OGH 9ObA116/20d

OGH9ObA116/20d17.12.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshof Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter KAD Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M***** M*****, vertreten durch Gerlach Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei S***** GmbH, *****, vertreten durch Bartlmä Madl Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 168.373,89 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Oktober 2020, GZ 9 Ra 67/20v‑26, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:009OBA00116.20D.1217.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Beurteilung, ob im Einzelfall ein Kündigungs- oder Entlassungsgrund verwirklicht wurde, keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0106298), es sei denn, das Berufungsgericht hätte bei seiner Entscheidung den Beurteilungsspielraum überschritten. Dies zeigt die außerordentliche Revision der Beklagten nicht auf.

[2] 2.  Die Annahme einer beharrlichen Dienstpflichtverletzung iSd § 27 Z 4 AngG setzt grundsätzlich eine vorangegangene Ermahnung oder wiederholte Aufforderung zur Dienstleistung bzw Befolgung der Anordnung voraus, es sei denn, dass es sich um eine Dienstverletzung so schwerwiegender Art handelt, dass auf die Nachhaltigkeit der Willenshaltung des Angestellten mit Grund geschlossen werden kann, weil dann dem Dienstnehmer die Bedeutung oder das Gewicht seines pflichtwidrigen Verhaltens bekannt sein muss (RS0029746). Um eine Ermahnung entbehrlich zu machen, muss also die Weigerung des Dienstnehmers, seinen Dienstpflichten nachzukommen, derart eindeutig und endgültig sein, dass angesichts eines derartigen, offensichtlich unverrückbaren Willensentschlusses des Angestellten eine Ermahnung als bloße Formalität sinnlos erscheinen müsste (RS0029746 [T13]; RS0060669; RS0060612 [T4]). Die Frage, ob eine Weigerung von derart schwerwiegender Art ist, dass auf die Nachhaltigkeit der Willenshaltung des Angestellten schon deshalb mit Grund geschlossen werden kann, kann ebenfalls nur nach den konkreten Umständen des Einzelfalls entschieden werden und stellt dementsprechend regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0029746 [T27]; RS0105987 [T3]).

[3] Nach den Feststellungen hat der bei der Beklagten seit 1. 9. 1980 beschäftigte Kläger seine dienstvertraglichen Pflichten insoweit verletzt, als er den Anforderungen der Beklagten an die korrekte Nutzung des im Jahr 2018 installierten elektronischen Arbeitszeiterfassungssystems nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist. Dass das Erinnerungsmail der Beklagten vom 30. 1. 2019 eine bloße Weisung und noch keine Ermahnung darstellte, wird in der außerordentlichen Revision nicht in Frage gestellt. Richtig ist auch, dass dem Kläger die Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Verwendung des elektronischen Arbeitszeiterfassungssystems zwar bewusst war, er es aber als mühsam empfand, den vorgesehenen Software-Terminal zu benutzen. Wenn das Berufungsgericht letztlich das Vorliegen des Entlassungsgrundes des § 27 Z 4 erster Fall AngG verneint hat, weil beim Kläger nicht davon ausgegangen werden könnte, dass eine entsprechende Aufforderung der Beklagten zur pflichtgemäßen Nutzung des Zeiterfassungssystems nicht gefruchtet hätte, also von vornherein als aussichtslos und damit sinnlos angesehen werden müsste, so ist dies nach der Lage des Falls nicht zu beanstanden.

[4] 3.  Auch die Frage, ob der Tatbestand der Vertrauensunwürdigkeit iSd § 27 Z 1 letzter Fall AngG verwirklicht ist, kann nur anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden (RS0103201; RS0029733 ua). Insbesondere hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob ein Fehlverhalten eines Angestellten bei Anlegung eines objektiven Maßstabs geeignet war, das Vertrauen des Arbeitgebers soweit zu erschüttern, dass ihm die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses – auch nur bis zum nächsten Kündigungstermin (RS0029020) – nicht zumutbar ist (RS0103201). Dabei entscheidet nicht das subjektive Empfinden des Dienstgebers, sondern es ist an das innerhalb eines längeren Zeitraums zu berücksichtigende Gesamtverhalten des Angestellten ein objektiver Maßstab anzulegen, der nach den Begleitumständen des einzelnen Falls und nach der gewöhnlichen Verkehrsauffassung angewendet zu werden pflegt (RS0029833; RS0081395).

[5] Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Verstoß des Klägers bei der Arbeitszeitaufzeichnung habe zwar eine gewisse Erschütterung des in den Kläger gesetzten Vertrauens bewirkt, hätte aber aus objektiver Sicht noch zu keinem die Entlassung rechtfertigenden Vertrauensverlust geführt, bewegt sich im Rahmen des den Vorinstanzen zukommenden Ermessensspielraums. Insbesondere ist im konkreten Fall zu berücksichtigen, dass der Kläger in seinen 38 Dienstjahren sonst kein anderes Fehlverhalten gesetzt hat und sich durch seine manuellen, teils im Voraus vorgenommenen Eintragungen im Zeiterfassungssystem nicht den Anschein längerer Arbeitszeiten als tatsächlich geleistet erwecken wollte, um sich dadurch Leistungen der Beklagten zu erschleichen. Richtig ist zwar, dass im Einzelfall auch schon Fahrlässigkeit genügen kann und eine Schädigungsabsicht oder ein Schadenseintritt beim Entlassungsgrund der Vertrauensunwürdigkeit nicht erforderlich ist (RS0029531). Fest steht aber auch, dass der Kläger im Schnitt sogar länger am Arbeitsplatz anwesend war, als sich dies aus seinen Arbeitszeiteintragungen ergibt. Die Überlegungen der außerordentlichen Revision zur Beweislastverteilung im Hinblick auf das nicht feststellbare Ausmaß der jeweiligen Leistungen des Klägers zur festgehaltenen Anzahl seiner Arbeitsstunden sind hier nicht zielführend.

[6] Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

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