OGH 10Ob39/21i

OGH10Ob39/21i25.1.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber sowie die Hofräte Mag. Schober und Dr. Thunhart als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und gefährdeten Partei K*, vertreten durch Dr. Karl‑Heinz Plankel, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei B* GmbH, *, vertreten durch MMMag. Dr. Franz Josef Giesinger Rechtsanwalt GmbH in Götzis, wegen Unterlassung (Streitwert: 21.000 EUR), über den Revisionsrekurs der Beklagten und Gegnerin der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 13. Oktober 2021, GZ 10 R 52/21d‑12, womit der Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 5. August 2021, GZ 43 Cg 91/21y‑3, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0100OB00039.21I.0125.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

„Der Antrag der klagenden und gefährdeten Partei, der beklagten Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei ab sofort jede weitere Baumaßnahme auf dem GStNr * GB * zu untersagen, welche Auswirkungen auf die GStNr * und * in EZ * GB * insbesondere durch Erschütterungen hat und zu Bauschäden wie beispielsweise Mauerrissen führen kann, wird abgewiesen.“

Die klagende und gefährdete Partei hat der beklagten Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei die mit 1.176,48 EUR bestimmten Kosten des Rekursverfahrens (darin enthalten 196,08 EUR USt) sowie die mit 2.174,20 EUR bestimmten Kosten des Revisionsrekursverfahrens (darin enthalten 235,20 EUR USt und 763 EUR Pauschalgebühr) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die klagende und gefährdete Partei (in der Folge: Klägerin) ist Eigentümerin eines Grundstücks mit einem Wohnhaus. Die beklagte Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei (in Folge: Beklagte) ist Eigentümerin eines unmittelbar an das Grundstück der Klägerin angrenzenden Grundstücks.

[2] Die Beklagte begann mit dem Aushub einer Baugrube, um eine große Mehrparteienhausanlage zu errichten. Aufgrund dieser Bauarbeiten traten am Haus der Klägerin Rissbildungen und Setzungen auf. Die Klägerin bemerkte die Substanzschäden am 15. 6. 2021.

[3] Bereits zuvor, am 25. 3. 2021 hatte eine Beweissicherung durch einen gerichtlichen Sachverständigen stattgefunden. Dieser Sachverständige teilte mit E‑Mail vom 1. 7. 2021 ua mit: „Zum Tag der Begehung sind bereits deutliche Geländeverformungen (Setzungen) nördlich des Wohnhauses[der Klägerin]in Richtung der Baugrube ersichtlich. Diese Setzungen stehen in einem eindeutigen kausalen Zusammenhang zu den entlastungsbedingten Verformungen der Spundwände und verlaufen derzeit bis zum Gebäude hin. Die Anschlussfuge zwischen Fassade und Wohnhaus und der Zufahrtsstraße im Norden ist deutlich (ca 4 cm) geöffnet. Von den Setzungen betroffen sind nicht nur die Zufahrt, sondern auch die restlichen, nordseitigen Außenanlagen wie Gartenmauern, Plattenbeläge entlang des Wohnhauses (hier waren bereits Vorschäden vorhanden).“

[4] Die Klägerin wandte sich an die Baubehörde I. Instanz, welche ihr mit Schreiben vom 9. 7. 2021 mitteilte, dass keine Gefahr im Verzug vorliege und dass keine Baueinstellung durch Bescheid vorgesehen sei. Die bisherigen Schäden im Außenbereich und im Haus seien dokumentiert worden und stünden im kausalen Zusammenhang mit dem Bauvorhaben der Beklagten. Durch die vorgeschriebenen Höhenkontrollen werde die Entwicklung laufend überwacht.

[5] Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage von der Beklagten die Unterlassung jeder weiteren Baumaßnahme, welche Auswirkungen auf ihr Grundstück insbesondere durch Erschütterungen habe und zu Bauschäden wie beispielsweise Mauerrissen führen könne. Verbunden mit der Klage beantragte sie die Erlassung der aus dem Spruch ersichtlichen, mit dem Unterlassungsbegehren inhaltsgleichen einstweiligen Verfügung. Ohne die Erlassung dieser einstweiligen Verfügung werde die gerichtliche Verfolgung oder Verwirklichung des Unterlassungsanspruchs erheblich erschwert oder vereitelt, zumal dieser Anspruch das Verhindern von Schäden bezwecke. Der absehbare substantielle Gebäudeschaden mit all seinen möglichen Folgen stelle einen drohenden unwiederbringlichen Schaden im Sinn des § 381 Z 2 EO dar, der durch Geld nicht oder nicht völlig adäquat ersatzfähig sei. Weitere noch massivere Schäden seien hochwahrscheinlich, könnten jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Die ernste Schädigung der Bausubstanz eines Wohnhauses bringe die Gefahr der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit von Menschen mit sich. Der gegebene Zustand wie auch die latent vorhandene Befürchtung weitergehender Bauschäden stelle eine Minderung der Wohn‑ und Lebensqualität dar.

[6] Die Beklagte äußerte sich zum Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nicht.

[7] Das Erstgericht erließ die beantragte einstweilige Verfügung und beschränkte diese zeitlich mit der Rechtskraft des Urteils über die Klage. Es traf die oben wiedergegebenen Feststellungen. Rechtlich führte es aus, dass die Klägerin die Gefährdung durch einen drohenden unwiederbringlichen Schaden durch die Weiterführung des Bauprojekts und weiterer dadurch potentiell entstehender Schäden sowie die Gefahr der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und einer damit verbundenen Minderung der Wohn‑ und Lebensqualität bescheinigt habe. Weitere unwiederbringliche Schäden seien aufgrund des bescheinigten Sachverhalts nicht ausgeschlossen.

[8] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Zwar seien die von der Klägerin bescheinigten Setzungen des Hauses und der Außenanlagen keine unwiederbringlichen Schäden, weil deren Ersatz durch Geld möglich sei. Mit dem von der Beklagten verursachten Eingriff in die bauliche Unversehrtheit des Hauses der Klägerin gehe jedoch ein darüber hinausgehender immaterieller Schaden einher. Es könne als offenkundig angesehen werden, dass die bereits vorhandenen Schäden an ihrer Liegenschaft die Lebens‑ und Wohnqualität der Klägerin negativ beeinträchtigen und bei ihr Ärger, Verdruss und möglicherweise sogar Angstgefühle hervorriefen. Ihr diesbezügliches Vorbringen sei plausibel und könne daher auch ohne nähere Bescheinigung der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Damit liege aber auch eine immaterielle Beeinträchtigung der Klägerin vor, die durch Geldersatz nicht zur Gänze adäquat ausgeglichen werden könne. Das Rekursgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteige. Den Revisionsrekurs ließ es nachträglich mit der Begründung zu, dass keine nähere Rechtsprechung zur „Erheblichkeitsschwelle“ bei zu befürchtenden immateriellen Schäden durch Beeinträchtigung der Wohn‑ und Lebensqualität vorliege.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der von der Klägerin beantwortete Revisionsrekurs der Beklagten ist zulässig und berechtigt.

[10] 1.1 Gemäß § 381 Z 2 zweiter Fall EO können zur Sicherung anderer Ansprüche einstweilige Verfügungen getroffen werden, wenn derartige Verfügungen zur Abwendung eines drohenden unwiederbringlichen Schadens nötig erscheinen. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Schaden dann als unwiederbringlich anzusehen, wenn die Zurückversetzung in den vorigen Stand nicht tunlich ist und Geldersatz entweder nicht geleistet werden kann oder die Leistung des Geldersatzes dem angerichteten Schaden nicht völlig adäquat ist (2 Ob 49/21a mwH; RIS‑Justiz RS0005270). Keine adäquate Entschädigung durch Geld kann es bei immateriellen Schäden und Gesundheitsschäden geben (vgl RS0005319; Sailer in Deixler‑Hübner, EO [31. Lfg] § 381 EO Rz 14). Nicht nur eine wesentliche Minderung der Wohn‑ und Lebensqualität (1 Ob 604/92; 1 Ob 16/95 = RdU 1995/52, 140 [Kerschner]), sondern auch ein Erholungsverlust (7 Ob 644/95) oder auch Ärger, Verdruss, Aufregung und Lärm (1 Ob 634/81) wurden in der Rechtsprechung als derartige, nicht adäquat in Geld entschädigbare immaterielle Beeinträchtigungen angesehen.

[11] 1.2 Für die Bejahung eines unwiederbringlichen Schadens kann es nicht genügen, dass der Klägerin der ihr ihrer Ansicht nach zustehende Anspruch bis zum (rechtskräftigen) Abschluss des Hauptverfahrens vorenthalten wird. Vielmehr ist es erforderlich, dass durch dieses vorübergehende Vorenthalten ein konkreter darüber hinausgehender Schaden droht (10 ObS 38/17m SSV‑NF 31/26). Es kommt daher darauf an, welchen Schaden die Klägerin erleiden würde, wenn die beantragte einstweilige Verfügung nicht erlassen wird (RS0012390).

[12] 2.1 In ihrer Rechtsrüge führt die Revisionsrekurswerberin zusammengefasst aus, dass im vorliegenden Fall nicht erkennbar sei, worin der unwiederbringliche (immaterielle) Schaden der Klägerin konkret gesehen werde. Dem Sachverhalt fehle es an konkreten gefahrenerhöhenden Momenten: Es sei lediglich von Geländeverformungen (Setzungen) nördlich des Wohnhauses der Klägerin, der Öffnung einer Anschlussfuge zwischen Fassade und Wohnhaus und der Zufahrtsstraße im Norden sowie von geringfügigen Schäden an den Außenanlagen (Gartenmauern, Plattenbelägen entlang des Wohnhauses, überdies mit Vorschäden) die Rede. Ein unwiederbringlicher Schaden sei weder ausreichend bescheinigt noch behauptet. Schließlich fehle es an einer konkreten Gefährdung im Sinn eines drohenden unwiederbringlichen Schadens.

[13] 2.2 Mit diesen Ausführungen weicht die Revisionsrekurswerberin zwar insofern vom bescheinigten Sachverhalt ab, als danach aufgrund der Bauarbeiten der Beklagten nicht nur außerhalb des Wohnhauses der Klägerin, sondern an ihrem Haus Rissbildungen und Setzungen auftraten. Auch kann den Ausführungen der Revisionsrekurswerberin nicht beigepflichtet werden, dass sich größere Bauprojekte praktisch nie verwirklichen ließen, ohne dass es bei Nachbargrundstücken und/oder umliegenden Bauwerken zumindest zu geringfügigen Geländeveränderungen, Setzungsrissen oder sonstigen kleineren Schäden komme.

[14] 2.3 Zutreffend hat jedoch bereits das Rekursgericht ausgeführt, dass die festgestellten schon entstandenen Schäden am Haus der Klägerin und den Außenanlagen keine unwiederbringlichen Schäden im Sinn des § 381 Z 2 EO darstellen, weil ihre Behebung durch Geldersatz möglich ist. Auch ein schwer wieder gut zu machender Schaden ist noch kein unwiederbringlicher Schaden im Sinn dieser Bestimmung (RS0005291).

[15] 3.1 Offenkundige Tatsachen hat das Gericht seiner Entscheidung auch dann von Amts wegen zugrundezulegen, wenn sie nicht vorgebracht wurden (RS0037536; RS0040240 [T3]). Auch das Rechtsmittelgericht kann offenkundige Tatsachen – selbst ohne Beweisaufnahme – ergänzend seiner Entscheidung zugrundelegen (RS0040219). Bei Gericht offenkundig sind allerdings nur solche Tatsachen, die allen auf die Verhältnisse ihrer Umgebung aufmerksamen Personen bekannt sind oder die aus der täglichen Erfahrung abgeleitet werden können, also Naturereignisse, historische Begebenheiten und dergleichen, hingegen nicht Tatsachen, die nur zufällig einem einzelnen Richter, wenn auch anlässlich einer Amtshandlung, zur Kenntnis gekommen sind (RS0040230, RS0110714, RS0040244). Allgemeinkundigkeit einer Tatsache setzt voraus, dass sie ohne besondere Fachkenntnisse einer beliebig großen Anzahl von Menschen bekannt oder doch ohne Schwierigkeiten jederzeit zuverlässig wahrnehmbar ist (RS0110714 [T13]; RS0040237 [T2]).

[16] 3.2 Dem Rekursgericht ist zwar beizupflichten, dass die bereits eingetretenen Schäden die Lebens‑ und Wohnqualität der Klägerin weiterhin negativ beeinträchtigen und bei ihr Ärger, Verdruss und möglicherweise sogar Angstgefühle hervorrufen können. Allerdings ist dies nicht offenkundig im Sinn der dargestellten Rechtsprechung, denn solche negativen immateriellen Beeinträchtigungen können individuell unterschiedlich stark auftreten und sind daher nicht einer großen Anzahl von Menschen bekannt oder ohne Schwierigkeiten jederzeit zuverlässig wahrnehmbar.

[17] 3.3 Aus dem bescheinigten Sachverhalt lässt sich nicht eine bereits eingetretene ernste Schädigung der Bausubstanz ableiten. Dies ergibt sich auch daraus, dass die Baubehörde I. Instanz keine ernsthafte Gefahr im Verzug erkennen konnte und durch die vorgeschriebenen Höhenkontrollen die (weitere) Entwicklung laufend überwacht wird. Der vorliegende Sachverhalt ist daher mit dem zu 1 Ob 16/95 entschiedenen – auf diese Entscheidung beruft sich die Klägerin in ihrem Antrag auf Erlassung der einstweiligen Verfügung – nicht vergleichbar: Im damaligen Sachverhalt war bescheinigt, dass Veränderungen des Grundwasserspiegels und ‑stroms – insbesondere auf Höhe der Fundamentsohle des Hauses der damaligen Klägerin – bei den gegebenen Bodenverhältnissen sehr gefährlich seien und zu Folgeschäden mit ernster Schädigung der Bausubstanz des Hauses führen konnten.

[18] 3.4 Demgegenüber hat die Klägerin im vorliegenden Verfahren lediglich allgemein vorgebracht, dass weitere „massive Schäden“ „hochwahrscheinlich“ seien, „jedenfalls aber nicht ausgeschlossen werden“ könnten. Es bestehe eine „latent vorhandene Befürchtung weitergehender Bauschäden“, ein „substantieller Gebäudeschaden mit all seinen möglichen Folgen“ sei absehbar. Ein Vorbringen, welche konkreten gesundheitlichen oder anderen immateriellen Beeinträchtigungen der Klägerin ohne Erlassung der beantragten einstweiligen Verfügung drohten, hat sie nicht erstattet. Auch aus den im Rahmen der rechtlichen Beurteilung enthaltenen und oben wiedergegebenen Ausführungen des Erstgerichts lässt sich nur entnehmen, dass weitere Schäden „nicht ausgeschlossen“, also bloß möglich sind. Eine konkrete (weitere) Gefährdung für die Liegenschaft der Klägerin – und damit einhergehend für die Wohn‑ und Lebensqualität der Klägerin – lässt sich daraus nicht ableiten.

[19] Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben und der Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung abzuweisen.

[20] Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 78, 402 EO, §§ 41, 52 Abs 1 ZPO (RS0005667 [T4]).

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