OGH 10ObS56/05s

OGH10ObS56/05s9.8.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Eveline Umgeher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Scherz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Manuela Z*****, vertreten durch Univ. Doz. Dr. Herbert Fink, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. April 2005, GZ 23 Rs 7/05h-70, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 23. September 2004, GZ 44 Cgs 123/01x-67, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 24. 3. 1973 geborene Klägerin hat den Beruf einer Einzelhandelskauffrau erlernt und war als Verkäuferin im Lebensmittelhandel berufstätig.

Der Klägerin sind ganztägig leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen bzw im unregelmäßigen Wechsel dieser Körperhaltungen möglich. Sie kann bei Schutz vor Kälte und Nässe im Freien sowie in Innenräumen arbeiten. Wegen der bei ihr wiederkehrenden Gastritis soll die Möglichkeit zu einem warmen Mittagessen bestehen. Zu vermeiden sind das Heben und Tragen schwerer Lasten, ständiges Treppensteigen, ständige bückende Tätigkeiten sowie Nachtschichtarbeiten.

Aufgrund der insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel nicht auszuschließenden schweren Hebe- und Tragebelastungen ist der Klägerin die Ausübung einer Verkäuferinnentätigkeit im Lebensmitteleinzelhandel nicht mehr möglich. Mit ihrem Leistungskalkül vereinbar ist die Tätigkeit einer Kassierin. Diese Tätigkeit stellt sich als Teiltätigkeit des Verkaufs dar, die mit einer leichten körperlichen Belastung einhergeht; ein Körperhaltungswechsel zwischen Stehen und Gehen ist möglich.

Mit Bescheid vom 29. 3. 2001 lehnte die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten den Antrag der Klägerin vom 5. 7. 2000 auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Unter Berücksichtigung der zuletzt ausgeübten Verkäuferinnentätigkeit sei der Klägerin zumutbar, als Kassierin zu arbeiten. Dabei handle es sich um eine Teiltätigkeit aus dem von ihr erlernten Beruf einer Einzelhandelskauffrau. Österreichweit gebe es mehr als 100 Kassierarbeitsstellen, bei denen keine schweren Lasten zu manipulieren seien und bei denen darüber hinaus die Möglichkeit für die Einnahme eines warmen Mittagessens bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Die von ihr zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit (Einzelhandelskauffrau im Lebensmitteleinzelhandel) sei in die Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrags für Handelsangestellte einzustufen, weshalb sie auch auf die unter die Beschäftigungsgruppe 2 zu subsumierende Tätigkeit einer Kassierin verwiesen werden könne. Darüber hinaus kämen auch einfache Angestelltentätigkeiten im Posteinlauf und Postauslauf sowie Kanzleihilfstätigkeiten in Betracht.

Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil sich das Berufungsgericht bei den zu lösenden Rechtsfragen an einer einheitlichen Judikatur des Obersten Gerichtshofes orientieren habe können. Der Entscheidung komme keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat von der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung nicht Gebrauch gemacht.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, da eine Klärung geboten ist, ob die von der Klägerin erlernte und zuletzt ausgeübte Tätigkeit einer Einzelhandelskauffrau und die in Betracht kommende Verweisungstätigkeit einer Kassierin derselben Berufsgruppe angehören. Die Revision ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Gemäß § 273 Abs 1 ASVG gilt ein Versicherter als berufsunfähig, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen und geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei der Pensionsversicherung der Angestellten um eine Berufs(Gruppen)Versicherung, deren Leistungen bereits einsetzen, wenn der Versicherte infolge seines körperlichen und/oder geistigen Zustandes keinen Beruf seiner Berufsgruppe mehr ausüben kann. Dabei bestimmt der vom Versicherten zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübte Beruf das Verweisungsfeld, das sind alle Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (10 ObS 211/98x = SZ 71/106 = SSV-NF 12/86 ua; RIS-Justiz R0084904). Zur Berufsgruppe zählen nicht nur Berufe aus einer bestimmten Branche, sondern auch solche aus anderen Branchen, wenn sie gleichwertige Kenntnisse voraussetzen (10 ObS 21/98f = SSV-NF 12/15 mwN).

Ein Versicherter darf nicht auf eine Tätigkeit verwiesen werden, durch deren Ausübung er den Berufsschutz nach § 273 ASVG verlieren würde (10 ObS 111/91 = SZ 64/44 = SSV-NF 5/45 mwN; 10 ObS 79/01t = ARD 5277/8/2002 uva; RIS-Justiz RS0083742, RS0084837). Verlangen nämlich die möglichen Verweisungstätigkeiten keine ähnliche Ausbildung und keine gleichwertigen Kenntnisse und Fähigkeiten wie die zuletzt ausgeübte Tätigkeit, sind sie schon nicht derselben Berufsgruppe zuzurechnen. Nur dann, wenn ein Versicherter lediglich mit Angestelltentätigkeiten betraut war, die keine Ansprüche an eine besondere Qualifikation stellten und mit denen auch keine besondere Verantwortung verbunden war, wäre beispielsweise auch eine Verweisung auch auf sehr einfache Angestelltentätigkeiten zulässig (10 ObS 329/89 = SSV-NF 3/156; 10 ObS 342/89 = SSV-NF 3/157; RIS-Justiz RS0084849).

Wie der OGH bereits mehrfach zu § 255 Abs 1 ASVG ausgeführt hat, kommt bei Beurteilung der Frage, ob eine Verweisung auf eine berufsschutzerhaltende Teiltätigkeit vorliegt, für die Abgrenzung von bloßen Hilfsarbeiten und Hilfsverrichtungen insbesondere dem Umstand Bedeutung zu, inwieweit die berufliche Qualifikation des Versicherten im möglichen Verweisungsberuf verwertet werden kann. Entscheidend ist, ob ein Kernbereich der Ausbildung bei Ausübung der Teiltätigkeit verwertet werden muss (10 ObS 414/01g = ARD 5374/22/2003 mwN). In diesem Sinn werden von der Judikatur genaue Feststellungen gefordert, inwieweit in den Verweisungsberufen das berufliche Wissen verwertet werden kann; dabei müssen die berufsschutzerhaltenden Teiltätigkeiten im Rahmen der in Frage kommenden Verweisungstätigkeit über bloß untergeordnete Teiltätigkeiten hinausgehen. Diese berufsschutzerhaltenden Teiltätigkeiten in den Verweisungsberufen sind konkret anzuführen (10 ObS 154/01x = ARD 5324/23/2002).

Diese Grundsätze sind sinngemäß auch auf den Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG zu übertragen. § 255 Abs 1 und § 273 Abs 1 ASVG unterscheiden sich nur dadurch, dass im ersten Fall jede der überwiegend ausgeführten Berufstätigkeiten zu berücksichtigen ist, während es im zweiten Fall im Allgemeinen nur auf die zuletzt ausgeführte Berufstätigkeit ankommt (10 ObS 112/87 = SSV-NF 1/68).

Zwar hat der Oberste Gerichtshof mehrfach ausgeführt, dass die Verweisung einer Einzelhandelsverkäuferin auf einfache Angestelltentätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 2 möglich und zumutbar sei (zB 10 ObS 329/89 = SSV-NF 3/156; 10 ObS 344/91 = SZ 64/174 = SSV-NF 5/136; 10 ObS 158/01k; RIS-Justiz RS0085599). Für die Beurteilung, inwieweit die berufliche Qualifikation eines Versicherten in möglichen Verweisungsberufen (insbesondere als Kassierin) unter den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt verwertet und daher der Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG erhalten werden kann, sind jedoch entsprechende Feststellungen notwendig, an denen es im vorliegenden Fall fehlt. Sind die möglichen Verweisungstätigkeiten von der dafür notwendigen Ausbildung sowie den für die Ausübung erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten her betrachtet nicht mit der zuletzt ausgeübten Tätigkeit vergleichbar, wären sie nicht derselben Berufsgruppe zuzurechnen, sodass eine Verweisung darauf von vornherein nicht zulässig wäre. In diesem Fall würde sich auch eine Prüfung des sozialen Abstiegs erübrigen.

Zur näheren Klärung erweist sich eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als notwendig. Im fortgesetzten Verfahren sind genaue Feststellungen zu treffen, ob und inwieweit die Klägerin in den für sie in Betracht kommenden Verweisungsberufen, insbesondere im Beruf einer Kassierin unter den auf dem Arbeitsmarkt herrschenden Verhältnissen das von ihr erworbene qualifizierte berufliche Wissen verwerten kann. Diese qualifizierten (berufsschutzerhaltenden) Teiltätigkeiten in den Verweisungsberufen sind konkret anzuführen, damit beurteilt werden kann, ob es sich dabei um solche handelt, denen im Rahmen des Verweisungsberufes nicht nur eine untergeordnete Funktion zukommt.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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