OGH 9Ob64/08i

OGH9Ob64/08i4.8.2009

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil und Dr. Hopf sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Andrea R*****, Arbeiterin, *****, vertreten durch Dr. Ferdinand Rankl, Rechtsanwalt in Micheldorf, gegen die beklagte Partei Dr. Manfred S*****, Facharzt, *****, vertreten durch Deixler Mühlschuster Rechtsanwälte OEG in Wels, wegen 57.200 EUR sA und Feststellung (Gesamtstreitwert 67.200 EUR) über die Revision (Revisionsinteresse 62.200 EUR) der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 18. Juni 2008, GZ 11 R 14/08w‑42, womit das Urteil des Landesgerichts Steyr vom 28. März 2008, GZ 4 Cg 29/06g‑34, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2009:0090OB00064.08I.0804.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidungen der Vorinstanzen einschließlich der in Rechtskraft erwachsenen Teilabweisung über 5.000 EUR sA zu lauten haben:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 57.200 EUR samt 4 % Zinsen aus 23.200 EUR ab 22. 11. 2005 bis 20. 9. 2007 und 4 % Zinsen aus dem Betrag von 57.200 EUR ab 21. 9. 2007 zu zahlen, sowie, es werde festgestellt, dass der Beklagte für sämtliche Schäden aus der Fehlbehandlung während der Schwangerschaftsbetreuung im Zeitraum Jänner 2005 bis 2. Juni 2005 haftet, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 14.809,26 EUR (darin 2.280,25 EUR USt und 1.127,76 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz und die mit 5.790,02 EUR (darin 672,12 EUR USt und 1.753 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen."

Die klagende Partei ist weiters schuldig, der beklagten Partei die mit 4.366,29 EUR (darin 328,21 EUR USt und 2.337 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Klägerin wurde während ihrer Schwangerschaft mit ihrem vierten Kind vom Beklagten gynäkologisch betreut. Sie litt an Bluthochdruck. Ihre am 18. 5. 2005 gemessenen Werte (Blutdruck und Eiweißausscheidung im Harn) entsprachen einer normalen Standardabweichung, sodass keine besonderen Therapiemaßnahmen erforderlich waren. Die Klägerin wurde für den 8. 6. 2005 zur nächsten Untersuchung bestellt. Am 2. 6. 2005 suchte die Klägerin den Beklagten wegen anhaltender Kopfschmerzen auf. Zu diesem Zeitpunkt wies sie Schwellungen durch Wasser im Gesicht auf, die sich gegenüber der letzten Untersuchung verstärkt hatten. Sowohl der Blutdruck (195/110) als auch die Eiweißausscheidung („+++") im Harn wiesen wesentlich überhöhte Werte auf. Der Beklagte, der eine drohende „Eklampsie" erkannt hatte, erklärte der Klägerin, dass es notwendig sei, das Landeskrankenhaus K***** aufzusuchen. Er stellte ihr auch eine Krankenhaus‑Einweisung mit der Diagnose „drohende Eklampsie" aus. Die Klägerin erklärte ausdrücklich, nicht ins Krankenhaus zu gehen. Der Beklagte erläuterte der Klägerin daraufhin, dass es - aufgrund der Werte - zu Krämpfen und Blutungen kommen und auch das Kind betroffen sein könne. Angesichts des Wunsches der Klägerin, nicht ins Krankenhaus fahren zu müssen, schlug der Beklagte der Klägerin vor, zumindest relative Bettruhe einzuhalten, und, dass sie, wenn sich der Zustand verschlechtere, umgehend das Krankenhaus aufsuchen solle. Die Klägerin begab sich anschließend nach Hause, ließ sich aber am Nachmittag von ihrem Gatten wieder zur Ordination des Beklagten bringen, da starke Kopfschmerzen und Schmerzen im Oberbauch aufgetreten waren. Sie hatte dabei auch eine für einen Krankenhausaufenthalt gepackte Tasche mit. Die Klägerin schilderte dem Beklagten ihre Schmerzen. Aufgrund der Oberbauchschmerzen empfahl der Beklagte der Klägerin nochmals, das Landeskrankenhaus aufzusuchen und wies daraufhin, dass durch eine Entbindung des Kindes die Gefahr einer drohenden Eklampsie beseitigt werden könne. Weder am Vormittag noch am Nachmittag des 2. 6. 2005 wies der Beklagte zusätzlich noch daraufhin, dass eine nicht sofort durchgeführte Behandlung einer (Prä‑)Eklampsie auch lebensbedrohlich sein könne, indem es zu einem HELLP‑Syndrom und einer Hirnblutung kommen könne. Dabei handelt es sich um zwar seltene, aber bekannte Komplikationen. Hätte der Beklagte die Klägerin überdies auf eine lebensbedrohliche Situation hingewiesen, wäre sie nicht mehr nach Hause gegangen, sondern hätte sich sofort ins Krankenhaus einliefern lassen. Nach Verlassen der Ordination fuhr die Klägerin wieder nach Hause. Als sich die Symptome aber nicht besserten, ließ sie sich in der Nacht zum 3. 6. 2005 ins Landeskrankenhaus bringen. Dort wurde an der in der 35. Schwangerschaftswoche befindlichen Klägerin die Diagnose eines HELLP‑Syndroms gestellt. Am Morgen des nächsten Tages wurde eine Hirnmassenblutung mit Ventrikeleinbruch und begleitender subarachnoider Blutung sowie Mittellinienverschiebung nach links festgestellt. Nach einem Notfallkaiserschnitt wurde die Klägerin in die Intensivstation einer Landesnervenklinik verlegt, wo nach einer Eröffnung des Schädelknochens ein Hämatom entleert wurde. Das Erstgericht erachtete, nicht feststellen zu können, ob sich durch eine frühere Krankenhauseinlieferung eine Hirnblutung hätte verhindern lassen oder ob sich eine Änderung im Krankheitsverlauf samt den damit verbundenen Komplikationen ergeben hätte.

Die Klägerin leidet nach wie vor an einer beinbetonten Halbseitensymptomatik mit einer Gefühlsminderung in körperfernen Abschnitten der linken unteren Extremität und einer gering ausgeprägten Gesichtsfeldeinschränkung. Spätfolgen sind aus neurologisch‑psychiatrischer Sicht nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, aufgrund der Halbseitenschwäche kommt es zur einseitigen Belastung, sodass auch orthopädische Folgeprobleme eintreten können.

Die Klägerin begehrt vom Beklagten Schadenersatz insbesondere wegen Unterlassung ausreichender Aufklärung über die Notwendigkeit eines unverzüglichen Spitalsaufenthalts.

Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Es sei ihm keine Aufklärungspflichtverletzung vorzuwerfen, der Hinweis auf die Notwendigkeit des Krankenhausaufenthalts sei ausreichend gewesen.

Das Erstgericht sprach der Klägerin Schadenersatz (45.000 EUR Schmerzengeld; 7.000 EUR an Kosten einer Haushaltshilfe und 200 EUR an Spesen) zu, wies ein Mehrbegehren von 5.000 EUR sA ab und stellte fest, dass der Beklagte für sämtliche Schäden aus der mangelnden Aufklärung während der Schwangerschaftsbetreuung im Zeitraum Jänner 2005 bis 2. 6. 2005 hafte. Dem Beklagten sei eine Verletzung seiner vertraglichen Aufklärungspflicht anzulasten. Insbesondere hätte er die Klägerin darüber aufklären müssen, dass die Nichtbehandlung der drohenden Eklampsie wegen der Möglichkeit des Auftretens von Hirnblutungen lebensbedrohlich sein könne. Die negative Feststellung über einen möglichen Krankheitsverlauf bei früherer Befolgung der Krankenhauseinweisung gehe zu Lasten des Beklagten. Der Klägerin, die durch die mangelnde Aufklärung nicht in die Lage versetzt worden sei, die möglichen Folgen ihrer - vorübergehenden - Unterlassung des Aufsuchens eines Krankenhauses zu erkennen, sei kein Mitverschulden anzulasten.

Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts. Der Beklagte habe zwar eine richtige Diagnose gestellt und auch folgerichtig die Einweisung der Klägerin in das Krankenhaus verordnet. Da es aus medizinischer Sicht jedoch unbedingt notwendig gewesen sei, dass die Klägerin das Krankenhaus aufsuche, hätte er noch eindringlicher über die nur ihm als Fachmann erkennbaren Gefahren und Risiken aufklären müssen, die das Unterlassen des Krankenhausbesuchs zur Folge haben könnte. Er hätte sich daher nicht damit begnügen dürfen, nur auf mögliche Gefahren hinzuweisen, sondern hätte ausdrücklich warnen müssen, dass die mangelnde stationäre Behandlung der Erkrankung lebensbedrohlich sein könne. Erst dann hätte die Klägerin die Tragweite ihrer Entscheidung überschauen und ihr Selbstbestimmungsrecht in zurechenbarer Eigenverantwortung wahrnehmen können.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass eine erhebliche Rechtsfrage nach § 502 Abs 1 ZPO vorliege, weil die Rechtsprechung (5 Ob 165/05h), der auch das Berufungsgericht gefolgt sei, in der Literatur mehrfach als zu streng kritisiert worden sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Beklagten mit einer Rechtsrüge und dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise mit einem Aufhebungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Beklagten ist zulässig und berechtigt.

Zwischen Arzt und Patient liegt ein zivilrechtliches Vertragsverhältnis vor, der sogenannte ärztliche Behandlungsvertrag. Es handelt sich dabei um ein im Gesetz nicht näher typisiertes Vertragsverhältnis, welches wesentliche Elemente des Beratungsvertrags umfasst (4 Ob 249/02z = RdM 2004/51, 88; vgl RIS‑Justiz RS0021335). Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den Regeln der ärztlichen Kunst, wofür der aktuell anerkannte Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft maßgeblich ist (5 Ob 148/07m = RdM 2008/38; 4 Ob 87/08k = RdM 2008/126; 10 Ob 24/00b = RdM 2001/1, 18; 7 Ob 648/89 = EvBl 1990/74, 339 = JBl 1990, 524 [Holzer]). Wenn der Arzt erkennt, dass bestimmte ärztliche Maßnahmen erforderlich sind, dann hat er den Patienten auf deren Notwendigkeit und die Risiken ihrer Unterlassung hinzuweisen (EvBl 1990/87). Wird eine notwendige Aufklärung nicht oder nicht ausreichend erteilt, liegt auch darin eine fehlerhafte Behandlung (EvBl 1990/87; 5 Ob 148/07m; 10 Ob 24/00b = RdM 2001/1). Aufklärungspflichten bestehen nicht nur dann, wenn die Einwilligung des Patienten zur Durchführung einer ärztlichen Heilbehandlung erreicht werden soll, sondern auch dann, wenn dem Patienten eine sachgerechte Entscheidung zu ermöglichen ist, ob er eine (weitere) ärztliche Behandlung unterlassen kann (sog „Sicherheitsaufklärungspflicht": Prutsch, Die ärztliche Aufklärung, 166; 7 Ob 299/03a; JBl 1982, 491). Wenn der Arzt erkennt, dass bestimmte ärztliche Maßnahmen erforderlich sind, hat er den Patienten auf deren Notwendigkeit hinzuweisen. Wenn nach dem Krankheitsbild eine sofortige ärztliche Versorgung im Krankenhaus gewährleistet sein muss, wird der Arzt darauf eindringlich aufmerksam zu machen haben; auch wenn er dem Patienten nicht medizinische Einzelheiten mitteilen muss, hat er doch eindeutig und unter Hinweis auf mögliche schwerwiegende Folgen den Krankenhausaufenthalt anzuraten. Die Belehrung hat umso ausführlicher und eindringlicher zu sein, je klarer für den Arzt die schädlichen Folgen des Unterbleibens sind und je dringlicher die weitere Behandlung aus der Sicht eines vernünftigen und einsichtigen Patienten erscheinen muss (JBl 1982, 491). Dazu gehört, dass der Patient über die nur dem Fachmann erkennbaren Gefahren aufgeklärt wird, weil er andernfalls die Tragweite seiner Handlung oder Unterlassung nicht überschauen und daher sein Selbstbestimmungsrecht nicht in zurechenbarer Eigenverantwortung wahrnehmen kann (5 Ob 165/05h mit Referat der Vorjudikatur). Wenngleich der Arzt nicht auf alle nur denkbaren Folgen einer Behandlung bzw der Unterlassung hinweisen muss (RIS‑Justiz RS0026529 ua), so hat er bei der Vornahme der Aufklärung jedoch jene Sorgfalt zu vertreten, die von einem ordentlichen und pflichtgetreuen Durchschnittsarzt in der konkreten Situation erwartet wird (RIS‑Justiz RS0038202).

Ausgehend von diesen Kriterien war die vom Beklagten erteilte Aufklärung ("Blutungen, Krämpfe, Folgen für das Kind" bei Nichtbefolgung der Krankenhaus‑Einweisung) aus der Sicht eines durchschnittlich sorgfältigen Patienten ausreichend, um die Notwendigkeit einer raschen Spitalsbehandlung zu erkennen. (Insoweit unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt von dem der Entscheidung 5 Ob 165/05h = RdM 2006/71 zugrunde liegenden, wo der Arzt ohne Benennung konkreter Gefahren nur auf das Aufsuchen der Risikoambulanz hingewiesen hatte). Der konkrete Hinweis auf drohende Schäden, insbesondere auch für das ungeborene Kind, muss als ausreichend eindringlich angesehen werden, um einer werdenden Mutter wie der Klägerin die ernsten Folgen einer Unterlassung des Aufsuchens des Krankenhauses vor Augen zu führen. Das Verlangen, der Beklagte hätte überdies noch ausdrücklich auf eine „lebensbedrohende Situation" hinweisen müssen, hieße daher, den konkret anzuwendenden Sorgfaltsmaßstab zu überspannen. Da die Klägerin trotz anhaltender Schmerzen und des Hinweises auf eine mögliche Schädigung des ungeborenen Kindes bei ihrer zweimaligen starren Weigerung das Krankenhaus aufzusuchen blieb, konnte der Beklagte auch gar nicht davon ausgehen, der Hinweis auf eine lebensbedrohliche Situation könnte zu einem Sinneswandel führen.

Kann somit dem Beklagten nicht der Vorwurf einer fehlerhaften Behandlung durch mangelnde Aufklärung (RdM 2001/1 ua) gemacht werden, erweist sich das auf Schadenersatz gestützte Zahlungs- und Feststellungsbegehren der Klägerin als unbegründet. Es erübrigt sich daher näher darauf einzugehen, dass die Vorinstanzen die Frage der Beweislast vor dem Hintergrund, dass das Erstgericht eine Änderung im Krankheitsverlauf bei sofortiger Spitalsaufnahme nicht feststellen konnte, nicht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung gelöst haben. Die bei Vorliegen ärztlicher Fehler angenommene Beweislastumkehr zu Lasten des behandelnden Arztes (RIS‑Justiz RS0026768; RS0038222) gelangt nämlich erst dann zur Anwendung, wenn vorher der geschädigte Patient - wenn auch im Rahmen eines erleichterten Kausalitätsbeweises - den Nachweis erbracht hat, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadeneintritts durch den ärztlichen Fehler (hier: Verletzung der Aufklärungspflicht) nicht bloß unwesentlich erhöht wurde (SZ 29/16; 1 Ob 138/07m = Zak 2008/2441 Ob 226/07b = Zak 2008/278; 10 Ob 119/07h = Zak 2008/314). Erst dann liegt es am Arzt zu beweisen, dass die ihm zuzurechnende Sorgfaltsverletzung mit größter Wahrscheinlichkeit nicht kausal war (1 Ob 138/07m).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Bei Bestimmung der Kosten des Verfahrens erster Instanz war zu beachten, dass aus dem vom Beklagten erlegten Kostenvorschuss von 1.200 EUR nur ein Teilbetrag von 1.127,76 EUR verbraucht wurde.

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