OGH 2Ob89/08i

OGH2Ob89/08i28.4.2008

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Baumann als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Danzl, Dr. Veith, Dr. Grohmann und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, Dr.-Karl-Renner-Promenade 14-16, 3100 St. Pölten, vertreten durch Dr. Friedrich Nusterer, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagten Parteien 1. Michael K*****, 2. B***** GmbH, *****, beide vertreten durch Dr. Leopold Boyer, Rechtsanwalt in Zistersdorf, wegen 5.663,45 EUR sA und Feststellung (Streitwert 1.500 EUR) über die Revision der zweitbeklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Berufungsgericht vom 11. September 2007, GZ 21 R 346/07s-17, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Gänserndorf vom 12. April 2007, GZ 12 C 145/07z-11, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die zweitbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 556,99 EUR (darin enthalten 92,83 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu Handen des Klagevertreters zu ersetzen.

Text

Begründung

Die zweitbeklagte GmbH betrieb in Wien eine Baustelle. Beim Einsturz einer 2,6 Meter tiefen und 5 Meter langen, nicht gesicherten Künette wurden am 11. 12. 2003 zwei ihrer Arbeiter verletzt. Eine Sicherung durch - auf der Baustelle vorhandene - Pfosten hätte einen zusätzlichen Zeitaufwand von einer Stunde bedeutet. Seit zehn Jahren war es gängige Praxis der Zweitbeklagten, auf ihren Baustellen keinerlei Absicherung vorzunehmen, um Kosten und Zeit zu sparen. Die Geschäftsführer der Zweitbeklagten veranlassten die Arbeiter durch Drohung mit Kündigung, ihre Arbeiten auch ohne entsprechende Sicherungsmaßnahmen durchzuführen. Aus Angst um seinen Arbeitsplatz sah sich auch der Erstbeklagte (Polier) gezwungen, Sicherheitsmaßnahmen weder einzuhalten noch zu kontrollieren. Der Regressanspruch des klagenden Sozialversicherungsträgers (§ 334 ASVG) wurde gegenüber dem Erstbeklagten rechtskräftig abgewiesen. Im Verhältnis zur zweitbeklagten Dienstgeberin bejahten die Vorinstanzen grobe Fahrlässigkeit aufgrund der jahrelangen Missachtung von Schutzvorschriften über die Absicherung von Künetten. Das Berufungsgericht ließ über Antrag der Zweitbeklagten nachträglich die ordentliche Revision zu und begründete dies mit fehlender höchstgerichtlicher Judikatur zu einer derartigen Konstellation (Abweisung des Klagebegehrens gegen den Erstbeklagten; Beendigung des Strafverfahrens gegen den Erstbeklagten durch Diversion und unterlassene Strafverfolgung des Geschäftsführers der Zweitbeklagten; Annahme groben Verschuldens der Zweitbeklagten trotz Kenntnis der Arbeiter von der Anordnung, keine Sicherung durchzuführen).

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Zweitbeklagten ist entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

Ein Mangel des Berufungsverfahrens liegt vor, wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweiswürdigungsrüge nicht oder nur so mangelhaft befasst, dass keine nachvollziehbaren Überlegungen über die Beweiswürdigung angestellt und im Urteil festgehalten sind (RIS-Justiz RS0043371 [T13]). Diese Voraussetzung trifft hier nicht zu.

Das Berufungsgericht hat sich sowohl mit den unmittelbar aufgenommenen, als auch mit den mittelbar aufgenommenen Beweisen (Verlesung der Aussagen im Strafakt mit Zustimmung der Parteien) und den Argumenten der Zweitbeklagten in ihrer Beweisrüge hinreichend auseinandergesetzt. Die Ausführungen der Revision zur Mangelhaftigkeit des Verfahrens stellen einen im Revisionsverfahren unzulässigen Versuch dar, die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts zu bekämpfen.

Nach § 334 Abs 1 Satz 1 ASVG haftet der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter (gesetzlicher oder bevollmächtigter Vertreter des Unternehmens oder Aufseher im Betrieb) bei grob fahrlässiger Verursachung des Arbeitsunfalls für den Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers. Kommen nach dieser Gesetzesstelle mehrere Haftpflichtige in Betracht, so muss das Ergebnis nicht jedenfalls zwingend gleich sein. Auch die Zweitbeklagte geht in ihrer Revision nicht von einer einheitlichen Streitpartei iSd § 14 ZPO aus. Sie bestreitet auch die Zurechnung des groben Verschuldens ihres Organs und damit ihre Passivlegitimation nicht, sondern bezweifelt lediglich generell die Haftungsvoraussetzung des groben Verschuldens.

Weder ein Freispruch noch die Einstellung des Strafverfahrens binden das Zivilgericht (RIS-Justiz RS0040267). Eine unterlassene Strafverfolgung des Geschäftsführers der Zweitbeklagten ist daher für die Beurteilung der Voraussetzungen des Regressanspruchs nach § 334 ASVG nicht relevant. Dasselbe gilt für die im Strafverfahren gegen den Erstbeklagten vorgenommene Diversion, die nicht einmal in einem Zivilprozess (nur) gegen den Erstbeklagten Bindungswirkung hätte (2 Ob 186/04y = RIS-Justiz RS0074219 [T26]).

Die Frage, ob die in § 334 Abs 1 ASVG geforderte grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu lösen (10 ObS 51/94; 8 ObA 301/98t; 8 ObA 73/03y ua). Eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts liegt hier nicht vor:

§ 48 Abs 2 Bauarbeiterschutzverordnung (BauV) verlangte bereits zum Unfallszeitpunkt bei der Aushebung von über 1,25 Meter tiefen Künetten eine Sicherung der Arbeitnehmer vor abrutschendem oder herabfallendem Material durch Abböschung der Wände (Z 1), Verbauung der Wände (Z 2) oder geeignete Verfahren zur Bodenverfestigung (Z 3). Die Tiefe der Künette überstieg im vorliegenden Fall das in der Verordnung genannte Ausmaß um mehr als 100 %. Die Aushebung wurde nicht gesichert, obwohl geeignetes Material zur Verbauung der Wände (Pölzen iSd § 48 Abs 2 Z 2 BauV) auf der Baustelle vorhanden war und die Sicherung nur etwa eine Stunde in Anspruch genommen hätte. Zwar reicht das Zuwiderhandeln gegen Unfallverhütungsvorschriften für sich alleine zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus (RIS-Justiz RS0052197; RS0026555 [T4]). Entscheidende Kriterien für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrads sind aber nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere des Sorgfaltsverstoßes und die erkennbare Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RIS-Justiz RS0085332). Zu überprüfen ist, ob der Arbeitgeber als Adressat der Arbeitnehmerschutzvorschriften nach objektiver Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt hat (10 ObS 71/05x mwN; 10 ObS 111/05d; RIS-Justiz RS0052197 [T7]).

Die Annahme grober Fahrlässigkeit des Bauleiters und Geschäftsführers der Zweitbeklagten ist bei dessen Gleichgültigkeit gegenüber Arbeitnehmerschutzvorschriften in Verbindung mit der Aushebung einer derart tiefen und völlig ungesicherten Künette im konkreten Fall jedenfalls vertretbar (vgl RIS-Justiz RS0085362).

Das Wissen der betroffenen Arbeitnehmer um die unterlassene Vornahme von vorgeschriebenen Sicherungsmaßnahmen steht diesem Ergebnis nicht zwingend entgegen: Ein Mitverschulden der Versicherten beeinflusst den originären Regressanspruch nach § 334 ASVG grundsätzlich nicht (RIS-Justiz RS0085552; Neumayr in Schwimann³ VII § 334 ASVG Rz 38). Nicht jedenfalls ausgeschlossen wäre die Mitberücksichtigung des Verhaltens der Verletzten bei der Beurteilung der groben Fahrlässigkeit (Neumayr aaO und Rz 16 mwN).

Bei der Relevanz des Verhaltens der betroffenen Dienstnehmer hat genauso wie bei der Dienstgeberin der Grundsatz zu gelten, dass der Verschuldensgrad eben nach den konkreten Umständen des Einzelfalls (RIS-Justiz RS0026555) zu beurteilen ist. Hier ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die betroffenen Dienstnehmer das Risiko, in völlig ungesicherten Künetten zu arbeiten, nicht freiwillig auf sich genommen haben, sondern derartige Anweisungen ihrer Dienstgeberin aus Angst um den Arbeitsplatz befolgt haben. Ausschlaggebend für die Unterlassung von Sicherungsmaßnahmen war das wirtschaftliche Motiv der Dienstgeberin, Kosten zu sparen. Werden bei einer solchen Interessenslage Auswirkungen eines Verhaltens der Dienstnehmer auf den Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers verneint, so begründet dies keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO. Die Klägerin hat in der Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des gegnerischen Rechtsmittels hingewiesen.

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