OGH 5Ob126/11g

OGH5Ob126/11g13.12.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Caroline S*****, geboren am *****, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Mutter Iveta N*****, vertreten durch Mag. Klaus Kabelka, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 9. März 2011, GZ 42 R 117/11h, 42 R 118/11f-69, mit dem infolge Rekurses der Mutter (ua) der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 4. Jänner 2011, GZ 59 Ps 21/10x-55, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden im Umfang des erstgerichtlichen Spruchpunktes 4. aufgehoben und dem Erstgericht wird insoweit die neuerliche Entscheidung über den Antrag der Mutter auf Prüfung der Rechtmäßigkeit der vom Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzten vorläufigen Maßnahme unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Text

Begründung

Die mj und während des Verfahrens österreichische Staatsbürgerin gewordene Caroline wurde unehelich geboren und lebte seit Geburt bei ihrer obsorgeberechtigten Mutter. Der Vater hat die Familie etwa 6 Monate nach der Geburt der Tochter verlassen und ist seit seiner Abschiebung im Jahr 2004 unbekannten Aufenthalts.

Der Jugendwohlfahrtsträger (folgend nur mehr: JWT) entzog der Mutter am 2. 7. 2010 gestützt auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB die gesamte Pflege und Erziehung für die mj Caroline und brachte diese in einem Krisenzentrum unter. Mit Eingabe vom 7. 7. 2010 teilte der JWT dem Erstgericht die getroffene Maßnahme mit und stellte den Antrag, der Mutter die Obsorge „im Teilbereich Pflege und Erziehung“ für die mj Caroline zu entziehen und dem JWT zu übertragen.

Die Mutter beantragte Antragsabweisung und (ua), die Maßnahme des JWT als „zivilrechtlich rechtswidrig“ festzustellen.

Das Erstgericht sprach - soweit für das Revisionsrekursverfahren von Interesse - aus, dass

1. die vorläufige Maßnahme des JWT, gemäß § 215 Abs 2 (richtig: Abs 1) Satz 2 ABGB der Mutter die Pflege und Erziehung für die mj Caroline zu entziehen, aufgehoben wird;

2. der Antrag des JWT, der Mutter die Obsorge „im Teilbereich Pflege und Erziehung“ für die mj Caroline zu entziehen und dem JWT zu übertragen, abgewiesen wird;

3. …

4. der Antrag der Mutter, es möge … darüber erkannt werden, dass (der JWT) seit 2. 7. 2010 die mj Caroline rechtswidrig unterbringe, wird zurückgewiesen;

5. …

Die Entscheidungen des Erstgerichts zu den Spruchpunkten 1. (Aufhebung der Maßnahme des JWT) und 2. (Abweisung des Obsorgeübertragungsantrags) erwuchsen unbekämpft in Rechtskraft.

Die (zu Spruchpunkt 4. erfolgte) Abweisung des (sinngemäßen) Antrags der Mutter auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der vom JWT gestützt auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzten Maßnahme begründete das Erstgericht damit, dass nach der Entscheidung 1 Ob 60/05p (EFSlg 110.956) die Zulässigkeit eines solchen Antrags den Gesetzen nicht entnommen werden könne.

Das Rekursgericht gab dem von der Mutter gegen die Abweisung ihres Feststellungsantrags (Spruchpunkt 4.) erhobenen Rekurs nicht Folge. Es vertrat rechtlich die Ansicht, dass das Gericht über einen Antrag gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB nicht ausdrücklich die vom JWT angeordneten vorläufigen Maßnahmen, die bis zur gerichtlichen Entscheidung wirksam blieben, zu genehmigen oder deckungsgleiche anzuordnen habe. Vielmehr habe das Gericht unter Bedachtnahme auf § 176 Abs 1 ABGB selbstständig eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der getroffenen Maßnahme zu fällen oder andere Maßnahmen anzuordnen. Dabei sei nicht rückwirkend zu entscheiden, vielmehr stehe die rückwirkende Anordnung solcher gerichtlicher Maßnahmen und auch die rückwirkende Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung auf den JWT im Gegensatz zu höchstgerichtlicher Judikatur und entspreche nicht dem Gesetz (6 Ob 82/00b). Zwar habe der Oberste Gerichtshof in 2 Ob 270/04a (EFSlg 107.901) ausgeführt, dass der durch eine Maßnahme des JWT in seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der einschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung habe, ob die Einschränkung zu Recht erfolgt sei; allerdings habe dann der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 1 Ob 60/05p (EFSlg 110.956) wieder die Ansicht vertreten, die Zulässigkeit eines Antrags auf Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Maßnahme des JWT könne dem Gesetz nicht entnommen werden und es sei für eine derartige Entscheidung auch kein Bedürfnis erkennbar.

Vorliegend dürfte es insbesondere auch um die Frage gehen, wer die mit dem Einschreiten des JWT verbundenen Kosten zu tragen habe. Da diese Frage auch in einem Leistungsverfahren geltend gemacht werden könne, erscheine ein gesondertes Feststellungsverfahren zur Wahrung der Rechte der Mutter nicht zwingend erforderlich.

Angesichts des von der Mutter geltend gemachten Umstands, dass der JWT im Rahmen des § 215 ABGB nicht als Behörde, sondern (nur) als privater Träger der Obsorge tätig werde, stelle sich die Frage, inwieweit dann überhaupt ein Recht auf bloße Feststellung einer allfälligen Grundrechtsverletzung bestehe.

Zu beachten sei weiters, dass durch die begehrte Feststellung keineswegs alle Umstände geklärt würden, welche für eine Entscheidung über die Tragung der Kosten der vom JWT getroffenen Maßnahmen maßgeblich sei. Selbst die Feststellung einer rechtswidrigen Unterbringung ab einem gewissen Zeitpunkt würde noch nichts darüber aussagen, ob andere, kostengünstigere, jedoch ebenfalls zu honorierende Maßnahmen erforderlich gewesen wären, gegebenenfalls warum solche nicht gesetzt worden seien und inwieweit der JWT bzw die Mutter ein Verschulden an einer allfälligen Fehlentwicklung treffe. Fraglich sei auch, ob der JWT die mj Caroline tatsächlich gegen deren ausdrücklich geäußerten Wunsch einfach wieder nach Hause hätte schicken können und wie die Mutter und die Öffentlichkeit reagiert hätten, wenn die mj Caroline dann vielleicht eine Kurzschlusshandlung (Davonlaufen, Selbstmordversuch etc) gesetzt hätte. Der Rekurs sei daher nicht berechtigt.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs, insbesondere wegen der dargestellten divergierenden Rechtsprechung, zulässig sei.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Beschlüsse der Vorinstanzen im Umfang des Feststellungsantrags aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen. Die Mutter macht in ihrem Revisionsrekurs - zusammengefasst - geltend, dass es sich bei Maßnahmen des JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB um keine hoheitlichen Verwaltungsakte handle, die durch Maßnahmenbeschwerde gemäß Art 129a B-VG (§ 76c AVG) bekämpft werden könnten. Habe der JWT, wovon in tatsächlicher Hinsicht auszugehen sei, die mj Caroline zivilrechtlich rechtswidrig untergebracht und sei er nicht per Gesetz zu hoheitlichem Handeln ermächtigt gewesen, dann könne das Gericht - rückwirkend für die Zeit ab Antragstellung - entscheiden, ob für die vom JWT gesetzten Maßnahmen die Voraussetzungen vorgelegen haben (2 Ob 270/04a EFSlg 107.901). Eine solche Entscheidung sei zulässig, weil eine vorläufige Maßnahme des JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) eingreife. Der so Beeinträchtigte habe auch nach Aufhebung der einschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, dass der Eingriff nicht zu Recht erfolgt sei. Die vom Rekursgericht zitierten Entscheidungen 6 Ob 82/00b und 1 Ob 60/05p (EFSlg 110.956) seien für die hier zu beurteilende Frage der Zulässigkeit des von der Mutter gestellten Antrags nicht einschlägig.

Revisionsrekursbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

1. Gemäß § 215 Abs 1 Satz 1 ABGB hat der JWT die zur Wahrung des Wohls eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann der JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat diese Entscheidung unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, zu beantragen. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der JWT vorläufig mit der Obsorge betraut.

2. Die Interimskompetenz des JWT (§ 215 Abs 1 Satz 2 ABGB) ermächtigt diesen zu Maßnahmen, die sofort mit ihrer Durchführung wirksam werden (Kathrein in Klang³, § 215 ABGB Rz 16). Wird also der JWT im Rahmen seiner Interimskompetenz tätig, weil er eine Gefährdung des Kindeswohls annimmt, und beantragt er binnen acht Tagen gerichtliche Verfügungen, dann bleiben die Maßnahmen des JWT, sofern sie das Gericht nicht durch eine vorläufige Verfügung abändert oder aufhebt, bis zur Endentscheidung aufrecht. Bis dahin ist eine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Maßnahme des JWT oder eine deckungsgleiche eigene Maßnahme des Gerichts nach § 176 ABGB nicht vorzunehmen (2 Ob 177/10h mwN EF-Z 2011/37 = JBl 2011, 232; 2 Ob 13/04g EFSlg 107.897).

3. Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht mit seiner Entscheidung die vom JWT gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzte vorläufige Maßnahme - unbekämpft - aufgehoben (Spruchpunkt 1.). Mit dem hier noch zu beurteilenden Antrag der Mutter (Spruchpunkt 4.) strebt diese die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme des JWT an:

3.1. Die vom Rekursgericht im vorliegenden Zusammenhang zitierte Entscheidung 6 Ob 82/00b (EFSlg 93.230) ist nicht einschlägig, weil diese keinen Prüfungsantrag zum Gegenstand hatte, wie er hier vorliegt. Vielmehr hat der Oberste Gerichtshof dort (nur) ausgesprochen, dass eine rückwirkende gerichtliche Anordnung der „vollen Erziehung“ samt Obsorgeübertragung für den verstrichenen Zeitraum einer vom JWT gesetzten vorläufigen Maßnahme nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB nicht dem Gesetz entspreche. Aus dieser Entscheidung ist daher für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen.

3.2. In der Entscheidung 1 Ob 60/05p (EFSlg 110.956) hat der Oberste Gerichtshof tatsächlich in einem Fall, in dem nach einer vorläufigen Maßnahme des JWT die Obsorgefrage bereits durch einen pflegschaftsgerichtlich genehmigten Scheidungsvergleich geregelt war, die Ansicht vertreten, dass die Zulässigkeit eines Antrags auf Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer vom JWT gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB getroffenen Maßnahme dem Gesetz nicht entnommen werden könne. Diese Entscheidung, die sich nicht mit der gegenteiligen, bereits in 2 Ob 270/04a (EFSlg 107.901) vertretenen Rechtsansicht auseinandersetzt, ist vereinzelt geblieben, und ihr ist auch im gegebenen Zusammenhang nicht zu folgen:

3.3. Bereits in 2 Ob 270/04a (EFSlg 107.901) hat nämlich der Oberste Gerichtshof ausgeführt, dass eine vom JWT im Weg einer Maßnahme nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB durchgeführte Trennung der Pflegebefohlenen von den Eltern einen Eingriff in das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) darstelle. In Fällen, in denen durch eine Maßnahme des JWT dieses Grundrecht berührt werde, habe der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der einschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob die Einschränkung zu Recht erfolgt sei. Ein derartiges Interesse stehe (aber nur) den in ihren Rechten Beeinträchtigten zu (in diesem Sinn allenfalls auch schon 2 Ob 13/04g). Diese Rechtsansicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit einer vom JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzten vorläufigen Maßnahme hat der Oberste Gerichtshof auch in der Folge in den Entscheidungen 2 Ob 177/10h (EF-Z 2011/37 = JBl 2011, 232) und 6 Ob 1/11g (Zak 2011/128) im Grundsatz beibehalten; sie findet auch bei einem Teil der Lehre Zustimmung (idS Kathrein in Klang³, § 215 ABGB Rz 25; aA Weitzenböck in Schwimann³, § 215 ABGB Rz 5; Tschugguel in Kletecka/Schauer, ABGB-ON 1.00 § 215 Rz 4).

3.4. Schließlich ist auch in anderen Rechtsbereichen mit drohenden Grundrechtseingriffen die Möglichkeit einer späteren, feststellenden Klärung der Rechtmäßigkeit der grundrechtseinschränkenden Maßnahme anerkannt; dies gilt etwa für gerichtliche Entscheidungen, die in Verfahren nach dem Unterbringungsgesetz und Heimaufenthaltsgesetz ergehen und mit denen das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit (Art 5 Abs 1 lit e EMRK; Art 2 Abs 2 Z 5, 6 Abs 1 PersFrSchG) berührt wird (RIS-Justiz RS0071267; 4 Ob 576/94; vgl auch 4 Ob 210/09z; zur tendenziellen [gesetzlichen] Ausweitung der Überprüfungskompetenz s auch 7 Ob 10/11p RdM 2011/114 [Kopetzki]).

4. Der zuvor dargestellten herrschenden Rechtsprechung folgend besteht auch im vorliegenden Fall kein Grund, der Mutter, die im Fall einer Maßnahme des JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB als in ihrem Grundrecht nach Art 8 EMRK Beeinträchtigte anzusehen ist (vgl 6 Ob 1/11g), die nachfolgende Prüfung der Rechtmäßigkeit der vorläufigen Maßnahme des JWT zu verweigern. Eine solche Antragstellung schließt das Gesetz nicht aus, sie harmoniert mit der Sachkompetenz des Pflegschaftsgerichts nach § 109 Abs 1 JN und sichert die Möglichkeit wirksamer Beschwerde (Art 13 EMRK).

Zum Zweck der Entscheidung des Prüfungsantrags sind daher in Stattgebung des Revisionsrekurses die Entscheidungen der Vorinstanzen im bekämpften Umfang aufzuheben. Das Erstgericht wird den Prüfungsantrag der Mutter inhaltlich zu beurteilen haben. Ob dafür noch weitere Erhebungen erforderlich sind, wird ebenfalls das Erstgericht als Tatsacheninstanz zu entscheiden haben.

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