European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040NC00025.23Y.1127.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 3. Oktober 2023, GZ 34 Ps 59/21x‑7, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte (Teil‑)Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache (Ps‑Akt) an das Bezirksgericht Rohrbach wird nicht genehmigt.
Begründung:
[1] Die drei Minderjährigen sind die ehelichen Kinder von *, deren 2008 geschlossene Ehe am 3. 10. 2022 gemäß § 55a EheG vom Bezirksgericht Rohrbach, in dessen Sprengel der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten gelegen war, geschieden wurde. Im Scheidungsvergleich vereinbarten die Eltern die gemeinsame Obsorge sowie den hauptsächlichen Aufenthalt aller Minderjährigen im Haushalt der Mutter, die zum Zeitpunkt der Scheidung bereits im Sprengel des Bezirksgerichts Favoriten wohnte; bei diesem ist auch zum AZ 34 Pu 59/21x ein Unterhaltsverfahren zu allen drei Minderjährigen anhängig. Der Vater wohnte und wohnt weiterhin im Sprengel des Bezirksgerichts Rohrbach.
[2] Der Vater teilte am 19. 9. 2023 dem Bezirksgericht Favoriten mit, dass der minderjährige H* „seit 7. 9. 2023 bei mir“ an seinem Wohnort im Sprengel des Bezirksgerichts Rohrbach sei, und legte dazu eine entsprechende Meldebestätigung vor. Gleichzeitig beantragte er die „Neuberechnung des Unterhalts zum o.a. Aktenzeichen“ sowie „die Obsorge“ für H*.
[3] Daraufhin übertrug das Bezirksgericht Favoriten mit – in Rechtskraft erwachsenem (vgl RS0047067) – Beschluss vom 3. 10. 2023, GZ 34 Ps 59/21x‑7, gemäß § 111 Abs 1 JN die Zuständigkeit für alle drei Minderjährigen dem Bezirksgericht Rohrbach, weil „das Kind“ sich ständig in dessen Sprengel aufhalte und es zweckmäßiger sei, wenn es „diese Pflegschaftssache“ führe.
[4] Das Bezirksgericht Rohrbach lehnte die Übernahme der Zuständigkeit ab, (vgl RS0047011). Es verwies darauf, dass nur einer der Minderjährigen in seinem Sprengel wohnen solle, sodass die Zweckmäßigkeit der Übertragung der Obsorge hinsichtlich der anderen Minderjährigen R* und A* nicht ersichtlich sei. Auch sei die Aufspaltung der Zuständigkeit bei mehreren Kindern regelmäßig unzweckmäßig. Zudem werde das Unterhaltsverfahren für alle drei Minderjährigen weiterhin vom Bezirksgericht Favoriten geführt.
[5] Das Bezirksgericht Favoriten legte den Akt gemäß § 111 Abs 2 JN dem Obersten Gerichtshof vor.
Rechtliche Beurteilung
[6] Die Übertragung ist nicht zu genehmigen.
[7] 1. Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit ganz oder zum Teil einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen oder sonstigen Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird.
[8] Ausschlaggebendes Kriterium einer Zuständigkeitsübertragung nach § 111 Abs 1 JN ist stets das Kindeswohl (RS0047074). Dabei ist in der Regel das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenem und Gericht von wesentlicher Bedeutung, sodass im Allgemeinen das Gericht am Besten geeignet ist, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat und der Mittelpunkt seiner Lebensführung liegt (RS0047300; vgl Fucik in Fasching/Konecny³ [2013] § 111 JN Rz 3; Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 [2019] § 111 JN Rz 2; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 [2019] § 111 JN Rz 11 – alle mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung).
[9] 2.1. Schon das Bezirksgericht Rohrbach hat darauf hingewiesen, dass eine Teilübertragung der Zuständigkeit bei Pflegschaftsverfahren mehrerer Kinder, die aus derselben Ehe oder Lebensgemeinschaft entstammen, in der Regel nicht zweckmäßig ist, zumal Informationen aus der einen Pflegschaftssache für die Erledigung der anderen Pflegschaftssache möglicherweise nützlich sind, womit eine Art „gespaltene“ Zuständigkeit mehrerer Pflegschaftsgerichte zwar nicht ausgeschlossen, aber grundsätzlich zu vermeiden ist (RS0129854).
[10] 2.2. Hier ist zudem die Zuständigkeit des Bezirksgerichts Favoriten für den Unterhalt aller drei Minderjährigen aufrecht. § 111 Abs 1 JN sieht zwar ausdrücklich vor, dass die Pflegschaftssache auch nur zum Teil an ein anderes Gericht übertragen werden kann. Mag es daher wegen der Eigenständigkeit der in einem gemeinschaftlichen Pflegschaftsakt zusammengefassten Verfahren (Ps, Pu, Pg; vgl § 142 AußStrG) grundsätzlich zulässig sein, nur einzelne der gemeinschaftlichen Akten an ein anderes Gericht zu übertragen, wird es im Allgemeinen doch im Interesse des Kindeswohls liegen und zweckmäßig sein, wenn für die Entscheidung über mehrere offene Anträge in diesen Verfahren ein und dasselbe Pflegschaftsgericht zuständig ist (RS0126694; 7 Nc 30/22d mwN).
[11] 2.3. Schließlich entspricht es ständiger Rechtsprechung, eine Zuständigkeitsübertragung als unzweckmäßig zu erachten, wenn der Lebensmittelpunkt des Kindes noch nicht fest steht, sein Aufenthalt noch instabil und die zukünftige Lebenssituation unklar ist (RS0047300 [T30]); dabei ist nicht auf die bloße polizeiliche Meldung abzustellen (RS0047300 [T29]).
[12] 3.1. Gründe, die für eine Übertragung der Zuständigkeit hinsichtlich der beiden jüngeren Minderjährigen R* und A* sprächen, sind nicht ersichtlich, sodass eine diesbezügliche Genehmigung jedenfalls ausscheidet.
[13] 3.2. Aber auch für eine Übertragung der Zuständigkeit hinsichtlich des minderjährigen H* ist nach der derzeitigen Aktenlage aus mehreren Gründen keine Übertragung aus Gründen des Kindeswohls zweckmäßig.
[14] 3.2.1. Abgesehen von der Mitteilung des Vaters ist aus der Aktenlage weder eine stabile Verfestigung des Aufenthalts von H* im Sprengel des Bezirksgerichts Rohrbach ableit‑ noch seine zukünftige Lebenssituation absehbar.
[15] 3.2.2. Zudem werden sowohl sein Unterhaltsverfahren als auch das gesamte Verfahren betreffend seine Geschwister weiterhin beim Bezirksgericht Favoriten geführt, ohne dass nach der derzeitigen Aktenlage konkrete Gründe ersichtlich wären, warum das Bezirksgericht Rohrbach sachgerechter, umfassender und effizienter geeignet sein sollte, sich hinsichtlich H* nunmehr stellende Fragen maßgebliche Umstände zu erheben und zu beurteilen.
[16] 3.2.3. Offene Anträge sind zwar kein grundsätzliches Übertragungshindernis (RS0046895; RS0047027 [T8]; RS0047074; RS0046929; RS0049144), sondern es hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab, ob eine Entscheidung darüber durch das bisherige Gericht zweckmäßiger ist (vgl 4 Nc 37/21k mwN). Bei der Gesamtbeurteilung insbesondere der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen und es sind Zukunftsprognosen miteinzubeziehen. Um beurteilen zu können, bei welchem Elternteil das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen die derzeitigen Lebensumstände bei beiden Elternteilen in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfelds einander gegenübergestellt werden. Nur wenn eine Erforschung aller maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet (4 Nc 14/17x).
[17] An diesen Überlegungen ist auch die Zweckmäßigkeit der Übertragung zu messen. Es kommt nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen (5 Nc 103/02w). Eine Entscheidung über einen Obsorgeantrag (hier erkennbar über einen Antrag, der Mutter die [Mit-] Obsorge zu entziehen und die alleinige Obsorge dem Vater zuzuweisen) durch das bisher zuständige Gericht ist dann sinnvoll, wenn dieses bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese umfassenden Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht; in einem solchen Fall ist es von Vorteil, dass das bisher zuständige Gericht über einen Obsorgeantrag entscheidet (vgl RS0047027 [T3]).
[18] Ein solcher Fall ist in einer Gesamtbetrachtung hier gegeben, weil das übertragende Bezirksgericht Favoriten derzeit größere Sachkenntnis und durch die Nähe zur Mutter und den Geschwistern, die alle am bisherigen Wohnort von H* verblieben sind, einen größeren Einblick in die persönlichen Verhältnisse aller Minderjährigen und beider obsorgeberechtigten Eltern hat, sodass aus der Sachbearbeitung des Gesamtaktes durch das bisherige Gericht ein überwiegender Vorteil zu erwarten ist (vgl RS0053012). Selbst eine Nähe zum allfälligen neuen Wohnort beim Vater, so dieser gegeben wäre, vermöchte die Nachteile, die aus einer Übertragung des Ps‑Aktes von H*, aus der daraus folgenden Spaltung der Zuständigkeit und aus der Trennung der bislang zu einem gemeinschaftlichen Pflegschaftsakt zusammengefassten Verfahren drohen, vorerst nicht aufzuwiegen.
[19] 4. Im gegebenen Zeitpunkt entspricht die vom Bezirksgericht Favoriten beschlossene Übertragung der Zuständigkeit daher insgesamt nicht dem Kindeswohl. Der Beschluss des Bezirksgerichts Favoritenwar daher nicht nach § 111 Abs 2 JN zu genehmigen.
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