OGH 8ObA20/23h

OGH8ObA20/23h24.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner, den Hofrat Dr. Thunhart sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dora Camba (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Parteien 1. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, und 2. Österreichische Gesundheitskasse, 4020 Linz, Gruberstraße 77, beide vertreten durch Dr. Christoph Arbeithuber, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagten Parteien 1. F* GmbH, *, und 2. J*, beide vertreten durch Dr. Peter Lindinger und Dr. Andreas Pramer, Rechtsanwälte in Linz, wegen 11.611,95 EUR sA und 6.486,51 EUR sA sowie Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 8. Februar 2023, GZ 12 Ra 4/23d‑31, mit welchem das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 4. Oktober 2022, GZ 14 Cga 23/22a‑24, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:008OBA00020.23H.0524.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Am 8. 5. 2019 waren V* und drei weitere Arbeitnehmer der Erstbeklagten damit beschäftigt, ein Garagengebäude zurückzubauen. Der Zweitbeklagte war für die Erstbeklagte als Baggerfahrer und Polier tätig. Im Zuge des Abbruchs einer Zwischendecke kam es dazu, dass ein Stück des Estrichs über eine Mauer ragte, unter dem keine Betondecke mehr vorhanden war, was für einen am Estrich gehenden Arbeiter nicht ersichtlich war. Als V* diesen Bereich betrat, brach der Estrich ab. V* stürzte daraufhin 3,5 m ab und erlitt dadurch einen Bruch des Unterarms, Rippenbrüche sowie eine Platzwunde am Kopf.

[2] Die klagenden Sozialversicherungsträger begehren den Ersatz der von ihnen aufgewendeten Behandlungskosten sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftig zu erbringende Leistungen. Die Beklagten hätten den Unfall grob fahrlässig verschuldet, weil sie keine schriftliche Abbruchanweisung erstellt hätten, keine Absturzsicherung vorhanden gewesen sei und keine Sicherheitsgurte verwendet worden seien und auch der Boden nicht tritt‑ und bruchsicher gewesen sei.

[3] Die B eklagtenwendeten ein, dass eine schriftliche Abbruchanweisung erstellt worden sei und in der Dienstanweisung die Verwendung einer persönlichen Schutzausrüstung vorgesehen gewesen sei.

[4] Das Erstgericht wies die Klage ab, wobei es feststellte, dass eine Sicherung der Arbeiter nur mit großem technischen und finanziellen Aufwand möglich gewesen wäre, aber nicht feststehe, ob der Unfall dadurch verhindert worden wäre. Eine Abbruchanweisung sei unstrittig erstellt worden. In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass bloß leichte Fahrlässigkeit vorliege.

Rechtliche Beurteilung

[5] Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass dem Klagebegehren stattgegeben wurde. Nach § 110 BauV wäre eine Abbruchanweisung mit entsprechenden Sicherungsmaßnahmen zu erstellen gewesen. Auch während der Abbrucharbeiten hätten die Beklagten nach § 111 Abs 1 BauV dafür Sorge tragen müssen, dass die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen eingehalten werden. An einsturzgefährdeten Bauteilen hätte nach § 111 Abs 4 BauV nur gearbeitet werden dürfen, wenn dies gefahrlos möglich gewesen wäre. Die überragenden Teile der Decke wären daher zu beseitigen oder abzustützen gewesen. Der Zweitbeklagte habe diese Sicherungsmaßnahmen unterlassen, obwohl für ihn das Überragen von Teilen der Decke und die damit verbundene Gefahr leicht erkennbar gewesen sei, was eine grobe Fahrlässigkeit darstelle. Die Erstbeklagte müsse sich das Fehlverhalten des Zweitbeklagten zurechnen lassen. Auf die Tatsachenrüge der Klägerin müsse daher nicht mehr eingegangen werden.

[6] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag, das Ersturteil wiederherzustellen.

[7] Mit der ihnen vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragen die Beklagten, das Rechtsmittel der Kläger zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

[8] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision zulässig, weil dem Berufungsgericht ein zur Wahrung der Rechtssicherheit aufzugreifender Verfahrensverstoß unterlaufen ist (RIS-Justiz RS0042760). Die Revision ist im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt (RS0041774 [T1]).

[9] 1. Hat der Dienstgeber, sein Vertreter oder ein Aufseher im Betrieb den Arbeitsunfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht, so hat er den Trägern der Sozialversicherung nach § 334 Abs 1 ASVG alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen. Der Oberste Gerichtshof hat schon ausgesprochen, dass die Gleichgültigkeit gegenüber Arbeitnehmerschutzvorschriften in Verbindung mit der besonderen Gefährlichkeit von Abbrucharbeiten geeignet ist, den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu begründen (8 ObA 34/22s = RS0085362 [T4]). Ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist aber stets nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0026555; RS0085228).

[10] 2. Die Beklagten machen als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens geltend, dass das Berufungsgericht davon ausging, dass der Zweitbeklagte das Überragen von Teilen der Decke leicht erkennen hätte können, obwohl das Erstgericht dazu keinerlei Feststellungen getroffen hat. Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens ist gegeben, wenn das Berufungsgericht ohne andere Feststellungen zu treffen und ohne eine Beweiswiederholung oder Beweisergänzung vorzunehmen seiner rechtlichen Beurteilung einen Sachverhalt zugrundelegt, der vom Erstgericht nicht festgestellt wurde (RS0043026; RS0043088). Entsprechendes gilt, wenn das Berufungsgericht ohne Beweiswiederholung Feststellungen aufgrund der in erster Instanz aufgenommenen Beweise ergänzt (RS0043057; RS0043108). Da das Erstgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob der Zweitbeklagte das Überragen von Teilen der Decke erkennen hätte können, durfte sich das Berufungsgericht ohne Durchführung eines ergänzenden Beweisverfahrens auch nicht auf die Angaben des Beklagten in seiner Beschuldigteneinvernahme stützen.

[11] 3. Nachdem das Berufungsgericht den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bloß darauf gestützt hat, dass der Zweitbeklagte das Überragen von Teilen der Decke leicht erkennen habe können, und die unangefochtenen Feststellungen des Erstgerichts nicht hinreichen, um ein allfälliges Verschulden des Zweitbeklagten beurteilen zu können, führt dies zur Aufhebung des Berufungsurteils (RS0043027; RS0116273). Da es sich um eine bloß punktuelle Frage des Sachverhalts handelt, wird das Berufungsgericht das Beweisverfahren nach § 488 ZPO im Rahmen einer mündlichen Berufungsverhandlung zur Frage der Erkennbarkeit des Deckenüberhangs zu ergänzen haben (RS0107620).

[12] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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