OGH 2Ob49/21a

OGH2Ob49/21a29.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Steger und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und gefährdeten Partei mj N* D*, geboren am * 2007, vertreten durch die Mutter Mag. Dr. G* D*, beide *, vertreten durch Dr. Karin Prutsch und Mag. Michael Damitner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei S*gesellschaft mbH, *, vertreten durch Stingl und Dieter Rechtsanwälte OG in Graz, wegen medizinischer Behandlung (Streitwert 78.000 EUR) und Feststellung (Streitwert 78.000 EUR), hier wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung (Streitwert 16.000 EUR), über den außerordentlichen Revisionsrekurs der beklagten Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Rekursgericht vom 3. Februar 2021, GZ 3 R 14/21k‑43, mit dem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 31. Dezember 2020, GZ 39 Cg 21/20t‑31, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131525

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die klagende und gefährdete Partei hat die Kosten der Revisionsrekursbeantwortung vorläufig selbst zu tragen. Die beklagte Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei hat die Kosten des Revisionsrekurses endgültig selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Die am * 2007 geborene Klägerin und gefährdete Partei (im Folgenden: Klägerin) leidet an spinaler Muskelatrophie (SMA) vom Typ I bis II. Erstsymptome zeigten sich im vierten bis fünften Lebensmonat, eine kinderärztliche Diagnose wurde erst nach dem sechsten Lebensmonat gestellt. Der körperliche Zustand der Klägerin entspricht einer deutlich ausgeprägten SMA, mit einer Schwäche der Rumpfmuskulatur, einer leichten Schwäche der Atemmuskulatur sowie einer deutlichen Schwäche der oberen und unteren Extremitäten. Die Klägerin kann nicht gehen und nur mit Unterstützung und für sehr kurze Zeiträume stehen. Auch besteht eine „pulmonale Beteiligung“, sodass die Klägerin in der Nacht beim flachen Liegen wegen einer Zwerchfellschwäche mit einem Atem‑Unterstützungsgerät versorgt werden muss. Bei der SMA kommt es charakteristischerweise zu einem kontinuierlichen Fortschreiten der Erkrankung.

[2] Die Klägerin befindet sich bereits seit vielen Jahren in Behandlung des LKH‑Universitätsklinikums Graz, dessen Trägerin die Beklagte und Gegnerin der gefährdeten Partei (in der Folge: Beklagte) ist. Diese lehnte mit Schreiben vom 1. 10. 2019 eine von der Klägerin geforderte Behandlung mit dem Medikament N* (Handelsname: S*) ab, weil das bei ihr eingerichtete Medizinische Innovationsboard (MIB) eine Anwendung des Medikaments nur für Patienten unter sechs Jahren empfohlen habe.

[3] Die Therapie mit diesem Medikament ist nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft die einzig anerkannte Behandlungsmethode zur Therapie der SMA Typ I und II, wobei die Krankheitsform der Klägerin als Mischform einer SMA beider Typen einzustufen ist. Diese anerkannte Therapiemethode wird in zahlreichen europäischen Ländern (wie Belgien, Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Island, Irland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Spanien, Schweiz, Türkei, Großbritannien und Tschechien) sowie in einzelnen Bundesländern in Österreich auch bei erwachsenen Patienten eingesetzt. Für die Erkrankung der Klägerin ist diese Therapie derzeit die einzige anerkannte Behandlungsmethode. Da sie mittels Lumbalpunktion erfolgt und bei der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen der vorhandenen Skoliose nur mittels Bildwandler oder mittels Verabreichung in die Halswirbelsäule durchgeführt werden kann, erfordert sie eine stationäre Behandlung mit nachfolgender Überwachung für zumindest 24 Stunden. Bei guter Verträglichkeit kann die weitere Therapie im Rahmen einer tagesklinischen Betreuung erfolgen. Mit der Verabreichung dieser Therapie sind nach derzeitigem Stand der medizinischen Wissenschaft weder signifikante Nebenwirkungen noch ernsthafte Komplikationen verbunden. Durch diese Therapie ist eine signifikante Verbesserung der motorischen Funktionen (insbesondere Verbesserung der Gehfunktion, einzelner Muskelgruppen und motorischer Abläufe, insbesondere im Bereich der oberen Extremitäten sowie der Lungenfunktion) sowie eine Stabilisierung des weiteren Krankheitsverlaufs, also eine Verhinderung oder deutliche Verzögerung des Fortschreitens der Erkrankung, erzielbar.

[4] Der weitere Krankheitsverlauf der Klägerin bei Behandlung mit dem Medikament führt statistisch gesehen zu einer relevanten Chance sowohl einer Verbesserung einzelner Muskelfunktionen als auch einer Stabilisierung des Krankheitsverlaufs und auch einer möglichen Lebensverlängerung. In einem weniger günstigen Fall ist zumindest eine dokumentierbare Verzögerung des progredienten Krankheitsverlaufs möglich. Ein rascher Therapiebeginn mit S* ist für die Klägerin wesentlich, um zumindest ein Fortschreiten des Krankheitsverlaufs hintanzuhalten, zumal eine Rückbildung vorhandener schwerwiegender motorischer Defizite nur zum Teil möglich ist und die Klägerin zum jetzigen Zeitpunkt ihre Selbständigkeit noch so weit erhalten hat, dass ein weiterer Schulbesuch möglich ist und auch das Erlernen eines Berufs möglich erscheint. Deshalb erachtet auch die die Klägerin im Klinikum der Beklagten behandelnde Fachärztin die Indikation für die Therapie mit dem Medikament eindeutig für gegeben.

[5] Im Fall der Nichtverabreichung des Medikaments oder dessen Nichtansprechens ist mit einem kontinuierlichen Fortschreiten der Muskelschwäche bis zur kompletten Lähmung aller Muskelgruppen in den nächsten Jahren mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Entsprechend der wissenschaftlichen Datenlage können unbehandelte SMA‑Patienten das 20. Lebensjahr nicht überleben.

[6] Daher ist die Behandlung mit S* bei dem jetzigen Zustandsbild der Klägerin dringend indiziert und es ist aus medizinischer Sicht möglichst rasch damit zu beginnen.

[7] Die Klägerin begehrt mit ihrer am 2. 3. 2020 eingebrachten Klage von der Beklagten, sie a) zur Anstaltspflege in das LKH‑Universitätsklinikum Graz aufzunehmen und entsprechend dem Stand der medizinischen Wissenschaft mit dem Medikament S* zu behandeln, sowie b) die Feststellung, die Beklagte hafte ihr für alle Nachteile, die ihr aus der Ablehnung der Behandlung mit dem Medikament S* durch die Beklagte entstehen „und/oder die Behandlung mit S* fortgesetzt wird, solange die Indikation dafür vom zu behandelnden Arzt bestätigt wird“.

[8] Aufgrund der auf einen genetischen Defekt zurückzuführenden Erkrankung bestehe die akute Gefahr weiterer Funktionsverluste und insbesondere einer weiteren Verschlechterung des Atemvermögens bis zu dessen komplettem Verlust. Seit Mitte des Jahres 2017 existiere in Österreich eine zugelassene Behandlung gegen diese Erkrankung, die zu einer Verbesserung oder einem Anhalten des progredienten Krankheitsverlaufs führe, nämlich die Behandlung durch Injektion des Wirkstoffs N* (Handelsname: S*). Obwohl die Beklagte gemäß §§ 22 f KAKuG verpflichtet sei, die Klägerin als „unabweisbar Kranke“ in Anstaltspflege zu nehmen, verweigere sie ungerechtfertigt ihre Behandlung.

[9] Nach Vorliegen des im Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens stellte die Klägerin am 21. 12. 2020 den Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung des Inhalts, der Beklagten zur Sicherung des Anspruchs der Klägerin auf Durchführung der Behandlung mit dem Medikament aufzutragen, sie in dem von ihr betriebenen Universitätsklinikum ohne unnötigen Verzug mit dem Medikament S* zu behandeln. Die Behandlung mit dem Medikament sei bei der Klägerin medizinisch indiziert und unter Bedachtnahme auf ihren körperlichen Zustand möglichst rasch zu beginnen, andernfalls unwiederbringliche Gesundheitsschäden drohten. Eine gleichwertige medizinische Alternative bestehe zu der begehrten Behandlung nicht.

[10] Die beklagte Krankenanstaltengesellschaft bestritt das Klagebegehren und sprach sich gegen die Erlassung der einstweiligen Verfügung aus. Aufgrund des vorliegenden Sachverständigengutachtens – dessen Erörterung noch ausstehe – könne nicht der zweifelsfreie Schluss auf eine medizinische Indikation gezogen werden. Die behauptete Gefährdung liege nicht vor, weil die Klägerin nach ihren Ausführungen die Möglichkeit habe, sich in einem anderen Krankenhaus in Österreich (Wien, Linz, Salzburg oder Klagenfurt) behandeln zu lassen, was ihr auch zumutbar sei. Es fehle daher nicht nur der drohende unwiederbringliche Schaden, sondern auch die unabwendbare Gefährdung und Dringlichkeit. Die Entscheidung über die Verabreichung des Medikaments falle in die Entscheidungskompetenz, Zuständigkeit und Verantwortung des Landesgesundheitsfonds, der das Klinikum der Beklagten finanziere. Das dort eingerichtete Medizinische Innovationsboard (MIB) habe eine Anwendung nur für Patienten unter sechs Jahren empfohlen. Eine Pflicht zur Durchführung einer bestimmten Behandlung sei aus § 8 Abs 2 KAKuG nicht abzuleiten. Bei einer Stattgebung des Sicherungsantrags wäre die Beklagte unabhängig von allfälligen Kontraindikationen und der Tagesverfassung der Klägerin, ohne Möglichkeit einer vorherigen Abklärung der Risiken sowie der notwendigen Aufklärung darüber zur Einleitung der Therapie verhalten. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang die Haftung der behandelnden Ärzte, die nach allgemeinen Grundsätzen bestünde, auch wenn die Behandlung aufgrund der Anordnung durch das Gericht erfolge.

[11] Das Erstgericht erließ die beantragte einstweilige Verfügung und trug der Beklagten bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache die Behandlung der Klägerin mit dem Medikament S*in dem von ihr betriebenen Universitätsklinikum ohne unnötigen Verzug „entsprechend dem Stand der medizinischen Wissenschaft“ auf. Nach dem (eingangs wiedergegebenen) bescheinigten Sachverhalt sei bei der Klägerin ohne die sofortige Einleitungder Therapie mit einer kontinuierlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands bis hin zum Verlust der Atemfunktion und einem verfrühten Tod zu rechnen. Daraus folge, dass sie „unabweisbar krank“ iSd § 22 Abs 4 KAKuG sei und die Aufnahmepflicht daher zu bejahen sei. Die Klägerin habe hinlänglich bescheinigt, dass für die Behandlung ihrer Erkrankung nach dem derzeit anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft als einzige wirksame Behandlungsmethode nur jene mit dem Wirkstoff N* (S*) zur Verfügung stehe. Die beklagte Betreiberin eines Schwerpunktkrankenhauses verfüge über ausreichende Expertise für die Behandlung neuromuskulärer Erkrankungen und wende die Behandlung mit dem Medikament auch bereits bei Kindern bis sechs Jahren an. In Anbetracht dieser Umstände und angesichts der Bejahung der medizinischen Indikation dieser Therapie durch die zuständige Spitals‑(fach‑)ärztin der Beklagten schulde sie der Klägerin aus dem aufrecht bestehenden Behandlungsvertrag daher die Durchführung dieser einzig wirksamen Behandlungsmethode. Dass die Beklagte die Behandlung „entsprechend dem Stand der Wissenschaft“ durchzuführen habe, decke den von ihr angesprochenen unvorhergesehenen Behandlungsverlauf und einen dadurch notwendigen Abbruch ebenso ab, wie die davor notwendige Aufklärung und Einwilligung der Klägerin und ihrer Eltern. Der Klägerin drohe ein unwiederbringlicher Schaden, eine der Erlassung der einstweiligen Verfügung entgegenstehende Nichtrückführbarkeit der Verfügung liege nicht vor.

[12] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

[13] Das Rekursgericht vertrat die Ansicht, eine der Aufnahmepflicht unterliegende Krankenanstalt habe eine Behandlungsmethode grundsätzlich anzubieten, wenn diese anerkannter Stand der medizinischen Wissenschaft und das erforderliche Behandlungsniveau aufgrund der aus dem Anstaltszweck ableitbaren Spezialisierung erreichbar sei. Das von der Beklagten betriebene Schwerpunktkrankenhaus mit seiner Abteilung für Neurologie und Neuropädiatrie verfüge über ausreichende Expertise bei der Behandlung neuromuskulärer Erkrankungen und wende die Behandlung mit dem Medikament auch bereits bei Kindern unter sechs Jahren an. Darüber hinaus erachte auch die für die Klägerin zuständige Fachärztin diese Therapie als indiziert, sodass die Beklagte der Klägerin aus dem Behandlungsvertrag die Durchführung dieser Therapie schulde. Die Beklagte werde von der Behandlungsverpflichtung im konkreten Fall nicht dadurch entbunden, dass die in Frage stehende Behandlungsmethode in anderen Kliniken in Österreich angeboten werde. Es gehe nicht an, dass der Träger einer öffentlichen Krankenanstalt die Aufnahme eines im Einzugsgebiet seiner Krankenanstalt wohnhaften Aufnahmebedürftigen pflichtwidrig verweigere und sich von seiner Pflicht dadurch zu befreien suche, dass er auf die Aufnahmepflicht anderer Krankenanstaltenträger verweise. Eine sachliche Rechtfertigung für die Ablehnung der begehrten Behandlungsmethode durch den Krankenhausträger liege nicht vor.

[14] Die Gefährdung der Gesundheit und des Lebens der Klägerin sei ein unwiederbringlicher Schaden iSd § 381 Z 2 EO. Ohne die Behandlung drohe ein Fortschreiten der Erkrankung und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein vorzeitiger Tod. Ein rascher Therapiebeginn sei geboten, um einen weiteren Verlust motorischer Fähigkeiten zu verhindern und allenfalls eine teilweise Rückbildung zu ermöglichen. Die Nichtrückführbarkeit der einstweiligen Verfügung habe das Erstgericht mit zutreffender Begründung verneint.

[15] Die Klägerin habe bescheinigt, dass für die Behandlung ihrer Erkrankung nach dem derzeit anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft nur die Behandlung mit dem begehrten Wirkstoff als einzige wirksame Behandlungsmethode zur Verfügung stehe und geeignet sei, eine wesentliche Verbesserung ihres körperlichen Zustands herbeizuführen, zumindest aber ein weiteres Fortschreiten des Krankheitsverlaufs zu verzögern und damit eine signifikante Verbesserung des Krankheitsverlaufs zu bewirken. Nach den Feststellungen sei die Behandlung „bei dem jetzigen Zustandsbild der Klägerin“ dringend indiziert. Den Einwänden der Beklagten zur fehlenden Berücksichtigung unvorhersehbarer künftiger Verschlechterungen des Gesundheitszustands der Klägerin durch die begonnene Behandlung und einen dadurch allenfalls notwendigen Behandlungsabbruch sowie des Erfordernisses der vor der Behandlung notwendigen Aufklärung und Einwilligung der Klägerin und ihrer Eltern sei entgegenzuhalten, dass von der aufgetragenen Behandlung „entsprechend den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft“ die von der Beklagten angesprochenen Unsicherheiten und Anpassungen an die jeweilige Behandlungssituation und/oder den Gesundheitszustand der Klägerin umfasst seien.

[16] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Beklagten mit dem erkennbaren Abänderungsantrag, den Antrag auf Erlassung der einstweiligen Verfügung abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[17] Die Beklagte macht geltend, der behandelnde Arzt könne nach herrschender Rechtsprechung niemals dazu verpflichtet werden, eine aus seiner Sicht nicht medizinisch indizierte Behandlung durchzuführen. Aufgrund der einstweiligen Verfügung sei es dem behandelnden Arzt nicht möglich, unvorhersehbare zukünftige Verschlechterungen des Gesundheitszustands der Klägerin, deren aktuellen Tageszustand sowie etwaige Kontraindikationen zu berücksichtigen. Vielmehr werde die Verpflichtung ausgesprochen, die Behandlung ohne jegliche Alternative auszuführen, ein Behandlungsabbruch sei nicht möglich. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten werde ebenso beeinträchtigt wie die Selbstverantwortung des behandelnden Arztes. So stelle die Verabreichung des Medikaments über die Halswirbelsäule einen nicht unerheblichen Risikofaktor dar, und es sei bei pulmonalen Risikopatienten eine Narkose immer mit Lebensgefahr verbunden. Es möge durchaus sein, dass eine Behandlung der Klägerin mit dem Medikament medizinisch indiziert sei, dies bedeute jedoch nicht, dass diese Behandlung auch tatsächlich bei ihr durchgeführt werden könne. Vielmehr müsse konkret vom tagesaktuellen Zustandsbild der Klägerin ausgegangen werden, um beurteilen zu können, ob Kontraindikationen bzw Komplikationen bei der Einleitung der Behandlung eintreten könnten oder sogar bereits vorlägen. Durch die einstweilige Verfügung werde das Ergebnis des Hauptverfahrens vorweggenommen, die geschaffene Sachlage sei nicht rückführbar. Eine akut drohende Gefahr liege nicht vor, es bestehe für die Klägerin die Möglichkeit, sich in einem anderen Spital in Österreich behandeln zu lassen.

[18] Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen und hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

[19] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil Judikatur des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob im Rahmen des Behandlungsvertrags die einzig mögliche, auch medizinisch indizierte Therapie geschuldet wird, nicht besteht; er ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[20] 1. Aufrechter Behandlungsvertrag:

[21] 1.1. Der ärztliche Behandlungsvertrag ist ein im Gesetz nicht näher typisiertes Vertragsverhältnis, aufgrund dessen der Arzt dem Patienten eine fachgerechte Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst – nicht aber einen bestimmten Erfolg – schuldet, wofür der aktuell anerkannte Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft maßgeblich ist (5 Ob 81/19a; RS0021335 [T2]).

[22] 1.2. Nach der Rechtsprechung ist als Gegenstand des jeweiligen Behandlungsvertrags im Zweifel grundsätzlich ein bestimmter „Krankheitsfall“ des Patienten anzusehen und nicht der jeweils isolierte Behandlungsabschnitt. Die Dauer eines Behandlungsvertrags kann daher nur anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls verlässlich beurteilt werden. Das gilt auch, wenn der Behandlungsvertrag mit dem Rechtsträger eines Krankenhauses geschlossen wurde und die Krankenhausärzte insoweit als Erfüllungsgehilfen des Rechtsträgers tätig werden (8 Ob 34/08w; 7 Ob 143/14a; RS0123378).

[23] 1.3. Das Erstgericht hielt es für bescheinigt, dass sich die Klägerin seit vielen Jahren im Universitätsklinikum der Beklagten in Behandlung befindet. Aus diesem (ohnehin unstrittigen) Sachverhalt folgerte es, dass zwischen den Streitteilen ein aufrechter Behandlungsvertrag besteht. Diese Auffassung, die auch dem ausdrücklich erklärten Prozessstandpunkt der Beklagten entspricht (ON 6 S 3), blieb im Rechtsmittelverfahren unbeanstandet, sodass sie den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt werden kann. Somit stellt sich die Frage, ob die Klägerin im Rahmen dieses bestehenden Behandlungsvertrags Anspruch auf die von ihr begehrte Behandlung hat bzw, ob die Beklagte aus dem Behandlungsvertrag die von der Klägerin geforderte Behandlung mit dem Medikament S* schuldet.

[24] 2. Anspruch auf Behandlung mit einem bestimmten Medikament?

[25] 2.1. Nach § 49 Abs 1 Satz 1 ÄrzteG ist der Arzt verpflichtet, jeden von ihm in ärztliche Behandlung oder Beratung übernommenen Gesunden oder Kranken ohne Unterschied der Person gewissenhaft zu betreuen.

[26] In Österreich wird grundsätzlich das Prinzip der Therapiefreiheit anerkannt. Der Arzt kann daher im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen darüber befinden, welche von mehreren medizinischen Maßnahmen unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den Patienten erwarten lässt (Wallner in GmundKomm § 49 ÄrzteG 1998 Rz 5 mwN).

[27] 2.2. Für die Determinierung des Inhalts des Behandlungsvertrags ist neben § 49 Abs 1 ÄrzteG auch § 8 Abs 2 KAKuG in Verbindung mit den jeweiligen landesgesetzlichen Ausführungsbestimmungen – hier § 25 Abs 1 StKAG – maßgeblich (vgl 9 Ob 32/12i). Die beiden letztgenannten Bestimmungen sehen vor, dass ärztliche Untersuchungen und Behandlungen in Krankenanstalten nur nach den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft vorgenommen werden dürfen. Bei der Bestimmung des gebotenen Behandlungsniveaus spielt der Spezialisierungsgrad der (insb allgemeinen) Krankenanstalten eine Rolle, wobei aber – auch im hier relevanten – Bereich der Schwerpunktkrankenanstalten (vgl § 2a Abs 1 lit b KAKuG) eine rein nationale Bestimmung des Standes der Wissenschaft zu kurz greift, sondern auch das Ausland ein Bezugspunkt ist: Schon der AB zu § 8 Abs 2 KAG 1957 (164 BlgNR VIII. GP  7) hat sich auf solche Behandlungsmethoden bezogen, die sowohl in der Fachwissenschaft des Inlands oder Auslands als klinisch erprobte und erfolgversprechende Behandlungsmethoden anerkannt sind (vgl Stöger, Ausgewählte öffentlich‑rechtliche Fragestellungen des österreichischen Krankenanstaltenrechts [2008] 642 [FN 2871]; ders in GmundKomm § 8 KAKuG Rz 2). Die gesetzliche Anordnung, dass Krankenanstalten ihre Patienten nach den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft behandeln müssen, stellt unabdingbares Recht dar und wird zwingender Inhalt des Behandlungsvertrags, den der Patient auch als subjektives Recht durchsetzen kann. Der Patient hat daher aus dem Behandlungsvertrag ein Recht auf Behandlung nach den „erforderlichen und dem jeweiligen Krankheitsbild adäquaten Behandlungsmaßnahmen“ (so Stöger, Krankenanstaltenrecht 643 mit Hinweisen auf die insoweit übereinstimmende Lehre; vgl 9 Ob 32/12i).

[28] 2.3. Nichts anderes gilt auch für die Versorgung mit Arzneimitteln:

[29] Mayrhofer (Das rechtlich gebotene Niveau der Arzneimittelversorgung in Krankenanstalten, RdM‑ÖG 2019/5, 9 [10]) setzt sich mit der erforderlichen Behandlung aus dem Blickwinkel der Arzneimittelversorgung auseinander und meint, die Frage nach dem rechtlich gebotenen Niveau der Arzneimittelversorgung könne aufgrund des KAKuG (und der dazu ergangenen Ausführungsgesetze der Bundesländer) eindeutig beantwortet werden. Als Grundsatz gelte, dass eine Versorgung nach dem internationalen Stand der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften geboten sei, die sich ausschließlich nach dem Gesundheitszustand der Patienten orientieren dürfe (vgl § 19a Abs 2 Z 3 KAKuG). Gesetzlich erlaubte Differenzierungen würden sich aus den krankenanstaltenrechtlichen Versorgungsstufen ergeben. Bei therapeutischer Gleichwertigkeit sei das ökonomisch günstigere Arzneimittel zu verwenden. Die jeweilige finanzielle Ausstattung oder Belastung gemeinnütziger Krankenanstalten könne an diesem Ergebnis de lege lata nichts ändern. Seine Schlussfolgerungen zieht er insbesondere auch aus § 8 Abs 2 KAKuG, aus dem gegenüber einem Rechtsträger einer Krankenanstalt ein Leistungsanspruch auf eine Behandlung nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft resultiere.

[30] Auch Resch (Die Anwendung von schulmedizinisch gebotenen Arzneimitteln in Krankenanstalten, JAS 2019, 329 [344 f]) gelangt in seiner Untersuchung der Frage, welches medizinische Leistungsniveau landesgesundheitsfondsfinanzierte Krankenanstalten ihren Patienten schulden, (soweit hier relevant) zu dem Ergebnis, dass der Rechtsträger unstrittig eine Behandlung lege artis auf dem Stand der medizinischen Wissenschaft schulde. Zumindest in der höchsten Versorgungsstufe bestehe ein zivilrechtlicher Erfüllungsanspruch, dessen Level jedenfalls das Leistungsniveau der gesetzlichen Krankenversicherer im Rahmen der Krankenbehandlung (also in Bezug auf Arzneimittel jenes für Heilmittel gemäß § 136 ASVG) abbilde.

[31] 2.4. Im Rahmen eines mit einem Krankenhausträger abgeschlossenen (Krankenhausaufnahme- und) Behandlungsvertrags erfolgt die Konkretisierung und Bestimmung der Behandlungsmöglichkeiten durch die aktuell beratenden und behandelnden Spitalsärzte (9 Ob 32/12i). Beim „Stand der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften“ handelt es sich um einen unbestimmten Begriff, dessen Bestimmung auf Tatsachenebene zu erfolgen hat (Mayrhofer, RdM-ÖG 2019/5, 9 [10]; Kopetzki, Behandlungen auf dem „Stand der Wissenschaft“, in Pfeil, Finanzielle Grenzen des Behandlungsanspruchs [2010] 23).

[32] Im Fall der Klägerin ist aufgrund des bescheinigten Sachverhalts davon auszugehen, dass die Behandlung mit dem Medikament S* dem „Stand der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften“ entspricht.

[33] 2.5. Die Ablehnung einer bestimmten Behandlungsmethode durch den Krankenhausträger setzt eine sachliche Rechtfertigung voraus. Diese läge zB vor, wenn die Methode nach der medizinisch-therapeutischen Einschätzung eines vom Krankenhausträger beschäftigten Facharztes nach seiner Sachkunde und Erfahrung als nicht zielführend erachtet wird (9 Ob 32/12i). Wenn Spezialisten eines bestimmten Gebiets nach ihrem Wissen und ihrer Erfahrung die Durchführung einer bestimmten Behandlungsmethode als nicht erfolgversprechend ablehnen und darin innerhalb des Rahmens des medizinischen Kalküls auch keine Verkennung der Sachlage liegt, ergibt sich keine Pflicht des Krankenhausträgers, weitere – gegebenenfalls externe – Ärzte hinzuzuziehen, bis die Durchführung einer vom Patienten gewünschten alternativen Behandlungsmethode befürwortet wird (9 Ob 32/12i; ebenso zum Vertragsarzt Rebhahn, Wann dürfen Vertragsärzte die Behandlung von Versicherten ablehnen? RdM 2013/140, 241 f).

[34] 2.6. Von diesen Voraussetzungen unterscheiden sich aber jene im vorliegenden Fall. Denn dieser ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Sachverhaltsfeststellungen nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft derzeit nur eine einzige Behandlungsmethode zur Verfügung steht, die im In- und Ausland auch bei Patienten im Alter der Klägerin angewandt wird, ohne dass eine auch nur annähernd gleichwertige Behandlungsalternative besteht. Die Behandlung mit dem Medikament ist ferner bei der Klägerin dringend indiziert, was auch die sie behandelnde Fachärztin am Klinikum der Beklagten bestätigt, und es ist weder mit signifikanten Nebenwirkungen noch mit ernsthaften Komplikationen zu rechnen.

[35] Auch wenn daher ausdrücklich zu betonen ist, dass die Auswahl der im Einzelfall bestgeeigneten Therapiemethode grundsätzlich Sache des behandelnden Arztes als Spezialist auf dem jeweiligen medizinischen Fachgebiet ist, entbehrt die Ablehnung der Behandlung mit dem Medikament S* im hier vorliegenden Sonderfall, in dem bescheinigt wurde, dass nur eine – alternativlose, medizinisch indizierte und derzeit nicht mit ernsthaften Komplikationen verbundene – Behandlungsmethode zur Verfügung steht, einer sachlichen Rechtfertigung, zumal das Klinikum der Beklagten das Medikament an SMA erkrankten Personen bis zu einem Lebensalter von sechs Jahren bereits verabreicht und daher zweifellos auch zur Erbringung der Leistung an die Klägerin in der Lage ist.

[36] 2.7. Da die Beklagte der Klägerin aus dem aufrechten Behandlungsvertrag eine Behandlung nach den anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft schuldet (vgl Punkt 2.2.), die sie im LKH‑Universitätsklinikum Graz als landesfondsfinanzierter Schwerpunktkrankenanstalt auch erwarten darf (vgl Resch, JAS 2019, 329 [334]), ist ihr die Bescheinigung ihres behaupteten Anspruchs gelungen, wobei auch hier die Frage offen bleiben kann, ob bei einer einstweiligen Verfügung nach § 381 Z 2 EO überhaupt Anspruchsgebundenheit besteht (vgl 2 Ob 36/20p).

[37] 2.8. Unzutreffend sind die Einwände der Beklagten, dass bei Antragsstattgebung auf allfällige Kontraindikationen und Komplikationen im Laufe der Behandlung nicht mehr reagiert werden könne. In einem gerichtlichen Verfahren kann – (mit hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen) auch vom Rechtsmittelgericht – nur der zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung bzw der Beschlussfassung in erster Instanz bestehende Sachverhalt der Entscheidung zu Grunde gelegt werden. Umstände, die nach diesem Zeitpunkt eintreten, können zu einem Erlöschen des Anspruchs führen, was nach neuerer Rechtsprechung auch mit Aufhebungsantrag gemäß § 399 Abs 1 Z 2 EO geltend gemacht werden kann (vgl RS0123517). Sollten sich daher nach dem Stichtag relevante Sachverhaltsänderungen ergeben, wäre die Beklagte zur Aufklärung darüber und gegebenenfalls zu einem Behandlungsabbruch verpflichtet, wenn ansonsten keine Behandlung lege artis mehr sichergestellt werden kann. Nur auf die Durchführung einer solchen hat ja die Klägerin einen Anspruch und nur zur Durchführung einer solchen ist die Beklagte – auch aufgrund einer einstweiligen Verfügung – verpflichtet. Änderten sich die Verhältnisse derart, dass die Durchführung der Behandlung oder die Fortsetzung der Behandlung nicht mehr medizinisch indiziert wäre, würde der Anspruch der Klägerin erlöschen.

[38] 3. Unwiederbringlicher Schaden:

[39] 3.1. Gemäß § 381 Z 2 zweiter Fall EO können zur Sicherung anderer Ansprüche einstweilige Verfügungen getroffen werden, wenn derartige Verfügungen zur Abwendung eines drohenden unwiederbringlichen Schadens nötig erscheinen. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Schaden dann als unwiederbringlich anzusehen, wenn die Zurückversetzung in den vorigen Stand nicht tunlich ist und Geldersatz entweder nicht geleistet werden kann oder die Leistung des Geldersatzes dem angerichteten Schaden nicht völlig adäquat ist (2 Ob 293/98a; 7 Ob 102/16z; RS0005270). Gerade die Gefährdung der Gesundheit kann ein drohender unwiederbringlicher Schaden sein (3 Ob 37/66 SZ 39/58; 7 Ob 102/16z; 5 Ob 215/18f; RS0005319). Dabei muss nicht schon ein Schaden eingetreten sein, es genügt vielmehr schon die Möglichkeit, dass von der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustands ein unwiederbringlicher Schaden zu befürchten ist (3 Ob 37/66; RS0016308).

[40] Es kommt daher darauf an, welchen Schaden die Klägerin erleiden würde, wenn die beantragte einstweilige Verfügung nicht erlassen wird (RS0012390). Die Klägerin hat bescheinigt, dass mit der Verabreichung des Medikaments S* möglichst rasch begonnen werden muss, weil ansonsten ihre Erkrankung kontinuierlich fortschreitet und sich ihre Lebenserwartung bedrohlich verkürzt. Darin liegt ein drohender unwiederbringlicher Schaden iSd § 381 Z 2 EO.

[41] 3.2. Die Möglichkeit, die Gefahr eines unwiederbringlichen Schadens auf andere Weise als durch die einstweilige Verfügung abzuwenden, steht der Bewilligung der einstweiligen Verfügung nur dann entgegen, wenn der gefährdeten Partei die entsprechenden Maßnahmen eher zuzumuten sind als ihrem Gegner die Befolgung der einstweiligen Verfügung (3 Ob 2039/96s = RS0103055; vgl zur Ablehnung der Berücksichtigung unzumutbarer Abhilfemaßnahmen auch 3 Ob 37/66; Konecny, Der Anwendungsbereich der einstweiligen Verfügung [1992], 270 f und 293).

[42] Nach dem vom Erstgericht als bescheinigt angenommenen Sachverhalt wird die von der Klägerin begehrte Behandlung in zahlreichen – vom Erstgericht im Detail aufgelisteten – europäischen Ländern und in einigen österreichischen Bundesländern auch bei über sechs Jahre alten Personen eingesetzt. Die Beklagte ist deshalb der Ansicht, dass der Klägerin die Behandlung ihrer Krankheit in einem Krankenhaus eines anderen Bundeslandes in Österreich möglich und zumutbar wäre.

[43] Diese Argumentation vernachlässigt allerdings, dass zwischen den Parteien bereits ein Behandlungsvertrag besteht und die Klägerin seit langem im Universitätsklinikum der Beklagten Patientin ist. Es kann daher vorausgesetzt werden, dass den behandelnden Fachärzten der Krankheitsverlauf und das konkrete Zustandsbild der Klägerin bereits seit Jahren bekannt ist. Dieses Vorwissen müsste in einem neu aufzusuchenden Klinikum erst aufgebaut werden, was mit der besonderen Dringlichkeit der Behandlung unvereinbar ist. Bei Abwägung dieser Umstände ist der Beklagten die Befolgung der einstweiligen Verfügung jedenfalls eher zuzumuten als der Klägerin das Ausweichen auf ein Klinikum in einem anderen Bundesland mit ungewissem Behandlungsbeginn.

[44] 3.3. Die Bewilligung der einstweiligen Verfügung scheitert auch nicht daran, dass die der Klägerin einmal gewährte Behandlung nicht mehr rückführbar wäre:

[45] a) Dient die einstweilige Verfügung zur Abwendung eines drohenden unwiederbringlichen Schadens iSd § 381 Z 2 EO, kann sie zwar auch bewilligt werden, wenn sie sich mit dem im Hauptverfahren angestrebten Ziel – vorübergehend – deckt (RS0009418 [T12, T16]). Auch eine solche einstweilige Verfügung darf nach ständiger Rechtsprechung aber keine Sachlage schaffen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (1 Ob 136/08w; vgl 5 Ob 215/18f; RS0005696).

[46] Bei engem Verständnis dieser Rechtsprechung (vgl aber unten c.) wäre die Rückführbarkeit der angeordneten Maßnahme im vorliegenden Fall nicht möglich. Die während der Geltungsdauer der einstweiligen Verfügung durchgeführte Verabreichung des Medikaments S* kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Dies haben auch die Vorinstanzen zutreffend erkannt.

[47] b) Zu Recht verwiesen sie aber auf die Ausführungen von König (Die Nichtrückführbarkeit einstweiliger Verfügungen, in FS Griss [2011] 389 [401 f]), der nach eingehender Analyse der (sich sAn in „nicht gänzlich gesicherten Bahnen“ bewegenden) höchstgerichtlichen Rechtsprechung nur jene Sachverhalte für problematisch hält, bei denen zum Zeitfaktor noch ein weiteres Merkmal hinzutritt. Demnach liege Nichtrückführbarkeit (ua) dann vor, wenn nach Aufhebung der einstweiligen Verfügung oder jedenfalls nach Ablauf ihrer Geltungsdauer eine Sachlage bestehen bleibt, die – abgesehen vom Zeitablauf – nicht mit jener übereinstimmt, die vor dem Erlass der einstweiligen Verfügung bestanden hat und dadurch Beeinträchtigungen verbleiben, die nicht (vollständig) in Geld ausgleichbar sind. Dem Gegner der gefährdeten Partei müsse also seinerseits ein unwiederbringlicher Schaden iSd § 381 Z 2 EO entstehen. Seien hingegen die Folgen der einstweiligen Verfügung naturaliter oder zumindest durch Geldersatz adäquat ausgleichbar, bestünden unter dem Gesichtspunkt der Rückführbarkeit keine Bedenken gegen die Erlassung einer einstweiligen Verfügung (so auch König, Einstweilige Verfügungen im Zivilverfahren5 Rz 3.86 f; zust Kodek in Angst/Oberhammer, EO3 § 378 Rz 7/3).

[48] c) Zuletzt ist auch der Oberste Gerichtshof – gestützt auf die Auffassung Königs – diesem Verständnis von der Nichtrückführbarkeit der einstweiligen Verfügung gefolgt (vgl 8 Ob 91/16i; 4 Ob 185/20i). Bereits zuvor hatte er ausgeführt, dass jede einstweilige Verfügung Auswirkungen habe, die nachträglich nicht völlig aus der Welt geschafft werden könnten (16 Ok 1/09 mwN; 17 Ob 24/09t). So könne etwa ein einstweilig angeordnetes Unterlassen nicht rückwirkend durch ein Handeln ersetzt werden, dennoch seien Unterlassungsverfügungen im Regelfall zulässig. Zu unterbleiben hätten daher nur solche Sicherungsmaßnahmen, die unwiederbringliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Gegners nach sich zögen (17 Ob 24/09t).

[49] d) Auf dieser Grundlage haben die Vorinstanzen einen unwiederbringlichen Schaden der Beklagten verneint. Diese lässt in ihrem Rechtsmittel die diesbezüglichen Ausführungen unwidersprochen und äußert sich – wie schon in erster Instanz – nicht einmal dazu, inwieweit ihr durch die Bewilligung der einstweiligen Verfügung überhaupt ein Schaden entstehen könnte, geschweige denn behauptet sie, dass ein solcher unwiederbringlich wäre.

[50] Jedenfalls unter diesen Umständen ist somit der Rechtsansicht der Vorinstanzen beizupflichten, dass der Bewilligung der einstweiligen Verfügung deren behauptete Nichtrückführbarkeit nicht entgegensteht.

[51] 3.4. Auch bei ausreichender Bescheinigung des Anspruchs kann das Gericht die Bewilligung der einstweiligen Verfügung dann von einer angemessenen Sicherheitsleistung abhängig machen, wenn nach den Umständen des Falls Bedenken wegen tiefgreifender Eingriffe der einstweiligen Verfügung in die Interessen des Gegners der gefährdeten Partei bestehen. Die Entscheidung, ob und in welcher Höhe eine Sicherheit aufzuerlegen ist, erfordert eine Abwägung zwischen dem Sicherungsbedürfnis der gefährdeten Partei und der Schwere des Eingriffs in die Sphäre des Gegners (§ 390 Abs 2 EO; 4 Ob 206/19a; RS0005711). In diese Interessenabwägung ist auch die Wahrscheinlichkeit einzubeziehen, dass sich im Hauptverfahren das Nichtbestehen des zu sichernden Anspruchs ergibt. Je höher diese Wahrscheinlichkeit ist, umso eher ist eine Sicherheit aufzuerlegen (4 Ob 206/19a mwN).

[52] Die Vorinstanzen haben der Klägerin keine Sicherheitsleistung auferlegt. Auch das wird im Rechtsmittel der Beklagten nicht gerügt. Diese Vorgangsweise ist auch nicht zu beanstanden, wiegt doch das Sicherungsbedürfnis der Klägerin ungleich schwerer als ein – allfälliger – Eingriff in die Sphäre der Beklagten. Nach den Erwägungen in Punkt 2. bestehen derzeit auch keine Anhaltspunkte für eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin im Hauptverfahren unterliegt. Schließlich ist zu bedenken, dass die Bestimmung des § 390 Abs 2 EO die Durchführung einer an sich berechtigten Verfügung nicht verhindern darf (RS0005706).

[53] 4. Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte hat es daher bei der erlassenen einstweiligen Verfügung zu verbleiben.

[54] 5. Die Entscheidung über die Kosten der Klägerin beruht auf § 393 Abs 1 EO, jene über die Kosten der Beklagten auf §§ 78, 402 EO iVm §§ 41, 50 ZPO.

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