OGH 2Ob170/12g

OGH2Ob170/12g20.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Sol, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W***** K*****, vertreten durch LEEB & WEINWURM Rechtsanwälte GmbH in Neunkirchen, gegen die beklagten Parteien 1. KR H***** R*****, und 2. W*****, beide vertreten durch Dr. Günther Romauch, Dr. Thomas Romauch, Rechtsanwälte in Wien, wegen 24.699,48 EUR, Rente (Streitwert 1.872 EUR) und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR) sA (Gesamtstreitwert 29.571,48 EUR), über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 27.699,48 EUR) gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 27. Juni 2012, GZ 12 R 148/11i-15, womit das Teil- und Zwischenurteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 18. Juli 2011, GZ 26 Cg 233/10k-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien binnen 14 Tagen die mit 1.771,49 EUR (darin 295,25 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 2. 11. 2006 ereignete sich auf der A2 in Fahrtrichtung Graz bei der Ausfahrt Neunkirchen ein Auffahrunfall, bei dem der Kläger mit seinem Sattelzug (Klagsfahrzeug) auf das von der Erstbeklagten gehaltene und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherte Sattelfahrzeug (Beklagtenfahrzeug) auffuhr. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs hielt hinter einem im ersten Fahrstreifen anhaltenden Pkw an, dessen Lenker offenbar deswegen stehen geblieben war, um einen Überkopfwegweiser zu lesen. In der Folge fuhr zunächst ein Klein-Lkw auf das Beklagtenfahrzeug auf, und zwar mit seiner rechten Frontseite gegen die linke Heckpartie des Sattelzugs, ehe der Kläger mit dem von ihm gelenkten Sattelzug (Klagsfahrzeug) auf den angehaltenen Sattelzug (Beklagtenfahrzeug) auffuhr, wobei er mit der linken Frontseite seiner Zugmaschine gegen die rechte Heckseite des Beklagtenfahrzeugs stieß.

In einem Vorprozess nahm der Kläger den Fachverband der Versicherungsunternehmungen nach § 2 VerkehrsopferschutzG im Zusammenhang mit dem überraschenden Anhaltemanöver des unbekannt gebliebenen Pkw-Lenkers in Anspruch. In jenem Verfahren stellten die dortigen Parteien einvernehmlich fest, dass der Fachverband dem Kläger für künftige Schäden im Ausmaß von 50 % hafte und er verpflichtete sich zur Zahlung von 38.000 EUR und einer monatlichen Rente von 75 EUR.

In einem weiteren Vorprozess nahm der hier Erstbeklagte den Haftpflichtversicherer des vom nunmehrigen Kläger gelenkten Sattelzugs und den Haftpflichtversicherer des Klein-Lkws aus dem Titel des Schadenersatzes betreffend den an seinem Sattelzug entstandenen Schäden und Stehzeiten sowie Überstellungskosten in Anspruch. Das dortige Berufungsgericht legte eine Schadensteilung im Verhältnis 1 : 3 zugunsten des dortigen Klägers zugrunde, wobei dieser ein Viertel seines Schadens aufgrund der außergewöhnlichen Betriebsgefahr, die von seinem Sattelfahrzeug ausgegangen sei, selbst zu tragen habe.

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Zahlung eines Schadenersatzbetrags (ua Schmerzengeld) von 24.699,48 EUR und einer monatlichen Rente von 52 EUR sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige aus dem Verkehrsunfall vom 2. 11. 2006 resultierende Schäden des Klägers im Ausmaß von 25 %. Aufgrund seines Anhaltens auf der Autobahn sei vom Beklagtenfahrzeug eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgegangen. Der Erstbeklagte als Halter und die Zweitbeklagte als Haftpflichtversicherer hafteten daher für den Schaden des Klägers nach dem EKHG im Ausmaß von zumindest einem Viertel.

Die Beklagten erhoben die Einreden der Streitanhängigkeit und des Vorliegens einer entschiedenen Sache. Im Übrigen wendeten sie ein, der Kläger habe sein Auffahren auf den angehaltenen Sattelzug aufgrund Einhaltung eines viel zu geringen Tiefenabstands und verspäteter Reaktion durch grobe Sorglosigkeit selbst verschuldet. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs habe verkehrsbedingt angehalten. Dabei habe er jede erdenkliche Sorgfalt angewendet und den Lkw ständig unter Kontrolle gehabt. Ein Schleudern habe nicht stattgefunden. Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr sei von dem angehaltenen Sattelzug nicht ausgegangen. Für die Annahme einer solchen müssten besondere Umstände eintreten, die über die mit dem normalen Betrieb eines Fahrzeugs verbundene Gefahr hinausgingen. Die bloß physische Anwesenheit des Sattelzugs reiche dafür nicht aus.

Das Erstgericht verwarf die Prozesseinreden der Beklagten, da sowohl für die Streitanhängigkeit, als auch für die entschiedene Sache die - hier nicht gegebene - Parteienidentität Voraussetzung sei. In der Sache schloss sich das Erstgericht hinsichtlich des Vorliegens einer außerordentlichen Betriebsgefahr und der Gewichtung der Zurechnungsgründe der rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts im zweiten Vorverfahren an und erkannte mittels Teil- und Zwischenurteils das Zahlungsbegehren als dem Grunde nach mit 4/7 zu Recht bestehend; dies mit der Maßgabe, dass der Kläger von den Beklagten und dem aus dem Vergleich im ersten Vorverfahren haftenden Fachverband der Versicherungsunternehmungen nicht mehr als 4/7 des Gesamtschadens erhalten könne. Auch dem Feststellungsbegehren gab das Erstgericht mit derselben Maßgabe statt. Bei der gebotenen Gesamtabwägung ergebe sich eine Gewichtung der Zurechnungsgründe im Verhältnis des Klägers zum Fachverband der Versicherungsunternehmungen und zu den Beklagten von 3 : 3 : 1. Der Kläger habe daher 3/7 seines Gesamtschadens dem Grunde nach selbst zu tragen, 1/7 hätten die Beklagten zu tragen. Über das Rentenbegehren wurde nicht abgesprochen.

Das Berufungsgericht wies mittels Teilurteils das Zahlungsbegehren über 24.699,48 EUR sA sowie das Feststellungsbegehren ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Anhalten eines Lkws auf einer Autobahn eine außergewöhnliche Betriebsgefahr bewirke, einer Klarstellung durch den Obersten Gerichtshof bedürfe. Der Beklagtenlenker habe nach dem Vorbringen des Klägers verkehrsbedingt hinter einem anderen Kraftfahrzeug angehalten. Gefahrenerhöhende Momente, die eine vom Sattelzug des Erstbeklagten ausgehende Betriebsgefahr als außergewöhnliche Betriebsgefahr erscheinen ließen, habe der Kläger nicht behauptet und seien auch nach dem vom Erstgericht aus dem Vorprozess übernommenen Sachverhalt nicht gegeben. Ausgehend vom Vorbringen des Klägers stelle sich sein Auffahren auf den verkehrsbedingt angehaltenen Sattelzug des Erstbeklagten für den Beklagtenlenker als unabwendbares Ereignis dar. Das Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr sei zu verneinen. Die vom Kläger ausschließlich geltend gemachte EKHG-Haftung der Beklagten bestehe daher nicht zu Recht.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen. In der Entscheidung 2 Ob 359/99d habe der Oberste Gerichtshof ausgeführt, dass bereits ein auf einem Fahrstreifen einer Autobahn auch nur zum Teil zum Stillstand gebrachtes mehrspuriges Fahrzeug eine äußerst gefährliche Situation schaffe, die weit über die vom gewöhnlichen Betrieb ausgehende Gefahr hinausgehe. Ein Hinzutreten weiterer Umstände sei nicht gefordert worden. Daher sei es völlig unerheblich, aufgrund welcher Umstände ein Fahrzeug zum Stillstand komme. Entscheidend sei, dass durch das Anhalten ein Gefahrenmoment für den Nachfolgeverkehr geschaffen werde. Bei einem totalen Stillstand auf der Autobahn liege jedenfalls eine außergewöhnliche Betriebsgefahr vor. Die von einem derartigen Fahrzeug ausgehende Gefahr sei wesentlich höher als von einem schleudernden Fahrzeug, das sich vom Nachfolgeverkehr weg bewege. Ein auf der Autobahn haltender Lkw bewirke daher jedenfalls eine außergewöhnliche Betriebsgefahr.

Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel des Klägers als unzulässig zurückzuweisen bzw ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

1. Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr im Sinne von § 9 Abs 2 und § 11 Abs 1 EKHG ist immer dann anzunehmen wenn die Gefährlichkeit, die regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbunden ist, dadurch vergrößert wird, dass besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Verlauf der Dinge nicht schon deshalb vorliegen, weil ein Fahrzeug im Betrieb ist (RIS-Justiz RS0058461 [T4]; RS0058467; RS0058586). Die Unbeherrschbarkeit des Fahrzeugs ist kein notwendiges Merkmal; liegt sie jedoch vor, so ist regelmäßig eine außergewöhnliche Betriebsgefahr anzunehmen (Schauer in Schwimann, ABGB3 § 9 EKHG Rz 42 mwN). Das entscheidende Kriterium für die Annahme einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr liegt darin, dass das Kraftfahrzeug in einer Weise verwendet wird, dass dadurch eine Gefahrenlage eintritt, die mit dem ordnungsgemäßen und normalen Betrieb nicht verbunden ist; dies gilt etwa für ein ins Rutschen oder Schleudern geratenes Kraftfahrzeug, das vom Lenker nicht mehr voll beherrscht werden kann (RIS-Justiz RS0058467 [T14]).

2. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wird bei einem nicht bloß durch die Verkehrslage bedingten Stillstand (oder Quasi-Stillstand) insbesondere auf Autobahnen das Vorliegen außergewöhnlicher (manchmal auch „besonderer“) Betriebsgefahr regelmäßig bejaht (2 Ob 54/92 [Autobahntunnel]; 2 Ob 57/98s [bei Dunkelheit querstehendes Fahrzeug]; 2 Ob 35/01p [querstehender Pkw]; 2 Ob 359/99d und 2 Ob 314/00s [auf dem Pannenstreifen abgestellte, jedoch in den Fahrstreifen ragende Fahrzeuge]; 2 Ob 43/01i [durch einen Anprall unkontrolliertes Aufschieben auf das davor stehende Fahrzeug]; 2 Ob 229/01t [auf einem Fahrstreifen abgestelltes Sattelkraftfahrzeug]; 2 Ob 151/03z [wegen eines Reifenplatzers langsamer als 10 km/h mit 2 m seiner Breite auf dem ersten Fahrstreifen einer Schnellstraße fahrender Lkw-Zug]; 2 Ob 181/11y [infolge Steigung und Glatteis „hängen gebliebener“ Lkw]).

3. Verneint wurde das Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr im Fall des Anhaltens auf der Autobahn im Bereich einer Geschwindigkeitsbegrenzung (80 km/h) bei fehlenden sonstigen gefahrenerhöhenden Umständen wie Fahrbahnglätte oder Sichtbehinderungen (2 Ob 143/83 = ZVR 1984/186), sowie bei einem mit langsamer Geschwindigkeit aus einem Beschleunigungsstreifen in die Autobahn einfahrenden Lkw-Zug, auch wenn schlechte Sichtverhältnisse herrschen (2 Ob 151/89 = ZVR 1990/157).

4. Die unter 2. genannten Fälle von außergewöhnlicher Betriebsgefahr - so auch jener vom Revisionswerber zitierte zu 2 Ob 359/99d - haben gemeinsam, dass es sich jeweils nicht bloß um ein durch die Verkehrslage bedingtes Anhalten handelte, sondern dass durch den Betrieb der jeweiligen Kraftfahrzeuge Gefahrenlagen geschaffen wurden, die mit dem ordnungsgemäßen und normalen Betrieb nicht verbunden sind. Im vorliegenden Fall liegt jedoch ein bloß verkehrsbedingtes Anhalten des Beklagtenfahrzeugs vor. Das Anhalten ist auch auf der Autobahn nicht grundsätzlich verboten (RIS-Justiz RS0073592). Das Beklagtenfahrzeug geriet weder ins Schleudern, noch verlor dessen Lenker darüber die Kontrolle. Es traten keine besonderen Umstände hinzu, die nicht schon im normalen Betrieb des Beklagtenfahrzeugs gelegen sind.

5. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein bloß verkehrsbedingtes Anhalten eines Kraftfahrzeugs auf der Autobahn ohne Hinzutreten besonderer Umstände wie etwa Schleudern oder Unkontrollierbarkeit keine außergewöhnliche Betriebsgefahr iSv § 9 Abs 2 EKHG begründet. Andernfalls müsste eine solche selbst bei einem auch auf Autobahnen häufig vorkommenden Anhalten im Zuge einer Verkehrsstockung angenommen werden.

Der von der angefochtenen Entscheidung umfasste Klagsanspruch besteht daher nicht zu Recht. Der Revision des Klägers war somit nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 41, 50 ZPO.

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