OGH 1Ob74/21w

OGH1Ob74/21w21.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*, Schüler, *, vertreten durch Dr. Markus Moser, Rechtsanwalt in Imst, gegen die beklagte Partei P*, Schüler, *, vertreten durch Dr. Andreas Fink & Dr. Christopher Fink, Rechtsanwälte in Imst, wegen 34.450,77 EUR sowie Feststellung (Streitwert 7.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 11. Februar 2021, GZ 1 R 159/20x‑38, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 20. August 2020, GZ 40 Cg 17/19i‑31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131672

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Der unmündige Kläger begehrt vom ebenfalls unmündigen Beklagten Schadenersatz, weil er ihn dadurch, dass er einen Ast in seine Richtung warf, am Auge verletzte.

[2] 2. Die Revisionsgründe der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurden geprüft, sie liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[3] 3. Ein minderjähriges Kind ist grundsätzlich erst mit seiner Mündigkeit deliktsfähig (§ 176 ABGB). Zuvor trifft es in der Regel keine Haftung für von ihm verursachte Schäden. Eine solche kommt aber in Ausnahmefällen nach § 1310 ABGB in Betracht, wenn den Eltern – was hier unstrittig ist – keine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht (vgl § 1309 ABGB) vorgeworfen werden kann.

[4] 4.1. Der erste Fall des § 1310 ABGB setztvoraus, dass dem an sich deliktsunfähigen Schädiger ausnahmsweise doch ein Verschulden zur Last gelegt werden kann. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach seiner jeweiligen Einsichtsfähigkeit und der Art seines Verhaltens (vgl RIS‑Justiz RS0027020; RS0027566). Es ist zu prüfen, ob der Unmündige konkret in der Lage war, die Schädlichkeit und Gefährlichkeit seines Handelns zu erkennen und gemäß dieser Einsicht zu handeln. Je entfernter das Alter von der Mündigkeitsgrenze liegt, umso eher ist eine Einsichtsfähigkeit abzulehnen (vgl RS0027499 [T2]). Ob ihn ausnahmsweise ein Verschulden trifft, ist jeweils im konkreten Einzelfall zu prüfen (RS0027020 [T1, T9]; RS0027566; RS0027048) und begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (vgl 2 Ob 44/08x).

[5] 4.2. Der Beklagte war im Unfallszeitpunkt rund achteinhalb Jahre alt, der Kläger rund neuneinhalb Jahre. Es steht fest, dass der Kläger beim Zusammentreffen mit dem Beklagten auf einer Wiese in Begleitung von vier Freunden war und es zwischen den Parteien bereits zuvor zu Konflikten gekommen war. Die Gruppe rund um den Kläger wollte den Beklagten „einschüchtern“, zwei Gruppenmitglieder (es steht nicht fest wer) hielten dazu „Baumäste“ bzw „Stecken“ in der Hand und „gestikulierten mit diesen“. Der in einiger (nicht näher feststellbarer) Entfernung stehende Beklagte deutete dies als Angriff, nahm ebenfalls einen Ast (dessen „Dimension“ nicht feststeht) und warf ihn in Richtung des Klägers, der dadurch verletzt wurde. Dass er beabsichtigt hatte, ihn ernsthaft zu verletzen, konnte nicht festgestellt werden.

[6] 4.3. Auf Basis dieses Sachverhalts bedarf es im Ergebnis keiner Korrektur, dass das Berufungsgericht dem an sich deliktsunfähigen Beklagten kein Verschulden an der Verletzung des Klägers anlastete.

[7] Einem achteinhalbjährigen Kind muss zwar typischerweise bewusst sein, dass man eine Person, auf die man einen (harten) Gegenstand wirft, dadurch verletzen kann (vgl 7 Ob 670/85 zu einem Siebeneinhalbjährigen; 6 Ob 311/70, JBl 1971, 312 zu einem Zehnjährigen; 1 Ob 152/60 zu einem Zwölfjährigen [Verletzungsabsicht]). Das Berufungsgericht berücksichtigte aber zu Recht, dass er den Ast nur deshalb in Richtung des Klägers warf, weil er sich durch die Gruppe von fünf älteren Kindern, von denen zwei mit „Stecken bewaffnet“ waren und damit einschüchternde Gesten machten, bedroht fühlte. Angesichts seines deutlich unter der Mündigkeitsgrenze liegenden Alters, der von ihm empfundenen „Bedrohung“ durch die ihm zahlen- und altersmäßig überlegene Kindergruppe sowie des Umstands, dass – wie sich teilweise aus der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ergibt – nicht feststeht, dass er den Ast gezielt gegen den Kläger warf, wie groß und schwer dieser war und wie weit der Beklagte vom Kläger entfernt stand, begegnet es keinen im Einzelfall aufzugreifenden Bedenken, dass dem an sich deliktsunfähigen Beklagten seine – objektiv nicht gerechtfertigte – Reaktion nicht als (vom Kläger nachzuweisendes; vgl RS0027573) Verschulden vorgeworfen wurde. Ob sie –wovon das Berufungsgericht ausging und was der Revisionswerber bestreitet– nach allgemeinen (also für Erwachsene geltenden) Maßstäben als „Putativnotwehrhandlung“ im Sinn eines entschuldbaren Tatsachenirrtums über das Vorliegen einer Notwehrlage anzusehen war, muss nicht geprüftwerden, weil von einem Kind im Alter des Beklagten in der von ihm offensichtlich als bedrohlich empfundenen (von seinen „Kontrahenten“ auch so beabsichtigten; in der Revision ist davon die Rede, dass sie den Beklagten „verjagen“ wollten) Situation –unabhängig von der vom Berufungsgericht vorgenommenen rechtlichen Qualifikation als „Putativnotwehr“ – nicht gefordert werden konnte, dass es die tatsächliche Gefahr realistisch einschätzt und sich dieser entsprechend ruhig und besonnen verhält.

[8] 5.1. Ist ein konkreter Schuldvorwurf und somit eine Haftung nach dem ersten Fall des § 1310 ABGB ausgeschlossen, so kommt unter Umständeneine –vom Kläger auch in dritter Instanz angestrebte –Haftung nach dessen dritten Fall in Betracht (vgl 7 Ob 55/99k; 3 Ob 111/16v). Danach ist zu fragen, ob der Schädiger mit Rücksicht auf sein Vermögen sowie jenes des Geschädigten den Schaden leichter tragen könne als jener, wobei insbesondere eine auf Seite des Schädigers bestehende Schadensdeckung durch eine Haftpflichtversicherung zu berücksichtigen ist (vgl RS0027504; RS0027510; RS0027582 [T2, T4, T6]).

[9] 5.2. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen lehnte die von der Mutter des Beklagten abgeschlossene Haftpflichtversicherung eine Deckung des vorliegenden Schadensfalls ab, weil er nicht unter das verschuldete Risiko fiele. Der Kläger, der die Voraussetzungen des § 1310 dritter Fall ABGB und somit auch das Bestehen einer ausreichenden Versicherungsdeckung auf Seite des Schädigers behaupten und beweisen muss (vgl RS0027573 [T4] = 7 Ob 36/88; siehe auch 6 Ob 2316/96y), befasst sich in seinem Rechtsmittel nur mit der Frage, ob – wie dies die Rechtsprechung als weitere Voraussetzung für die Haftung nach diesem Tatbestand verlangt (3 Ob 111/16v mwN) – ein voll deliktsfähiger Schädiger in der Situation des Beklagten für den Schaden des Klägers gehaftet hätte. Er legt hingegen nicht dar, warum die (vom Versicherer bestrittene) Versicherungsdeckung bestehen sollte. Somit zeigt er auch zur angestrebten Haftung nach § 1310 dritter Fall ABGB keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

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