsanwaltschaft keine allgemeine Sanktionsbefugnis hat, die diversionelle Erledigung nach ihrer Ausgestaltung durch die StPO (wenngleich für diese eine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit gefordert wird) keine förmliche Sanktionierung darstellt, die Erbringung diversioneller Leistungen auf Freiwilligkeit beruht und der Verfahrensbeendigung durch Diversion keine Bindungswirkung für nachfolgende Zivilprozesse zukommt. Jene Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs, die diversionellen Erledigungen eine Sperrwirkung zuerkannten (und überhaupt zu Art 4 7. ZP‑EMRK ergingen), stehen dieser Beurteilung schon deshalb nicht entgegen, weil die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Mihalache darin noch nicht berücksichtigt werden konnte.

3.3. Komplementäre Sanktionen

3.3.1. Grundsätzliches

[89] Aber selbst wenn man der diversionellen Erledigung des gegen die Antragsgegnerin geführten Strafverfahrens die Wirkung einer rechtskräftigen Verurteilung oder eines solchen Freispruchs iSd Art 4 7. ZP‑EMRK zuzuerkennen wollte, läge kein Verstoß gegen diese Bestimmung vor.

[90] Wie dargelegt judiziert der EGMR seit seiner Entscheidung A und B/Norwegen, dass das Doppelbestrafungsverbot nicht verletzt werde, wenn zwischen zwei Verfahren „eine ausreichend enge Verbindung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht bestehe“. Es könnten für ein sozialschädliches Verhalten „komplementäre rechtliche Reaktionen“ in verschiedenen Verfahren vorgesehen werden, die ein zusammenhängendes Ganzes bilden, um unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems anzusprechen. Die kumulierten rechtlichen Antworten dürften allerdings keine exzessive Last für das betroffene Individuum darstellen, beide Verfahren müssten als Folge des strafbaren Verhaltens vorhersehbar sein und Doppelgleisigkeiten bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen müssten (insbesondere durch Interaktion zwischen den Behörden) vermieden werden. Nach Nordmeyer (in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2022] § 190 Rz 28/2) handelt es sich dabei um ein „bewegliches System“.

3.3.2. Zum Vorliegen dieser Voraussetzungen

[91] 3.3.2.1. Die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1005 BlgNR XXI. GP  15) nennen zwar die „Sicherstellung eines funktionierenden Wettbewerbs“ als allgemeines Ziel des Bundesgesetzes, mit dem auch § 168b StGB eingefügt wurde (mit diesem Gesetz wurde etwa auch die Bundeswettbewerbsbehörde errichtet). Konkret zu § 168b StGB weisen die Materialien allerdings auf die besondere Bedeutung dieser Bestimmung für den Fall hin, dass ein Betrugsschaden nicht nachgewiesen werden könne (aaO 33 f). § 168b StGB betreffe Fälle, bei denen zwar eine Submissionsabsprache aber kein konkreter Vermögensschaden erweislich sei. Für diesen Fall sei eine bloße kartellrechtliche Geldbuße nicht adäquat. Dies legt nahe, dass der Gesetzgeber bereits die Gefährdung des Vermögens des Auftraggebers im Vergabeverfahren als schützenswert ansah, auch wenn ein konkret verursachter Vermögensschaden nicht nachgewiesen werden kann. Damit steht in Einklang, dass § 168b StGB – anders als die „Vorbildbestimmung“ des § 298 dStGB, die sich in einem eigenen Kapitel „Straftaten gegen den Wettbewerb“ findet – in den sechsten Abschnitt des Besonderen Teils des StGB über „strafbare Handlungen gegen fremdes Vermögen“ aufgenommen wurde.

[92] In der Literatur ist umstritten, welches Rechtsgut § 168b StGB schützt (vgl etwa im Überblick Lengauer, Wettbewerbsbeschränkende Absprachen in Vergabeverfahren, ZVB 2023/97, 305). Auch wenn der Unrechtskern teilweise in der rechtswidrigen wettbewerbsbeschränkenden Absprache gesehen wird (etwa Schumann/Bruckmüller/Gappmayer,Wettbewerbsbeschränkende Absprachen im Vergabeverfahren und kollusive Beteiligung auf Seiten des Auftraggebers, RPA 2009, 224 [226]), darf nicht übersehen werden, dass der bloße Wettbewerbsverstoß als solcher nach § 168b StGB nicht strafbar ist. Er ist auch nicht Teil der Tathandlung, die (soweit hier relevant) im Legen eines Angebots im Vergabeverfahren besteht, sondern wurde nur insoweit unter Strafe gestellt, als das Vermögen des Auftraggebers im Vergabeverfahren zumindest abstrakt gefährdet wird (so auch Kirchbacher/Ifsits in Höpfel/Ratz, WK‑StGB² [2022] § 168b Rz 58).

[93] Demgegenüber schützt das Kartellverbot den aktuellen sowie potenziellen Wettbewerb als solchen (16 Ok 10/16f zu Art 101 AEUV; gleiches muss für § 1 KartG gelten). Mit dem Schutz des Wettbewerbs als Institution ist zwar auch ein Schutz der Marktteilnehmer verbunden (Reidlinger in Kert/Kodek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht² [2022] Rz 16.6). Eine Wettbewerbsbeschränkung liegt aber schon dann vor, wenn die wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten aller oder einzelner Beteiligten beschränkt werden (16 Ok 10/09; Hiersche/Mertel in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht [2022] § 1 Rz 70 mwN), ohne dass es für die Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot auf eine Gefährdung konkreter Marktteilnehmer ankäme. Demnach setzt auch die Verhängung einer Geldbuße nach § 29 KartG nur eine Verletzung des Wettbewerbs als solchen voraus (idS etwa 16 Ok 4/07 [5.3.3]). Gleiches gilt für § 28 KartG.

[94] Damit adressieren § 168b StGB und § 1 KartG (die daran anknüpfenden kartellrechtlichen Sanktionen) unterschiedliche Aspekte desselben „sozialen Problems“ („different aspects of the social misconduct“), nämlich § 168b StGB die durch eine Submissionsabsprache zumindest potenziell gefährdeten Vermögensinteressen des Auftraggebers im Vergabeverfahren und das KartG die durch eine solche Absprache gefährdete Wettbewerbsordnung. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass § 168b StGB Vorsatz erfordert, während für eine Sanktion nach §§ 28 f KartG Fahrlässigkeit genügt, wodurch ebenfalls ein unterschiedliches sozialwidriges Verhalten sanktioniert wird (dass den Anforderungen an das Verschulden für das Doppelbestrafungsverbot des Art 4 7. ZP‑EMRK Bedeutung zukommt, entspricht der Entscheidung des EGMR vom 7. 12. 2006, 37301/03, Hauser‑Sporn/Österreich, Rn 45, sowie des Verfassungsgerichtshofs zu VfSlg 20.207/2017).

[95] Dafür, dass die kartellrechtliche Feststellung nach § 28 KartG im Vergleich zur Diversion eine komplementäre Reaktion ist, spricht auch, dass Letzterer – wie dargelegt – keine Bindungswirkung in einem nachfolgenden Zivilprozess zukommt. Die Feststellung nach § 28 KartG hat daher für die Durchsetzung zivilrechtlicher Ersatzansprüche eines durch die wettbewerbsbeschränkende Abrede geschädigten Dritten besondere Bedeutung (Vartian/Schumacher in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG2 § 28 KartG Rz 8 und 26).

[96] 3.3.2.2. Die „kumulierten rechtlichen Antworten“ des § 168b StGB und des § 28 KartG stellen jedenfalls im vorliegenden Fall auch keine übermäßige Last („excessive burden“) für die Antragsgegnerin dar. Im Strafverfahren erfolgte aufgrund der Diversion keine förmliche Sanktionierung ihres Verhaltens, was die Antragstellerin im Kartellverfahren veranlasste, von der Verhängung einer Geldbuße abzusehen und nur mehr die Feststellung der Zuwiderhandlung zu begehren. Dies entspricht der in der Literatur (B. Müller/E. Müller, wbl 2014, 61 [69]; dort mit Hinweis auf Thyri, Kartellrechtsvollzug in Österreich [2007] Rz 561 f) vorgeschlagenen Vorgehensweise, im Fall einer während des Geldbußenverfahrens erfolgten Verurteilung nach § 168b StGB (welche hier ohnehin nicht erfolgte) die Geldbuße im Kartellverfahren „mit Null zu bemessen“, weil diese weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen geboten sei.

[97] Soweit die rechtswissenschaftliche Literatur darauf hinweist, dass der EGMR seine Erwägungen zu einem „integrierten Ansatz“ nur auf den „Randbereich des ne bis in idem-Grundsatzes“ bezogen habe, nämlich auf verwaltungsrechtliche Sanktionen, deren Einbeziehung in den Bereich des Art 6 EMRK „stark in der Diskussion gestanden“ sei (Dannecker, Ne bis in idem und das Verbot straf- und kartellrechtlicher Parallelverfahren [2021] 29), trifft dies auch auf die hier zuletzt nur mehr angestrebte Feststellung der Zuwiderhandlung nach § 28 KartG zu.

[98] 3.3.2.3. Sämtliche rechtlichen Konsequenzen der von der Antragsgegnerin getroffenen Submissionsabsprachen (also sowohl eine Verfolgung nach § 168b StGB als auch Sanktionen nach dem KartG) waren für diese zweifellos auch im Sinn der Rechtsprechung des EGMR vorhersehbar.

[99] 3.3.2.4. Dem Erfordernis einer „ausreichend engen zeitlichen Verbindung“ beider Verfahren wurde hier ebenfalls entsprochen, wurden diese doch sogar teilweise parallel geführt (das gerichtliche Kartellverfahren wurde mit Antrag vom 8. 3. 2023 eingeleitet; am 3. 4. 2023 trat die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Antragsgegnerin zurück).

[100] 3.3.2.5. Der Vermeidung von „Doppelgleisigkeiten“ bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen, insbesondere durch eine „angemessene Interaktion zwischen den Behörden“ wird im Verhältnis zwischen Strafverfahren und Kartellverfahren ganz allgemein dadurch Rechnung getragen, dass Art 22 B‑VG alle Organe des Bundes im Rahmen ihres gesetzmäßigen Wirkungsbereichs zur wechselseitigen Hilfeleistung verpflichtet. Gemäß § 76 Abs 1 StPO dürfen Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte außerdem die Unterstützung anderer Behörden – sohin auch der Kartellbehörden – in Anspruch nehmen. § 10 Abs 1a WettbG ordnet an, dass Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte der Bundeswettbewerbsbehörde gegenüber zur Übermittlung von Daten berechtigt sind, die für die Verfolgung von Verstößen gegen das KartG notwendig sind. Um das Kartell- und Strafrecht (weiter) zu verflechten (Schönborn/Morwitzer, Criminal Compliance [2023] Rz 11.93), wurde mit § 209b StPO die Möglichkeit einer „strafrechtlichen Immunität“ für Mitarbeiter eines Unternehmens geschaffen, die einen gewichtigen Beitrag zur Aufklärung kartellrechtlicher Verstöße geleistet haben. Diese gesetzlichen Grundlagen erlauben insgesamt eine angemessene Interaktion zwischen den Behörden im Sinn der Rechtsprechung des EGMR.

[101] Im vorliegenden Fall wurden die Ermittlungen der Bundeswettbewerbsbehörde erst durch die Mitteilung der Staatsanwaltschaft ausgelöst, die gegen die Antragsgegnerin Ermittlungen wegen § 168b StGB führte. Die Staatsanwaltschaft verständigte die Bundeswettbewerbsbehörde auch von ihrem Rücktritt von der Verfolgung der Antragsgegnerin. Die Diversion –von der das Kartellgericht ebenfalls verständigt wurde –wurde im Kartellverfahren dadurch berücksichtigt, dass die Bundeswettbewerbsbehörde nur mehr die Feststellung der Zuwiderhandlung der Antragsgegnerin gemäß § 28 KartG begehrte. Somit erfolgte auch im konkreten Fall eine „angemessene Interaktion“ zwischen den Behörden.

4. Ergebnis

[102] 4.1. Zusammengefasst ergibt sich also, dass die angestrebte Feststellung nach § 28 KartG wegen wettbewerbswidriger Absprachen bei der Vergabe von Aufträgen zur Erstellung von Studien zu den Themen „Bewegung und Sport“ und „Frauen im Vereinssport“ im Hinblick auf das wegen dieser Absprachen geführte – mit Diversion beendete – strafrechtliche Ermittlungsverfahren nicht gegen Art 4 7. ZP‑EMRK verstößt. Dies ergibt sich nach Ansicht des Senats schon daraus, dass der Staatsanwaltschaft keine Strafbefugnis im Sinn der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Mihalache zugekommen ist; jedenfalls aber daraus, dass die diversionelle Erledigung des Strafverfahrens und die Feststellung nach § 28 KartG komplementäre Sanktionen im Sinn der Entscheidung in der Rechtssache A und B/Norwegen bilden.

[103] 4.2. Die angefochtene Entscheidung wird somit in ihrem Punkt 1 (Zurückweisung des auf Feststellung einer wettbewerbswidrigen Absprache bei den beiden genannten Studien gerichteten Antrags) aufgehoben und dem Kartellgericht insoweit die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom angezogenen Zurückweisungsgrund aufgetragen.

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