Normen
AVG §56;
MSG NÖ 2010 §10 Abs3 idF 2016/024;
MSG NÖ 2010 §10 Abs3;
MSG NÖ 2010 §11 Abs3 idF 2016/024;
MSG NÖ 2010 §9 Abs1 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in dem Umfang wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben, als darin über Geldleistungen für den Zeitraum bis einschließlich 4. April 2016 abgesprochen wird. Im Übrigen wird die Revision als unbegründet abgewiesen.
Das Land Niederösterreich hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1 1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 8. Juni 2016 wurde im Beschwerdeverfahren - soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Interesse - einem Antrag der Revisionswerberin vom 17. September 2015 auf Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes und Wohnbedarfes nach dem NÖ Mindestsicherungsgesetz - NÖ MSG teilweise stattgegeben, wobei der Revisionswerberin ab dem 29. Oktober 2015 bis längstens 30. September 2016 Geldleistungen in nachstehender Höhe zuerkannt wurden: vom 29. Oktober 2015 bis zum 31. Oktober 2015 aliquot EUR 58,28, vom 1. November 2015 bis zum 31. Dezember 2015 monatlich EUR 582,81 sowie vom 1. Jänner 2016 bis zum 30. September 2016 monatlich EUR 590,26. Im Übrigen wurde der Antrag der Revisionswerberin abgewiesen.
2 Das Verwaltungsgericht legte dieser Entscheidung - soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen zugrunde, die Revisionswerberin bewohne eine Mietwohnung, für die monatlich EUR 525,35 zu leisten seien, und erhalte dafür einen monatlichen Wohnzuschuss des Landes Niederösterreich in der Höhe von EUR 250,--.
3 Nach weiteren Feststellungen zu den Einkommensverhältnissen der Revisionswerberin führte das Verwaltungsgericht in rechtlicher Hinsicht - nach Wiedergabe der maßgeblichen Bestimmungen - "zur Anrechnung des Wohnzuschusses" im Wesentlichen aus, zur korrekten Berechnung von Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs "soll laut Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 11.08.2015, Ra 2015/10/0030, zunächst durch die Behörde ein angemessener Wohnbedarf ermittelt werden". Der Mindeststandard und der Wohnzuschuss seien zu addieren. Die Summe sei vom angemessenen Wohnbedarf abzuziehen. Nur wenn die Summe aus dem Mindeststandard und dem Wohnzuschuss den angemessenen Wohnbedarf übersteige, komme eine Anrechnung (des Wohnzuschusses) auf den Mindeststandard in Betracht.
4 Der Gesetzgeber sei allerdings davon ausgegangen, dass diese Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofes zu Ungleichheiten zwischen Beziehern der Bedarfsorientierten Mindestsicherung mit und solchen ohne Wohnzuschuss führen würde (Hinweis auf den Motivenbericht zur Zl. Ltg.-839/A-1/63-2016), und habe mit Beschluss vom 18. Februar 2016, kundgemacht im LGBl. Nr. 24/2016 am 4. April 2016, Teile des NÖ MSG novelliert. Mangels anderer Anordnung seien die Änderungen am 5. April 2016 in Kraft getreten.
5 Durch die Novelle sei unter anderem § 11 Abs. 3 NÖ MSG neu gestaltet worden. Aus dem genannten Motivenbericht gehe deutlich hervor, dass der Gesetzgeber durch die Änderung dieser Bestimmung "klarstellen" habe wollen, "dass der Wohnzuschuss unabhängig vom konkreten Wohnungsaufwand abgezogen wird".
6 Infolge der Verpflichtung des Verwaltungsgerichtes, in der Sache selbst zu entscheiden, sei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses maßgebend. Da durch die neue Rechtslage eindeutig "klargestellt" worden sei, dass der Wohnzuschuss als Leistung in Anschlag zu bringen sei, sei die Berechnung der belangten Behörde, welche Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs nicht zuerkannt habe, rechtmäßig.
7 Die Revision gegen diese Entscheidung ließ das Verwaltungsgericht nicht zu, wobei es dies bloß formelhaft unter Hinweis auf die verba legalia des Art. 133 Abs. 4 B-VG begründete.
8 2. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
9 Die Niederösterreichische Landesregierung ist gemäß § 22 VwGG in das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof eingetreten und hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 1. Die für die gegenständliche Zuerkennung von Geldleistungen relevanten Bestimmungen des NÖ MSG lauteten im Zeitraum bis 4. April 2016 wie folgt:
"§ 2
Leistungsgrundsätze
(1) Bedarfsorientierte Mindestsicherung ist Hilfe suchenden Personen nur so weit zu gewähren, als Bereitschaft zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft besteht und der jeweilige Bedarf nicht durch eigene Mittel oder durch Leistungen Dritter tatsächlich gedeckt wird (Subsidiaritätsprinzip).
(...)
§ 6
Einsatz der eigenen Mittel
(1) Die Bemessung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nach dem 3. Abschnitt hat unter Berücksichtigung des Einkommens und des verwertbaren Vermögens der Hilfe suchenden Person zu erfolgen.
(2) Als Einkommen gelten alle Einkünfte, die der Hilfe suchenden Person tatsächlich zufließen.
(...)
§ 8
Berücksichtigung von Leistungen Dritter
(1) Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind nur soweit zu erbringen, als der jeweilige Bedarf nicht durch Geld- oder Sachleistungen Dritter gedeckt ist.
(...)
§ 9
Allgemeines
(1) Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung umfasst folgende Leistungen:
1. Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes,
2. Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfes,
(...)
§ 10
Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes Leistungen zur Deckung des Wohlbedarfes
(1) Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes umfassen den Aufwand für die regelmäßig gegebenen Bedürfnisse zur Führung eines menschenwürdigen Lebens, insbesondere für Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und Strom sowie andere persönliche Bedürfnisse wie die angemessene soziale und kulturelle Teilhabe.
(...)
(3) Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfes umfassen den für die Gewährleistung einer angemessenen Wohnsituation erforderlichen regelmäßig wiederkehrenden Aufwand für Miete, allgemeine Betriebskosten und wohnbezogene Abgaben.
§ 11
Mindeststandards
(1) Die Landesregierung hat nach Maßgabe des Art. 10 Abs. 2 und 3 der Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung, LGBl. 9204-0, durch Verordnung die Höhe der Mindeststandards zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes insbesondere für folgende hilfsbedürftige Personen zu regeln:
1. für alleinstehende und alleinerziehende Personen,
(...)
(2) (...)
(3) Mindeststandards zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhaltes nach Abs. 1 beinhalten grundsätzlich einen Geldbetrag zur Deckung des Wohnbedarfes im Ausmaß von 25% bzw. bei hilfsbedürftigen Personen, die eine Eigentumswohnung oder ein Eigenheim bewohnen, einen Geldbetrag im Ausmaß von 12,5%. Besteht kein oder ein geringerer Aufwand zur Deckung des Wohnbedarfes oder ist dieser Aufwand anderweitig gedeckt, sind die jeweiligen Mindeststandards um diese Anteile entsprechend zu reduzieren, höchstens jedoch um 25% bzw. 12,5%.
(...)"
11 Durch die Novelle LGBl. Nr. 24/2016, ausgegeben am 4. April 2016, wurde § 11 Abs. 3 zweiter Satz NÖ MSG dahin abgeändert, dass er wie folgt lautet:
"Besteht kein oder ein geringerer Aufwand zur Deckung des Wohnbedarfes oder erhält die hilfebedürftige Person bedarfsdeckende Leistungen (z.B. eine Wohnbeihilfe oder einen Wohnzuschuss), sind die jeweiligen Mindeststandards um diese Anteile entsprechend zu reduzieren, höchstens jedoch um 25% bzw. 12,5%."
Besondere Inkrafttretens- oder Übergangsbestimmungen enthält die Novelle LGBl. Nr. 24/2016 nicht.
12 2. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
13 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
14 3. Als Revisionspunkt macht die vorliegende außerordentliche Revision geltend, die Revisionswerberin erachte sich in ihrem Recht auf Gewährung der Mindestsicherung zur Deckung des Wohnbedarfs bzw. auf Nichtanrechnung des gesamten Wohnzuschusses auf die Mindestsicherung verletzt.
15 Zur Zulässigkeit nach Art. 133 Abs. 4 B-VG bringt die Revisionswerberin im Wesentlichen vor, das angefochtene Erkenntnis weiche nach wie vor (wie schon frühere die Revisionswerberin betreffende Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtes) von der hg. Rechtsprechung ab (Hinweis u.a. auf das schon erwähnte Erkenntnis zur Zl. Ra 2015/10/0030). Das Verwaltungsgericht übersehe insbesondere, dass die von ihm angeführte Novellierung des NÖ MSG durch LGBl. Nr. 24/2016 erst mit 5. April 2016 und nicht etwa rückwirkend in Kraft getreten sei, weshalb bis zum 5. April 2016 die alte Rechtslage im Sinn der zitierten hg. Rechtsprechung angewendet hätte werden müssen.
16 4. Die Revision ist aufgrund dieses Vorbringens zulässig. Sie erweist sich auch als berechtigt.
17 4.1. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Ansprüchen auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung - wie auch die Niederösterreichische Landesregierung in ihrer Revisionsbeantwortung zutreffend ausführt - um zeitraumbezogene Ansprüche handelt, für welche nicht die im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses geltende Rechtslage schlechthin maßgebend ist, sondern eine zeitraumbezogene Beurteilung vorzunehmen ist (vgl. etwa zur Gewährung von Sozialhilfe die hg. Erkenntnisse vom 26. April 2010, Zl. 2007/10/0003, mwN, sowie vom 27. März 2012, Zl. 2010/10/0170; weiters etwa das hg. Erkenntnis vom 14. Juli 2011, Zl. 2009/10/0177, mwN).
18 Zu der bis zum 4. April 2016 geltenden Rechtslage des NÖ MSG hat der Verwaltungsgerichtshof mit dem erwähnten Erkenntnis zur Zl. Ra 2015/10/0030, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, - und diesem folgend mit Erkenntnis vom 28. Juni 2016, Zl. Ra 2016/10/0025, - im Kern ausgesprochen, dass bei der Zuerkennung von Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfes gemäß § 10 Abs. 3 NÖ MSG eine Anrechnung von von dritter Seite für einen Wohnbedarf erbrachten Leistungen, wie etwa im vorliegenden Fall eines Wohnzuschusses, sofern der Aufwand für eine angemessene Wohnsituation den 25%- (bzw. 12,5%-)Anteil des Mindeststandards übersteigt, nur insoweit in Betracht kommt, als diese Leistungen den angemessenen Wohnaufwand abzüglich des 25%- (bzw. 12,5%-)Anteils des Mindeststandards übersteigen.
19 Anhand dieser Rechtslage hätte das Verwaltungsgericht die Frage, ob der Revisionswerberin Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfes zustehen, für den Zeitraum bis einschließlich 4. April 2016 beurteilen müssen.
20 4.2. An dieser bis zum 4. April 2016 geltenden Rechtslage vermag die Novelle des NÖ MSG durch LGBl. Nr. 24/2016, kundgemacht am 4. April 2016, aus folgenden Gründen nichts zu verändern:
21 Eine Rückwirkung der normierten Änderung der Bestimmung des § 11 Abs. 3 NÖ MSG (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 22. Mai 1978, Zl. 2740/77 = VwSlg. 5.260F) wird in der Novelle nicht angeordnet. Dazu kommt, dass die in dem vom Verwaltungsgericht zitierten Motivenbericht zum Ausdruck gebrachte Intention einer "Klarstellung" eine authentische Interpretation der bisherigen Rechtslage nicht bewirken kann, kommt doch eine authentische Interpretation eines Gesetzes nur durch eine Erklärung im kundgemachten Gesetz selbst, dass der Gesetzgeber eine bestimmte Regelung in einem bestimmten Sinn verstanden wissen will, zustande und nicht durch bloße Äußerungen im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 25. Mai 2016, Zl. Ro 2016/10/0011 (Rz 24), mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs).
22 4.3. Für den Zeitraum ab dem 5. April 2016 konnte sich das Verwaltungsgericht mit seiner Auffassung, dass der von der Revisionswerberin bezogene Wohnzuschuss uneingeschränkt anzurechnen sei, zwar auf den geänderten § 11 Abs. 3 NÖ MSG stützen. Der Zeitraum bis zum 4. April 2016 hätte allerdings nach dem Gesagten auf Grundlage des § 11 Abs. 3 NÖ MSG a.F. und der dazu ergangenen hg. Rechtsprechung (nämlich der zitierten Erkenntnisse zu den Zlen. Ra 2015/10/0030 und Ra 2016/10/0025) beurteilt werden müssen.
23 5. Indem das Verwaltungsgericht dies verkannt und auch für den Zeitraum bis zum 4. April 2016 den von der Revisionswerberin bezogenen Wohnzuschuss zur Gänze in Anschlag gebracht und aus diesem Grund der Revisionswerberin keinen Anspruch auf Deckung des Wohnbedarfs nach § 10 Abs. 3 NÖ MSG zuerkannt hat, hat es das angefochtene Erkenntnis insoweit mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet; in diesem Umfang war dieses daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben. Im Übrigen war die Revision gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
24 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 11. August 2017
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