Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung
Michaela und Franziska entstammen der Ehe der Janja und des Duro D*****, die im Jahr 2003 einvernehmlich geschieden wurde. Die alleinige Obsorge über die beiden Minderjährigen kommt seither der Mutter zu, während einer der beiden mittlerweile erwachsenen Söhne beim Vater lebt.
Seitens des Stadtjugendamts als örtlich zuständigem Jugendwohlfahrtsträger wurde Ende 2004 bei der Mutter eine therapeutisch ambulante Familienbetreuung (TAF) installiert. In den Jahren bis 2009 befand sich die Mutter einige Male im Krankenhaus. Im Frühjahr 2009 (vom 20. 4. bis 6. 5.) musste sie sich abermals einer (längeren) stationären Behandlung unterziehen. Am 17. 4. 2009 hatte sie für die Dauer ihres Krankenhausaufenthalts der Unterbringung ihrer beiden Töchter in einer Krisenstelle des Stadtjugendamts zugestimmt. Am 27. 4. 2009 widerrief sie diese Zustimmung.
Am 29. 4. 2009 beantragte das Stadtjugendamt beim Erstgericht, der Mutter die Obsorge über ihre beiden Töchter zu entziehen und sie dem Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 213 ABGB zu übertragen. Dieser habe am 27. 2. (richtig wohl: 27. 4.) 2009 wegen Gefahr im Verzug gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB die Unterbringung der beiden Minderjährigen in einer Krisenstelle für Jugendliche verfügt. Aufgrund dieser Verfügung komme dem Jugendwohlfahrtsträger vorläufig die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung zu.
Am 7. 5. 2009 stellte der Vater den Antrag, ihm die Obsorge über die beiden Töchter zu übertragen. Es entspreche dem Wunsch der Kinder, nicht in der Krisenstelle untergebracht zu sein, sondern bei ihm und seinem Sohn, dem älteren Bruder der Minderjährigen, zu leben.
Mit Schriftsatz vom 3. 9. 2009 beantragte die Mutter die sofortige Beendigung der Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers und die Abweisung des von diesem gestellten Antrags. Sie stehe nun in regelmäßiger psychiatrischer und psychotherapeutischer ambulanter Behandlung, ihr Zustand sei deutlich stabiler als im April. Die Kinder seien in getrennten Einrichtungen untergebracht, das Besuchsrecht der Mutter sei auf zwei Stunden wöchentlich pro Kind beschränkt. Dies könne nicht zum Wohl der Kinder sein.
Nach Vorliegen eines vom Erstgericht in Auftrag gegebenen Familiengutachtens wiederholte die Mutter (wie schon einmal zuvor) den Antrag auf unverzügliche Aufhebung der Maßnahme. Nach dem Inhalt des Gutachtens sei sie in der Lage, die Obsorge „ordnungsgemäß auszuüben“.
Anlässlich eines mit einer Vertreterin des Stadtjugendamts geführten Telefonats hielt der Erstrichter mit Amtsvermerk vom 16. 10. 2009 fest, dass die beiden Minderjährigen derzeit wieder bei der Mutter wohnen würden, „weil sie in den Einrichtungen nicht mehr haltbar waren“.
In der Tagsatzung vom 2. 12. 2009, in welcher das Familiengutachten erörtert wurde, präzisierten dies die anwesenden Vertreterinnen des Stadtjugendamts dahin, dass die Kinder sehr stark zur Mutter gedrängt hätten und das Jugendamt deswegen letztlich damit einverstanden gewesen sei, die Kinder wieder bei der Mutter zu belassen. Andernfalls hätte man die Kinder „praktisch jeden Tag mit der Polizei von der Mutter abholen müssen, sodass ein weiterer Verbleib der Kinder in den Einrichtungen geradezu kindeswohlgefährdend gewesen wäre“. Aus fachlichen Gründen wäre die Maßnahme aber nicht beendet worden. Das Stadtjugendamt vertrete die Rechtsansicht, dass „die Obsorge“ trotz der faktischen Beendigung der Maßnahme nach wie vor dem Jugendwohlfahrtsträger zukomme. Die Mutter erwiderte, sie sei ihrer Meinung nach mit der Obsorge nun wieder uneingeschränkt betraut.
Das Erstgericht fasste einen Beschluss, mit dem es feststellte, dass die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung für die beiden Minderjährigen „bis zur abschließenden Obsorgeentscheidung“ weiterhin dem Jugendwohlfahrtsträger zukomme (1.), die Anträge der Mutter auf sofortige Beendigung der Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers abwies (2.) und die Entscheidung über die „sonst gestellten Anträge“ vorbehielt (3.).
Es zitierte aus dem Gutachten der Sachverständigen und erörterte rechtlich, eine abschließende Entscheidung über die Anträge des Jugendwohlfahrtsträgers und des Vaters sei im gegenwärtigen Verfahrensstadium noch nicht möglich. Es sei zuerst abzuwarten, ob die Mutter die von der Sachverständigen formulierten Bedingungen (Beibehaltung der Einzelpsychotherapie der Mutter; familiensystemische Therapie von Mutter und Kindern, allenfalls auch unter vereinzelter Einbindung des Vaters; besonders umfassendes Besuchsrecht des Vaters) erfüllt. Bis dahin komme dem Jugendwohlfahrtsträger aufgrund der von ihm getroffenen Maßnahme die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung zu. Daran ändere auch die mittlerweilige Rückkehr der Minderjährigen zu ihrer Mutter nichts. Die Beendigung der Maßnahme komme derzeit nicht in Betracht, weil nur das schwebende Verfahren eine ausreichende Gewähr für die Erfüllung der erwähnten Bedingungen durch die Mutter biete.
Das von der Mutter (auch im Namen der beiden Minderjährigen) angerufene Rekursgericht änderte die erstinstanzliche Entscheidung dahin ab, dass es deren Punkt 1. ersatzlos aufhob. Im Übrigen wies es den Rekurs zurück. Es sprach ferner aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.
Das Rekursgericht führte aus, der Jugendwohlfahrtsträger sei ab dem Zeitpunkt einer von ihm bei Gefahr im Verzug gesetzten Maßnahme gemäß § 215 Abs 1 ABGB bis zur gerichtlichen Entscheidung über den rechtzeitig gestellten Antrag im Umfang der getroffenen Maßnahme mit der Obsorge betraut. Im vorliegenden Fall habe der Jugendwohlfahrtsträger den Umfang der getroffenen Maßnahme mit der Unterbringung der beiden Minderjährigen in einer Krisenstelle für Jugendliche umschrieben. Im Herbst 2009 habe er diese Maßnahme faktisch rückgängig gemacht und beide Kinder über deren Wunsch wieder in die Obhut der Mutter entlassen. Damit sei aber die getroffene Maßnahme nicht mehr aufrecht und der Jugendwohlfahrtsträger sei daher auch nicht mehr mit der Obsorge im Umfang der verfügten Maßnahme betraut. Der von Punkt 1. der angefochtenen Entscheidung umfasste feststellende Ausspruch sei daher ersatzlos aufzuheben. Da die Maßnahme ohnehin nicht mehr aufrecht sei, fehle es der Mutter hinsichtlich der Abweisung des auf ihre sofortige Beendigung gerichteten Antrags an der für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels erforderlichen Beschwer.
Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil sich der Oberste Gerichtshof zu der Frage noch nicht geäußert habe, ob mit der Aufhebung einer Maßnahme nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB durch den Jugendwohlfahrtsträger dessen vorläufige Obsorge im Umfang der verfügten Maßnahme wieder wegfalle.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers mit dem Abänderungsantrag, Punkt 1. der erstinstanzlichen Entscheidung wiederherzustellen.
Die Mutter beantragt in ihrer (auch im Namen der Minderjährigen erhobenen) Revisionrekursbeantwortung erkennbar, den Revisionsrekurs mangels Rechtsmittellegitimation des Jugendwohlfahrtsträgers zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist aber nicht berechtigt.
Der Jugendwohlfahrtsträger steht auf dem Standpunkt, aufgrund der gesetzten Maßnahme nach § 215 Abs 1 ABGB bis zur Entscheidung über den von ihm gestellten Antrag weiterhin vorläufig mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung der beiden Minderjährigen betraut zu sein.
Hiezu wurde erwogen:
1. Gemäß § 215 Abs 1 ABGB hat der Jugendwohlfahrtsträger die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat diese Entscheidung unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, zu beantragen. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der Jugendwohlfahrtsträger vorläufig mit der Obsorge betraut.
In dem durch seinen Antrag gemäß Satz 2 dieser Bestimmung ausgelösten Verfahren hat der Jugendwohlfahrtsträger im Umfang seiner Befugnisse Parteistellung und Rechtsmittellegitimation (2 Ob 596/90 = SZ 63/149; Weitzenböck in Schwimann, ABGB³ I § 215 Rz 3; Wienerroither in Loderbauer, Kinder- und Jugendrecht³, 8. Kap Rz 29). Dies gilt auch, wenn es um die Klärung der Frage geht, ob die ihm gemäß Satz 3 zukommende vorläufige Obsorge noch aufrecht ist.
2. Voraussetzung für eine vorläufige Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers - sowie auch für eine Maßnahme des Gerichts nach § 176 ABGB - ist die offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit einer Änderung des bestehenden Zustands (1 Ob 60/05p; RIS-Justiz RS0085168; Kathrein in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 215 Rz 8). Wird der Jugendwohlfahrtsträger im Rahmen seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 ABGB tätig, weil er eine solche Gefährdung annimmt, und werden die gerichtlichen Verfügungen unverzüglich, jedenfalls aber binnen acht Tagen beantragt, obliegt es dem Gericht, rasche Nachforschungen anzustellen, um beurteilen zu können, ob diese Maßnahmen bis zu einer endgültigen Entscheidung aufrecht bleiben, sofern es diese für gerechtfertigt hält. Andernfalls, also wenn das Gericht keine Gefährdung oder keine Rechtfertigung der Maßnahme annimmt, hat es die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen durch gerichtliche Verfügung abzuändern bzw aufzuheben (vgl 2 Ob 9/98g; 1 Ob 70/04g; 1 Ob 60/05p; Weitzenböck aaO § 215 Rz 5). Ansonsten bleibt die getroffene Maßnahme vorläufig ohne weiteres bis zur Endentscheidung des Gerichts aufrecht. Bis dahin ist der Jugendwohlfahrtsträger im Umfang der getroffenen Maßnahme ex lege vorläufig mit der Obsorge betraut. Die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers oder deckungsgleiche eigene Maßnahmen des Gerichts nach § 176 ABGB kommen nicht in Betracht (2 Ob 13/04g; 2 Ob 270/04a; 1 Ob 60/05p; RIS-Justiz RS0007018).
3. Eine vorläufige Maßnahme iSd § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB kann aber nicht nur durch eine Verfügung des Pflegschaftsgerichts, sondern auch durch den Jugendwohlfahrtsträger selbst außer Kraft gesetzt werden. Dies ergibt sich aus § 31 Abs 3 JWG (hier iVm § 43 Abs 3 Satz 2 sbg JWO). Danach ist die getroffene Maßnahme zu ändern, wenn es das Wohl des Minderjährigen erfordert, oder aufzuheben, wenn sie dem Minderjährigen nicht mehr förderlich ist. So ist die verfügte Anordnung der vollen Erziehung durch Unterbringung in einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung (§ 28 Abs 1 JWG iVm § 40 Abs 1 Z 4 und 5 sbg JWO) etwa dann aufzuheben, wenn der Minderjährige in seine Familie (bzw zum obsorgeberechtigten Elternteil) wieder zurückgeführt werden kann (Ent/Frischengruber, Jugendwohlfahrtsrecht [1992] § 31 JWG Anm 5).
4. Legt der Jugendwohlfahrtsträger nach einer von ihm im Rahmen seiner Interimskompetenz getroffenen vorläufigen Maßnahme der vollen Erziehung vor der gerichtlichen Entscheidung Pflege und Erziehung des Minderjährigen wieder in die Hände des eigentlich Obsorgeberechtigten, gibt er zu erkennen, dass er die getroffene Maßnahme nicht aufrecht hält. Dann besteht aber auch kein Anlass für die weitere Ausübung der vorläufigen Obsorge im Umfang der nicht mehr wirksamen Maßnahme durch ihn. § 215 Abs 1 Satz 2 und 3 ABGB ist daher dahin auszulegen, dass die vorläufige Obsorge des Jugendwohlfahrtsträgers nicht nur vom Treffen der Maßnahme, sondern auch von deren Aufrechterhaltung durch den Jugendwohlfahrtsträger bis zur gerichtlichen Entscheidung abhängig ist.
Daraus folgt: Hebt der Jugendwohlfahrtsträger die von ihm getroffene Maßnahme vor der gerichtlichen Entscheidung selbst wieder auf, so erlischt auch die rechtliche Wirksamkeit der Maßnahme und mit ihr die vorläufige Obsorge des Jugendwohlfahrtsträgers für das von der Maßnahme betroffene minderjährige Kind (in diesem Sinne auch Kathrein aaO § 215 Rz 20; ebenso Beck, Kindschaftsrecht [2009] Rz 258). In einem solchen Fall könnte das Pflegschaftsgericht die Maßnahme nicht mehr abändern oder beseitigen; es bliebe allenfalls noch zu prüfen, ob die Maßnahme rechtmäßig war oder nicht (vgl 2 Ob 13/04g; 2 Ob 270/04a; dazu Beck aaO Rz 259; zust auch Kathrein aaO § 215 Rz 25), was aber nicht Gegenstand des drittinstanzlichen Verfahrens ist. Seine Verpflichtung, über den auf § 176 ABGB gestützten Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers zu entscheiden, bleibt davon freilich unberührt.
5. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den protokollierten Äußerungen der Vertreterinnen des Jugendwohlfahrtsträgers, dass dieser die Maßnahme „faktisch beendet“ hat. Die beiden Minderjährigen wurden wieder zur obsorgeberechtigten Mutter zurückgeführt. Aus welchen Erwägungen dies geschah, ist für die hier zu lösende Rechtsfrage bedeutungslos.
Es ist nach den obigen Ausführungen daher davon auszugehen, dass der Jugendwohlfahrtsträger die getroffene Maßnahme der vollen Erziehung nicht bloß abgeändert, sondern sie zur Gänze aufgehoben hat. Seine - vom erkennenden Senat nicht geteilte - Auslegung des § 215 Abs 1 ABGB ändert an dieser Beurteilung ebenso wenig, wie die von ihm - als „Obsorgeträger“ - in der Zwischenzeit mit dem Vater der Minderjährigen getroffene Vereinbarung, worin er diesem die Pflege und Erziehung der jüngeren der beiden Schwestern übertragen hat (AS 347 f).
6. Das Rekursgericht hat aus den dargelegten Erwägungen den Beschluss des Erstgerichts zutreffend ersatzlos aufgehoben, weshalb dem Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers ein Erfolg versagt bleiben muss.
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