Normen
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z3;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017190207.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 23. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Dieser Antrag wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 21. Oktober 2016 sowohl betreffend den Status des Asylberechtigten (gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005) als auch des subsidiär Schutzberechtigten (gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005) abgewiesen. Unter einem sprach die Behörde aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde und gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung erlassen werde. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellt die Behörde fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise setzte sie gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der er (ua.) die Durchführung einer Verhandlung beantragte.
4 Das Verwaltungsgericht räumte dem Revisionswerber im Rahmen des Beschwerdeverfahrens mehrfach die Gelegenheit ein, sich zu dessen Sachverhaltsannahmen auf schriftlichem Weg zu äußern. Zudem stellte es dem Revisionswerber sachverhaltsbezogene Fragen und merkte an, dass es von bestimmten näher dargestellten Sachverhalten ausgehe, falls der Revisionswerber die an ihn gestellten Fragen nicht oder nicht "mit Bescheinigungsmitteln unterlegt" beantworte. Weiters schloss das Verwaltungsgericht jenen Schreiben, mit denen es Parteiengehör einräumte, ein mit Stand vom 2. März 2017 aktualisiertes Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie Gutachten an, die - bis auf eines - aus der Zeit nach Erlassung des angefochtenen Bescheides stammten.
Der Revisionswerber erstattete dazu eine Stellungnahme, in der er auch auf die an ihn gerichteten Fragen konkret einging.
5 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab, ohne die beantragte Verhandlung durchzuführen.
6 In seiner Begründung stellte das Verwaltungsgericht darauf ab, dass der Revisionswerber keine konkrete gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung in Afghanistan dargetan habe. Die seine Flucht auslösenden Ereignisse hätten sich nämlich auf seinen Aufenthalt in Pakistan bezogen. Aus den Feststellungen zur Situation in seinem Heimatland ergebe sich, dass er dort wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit keiner Gruppenverfolgung unterliege. Die Situation seiner Volksgruppe habe sich nämlich "in Afghanistan seit dem Ende der Talibanherrschaft nachhaltig und wesentlich verbessert". Weiters legte das Verwaltungsgericht dar, weshalb es anhand der von ihm getroffenen Feststellungen zur Lage in Afghanistan davon ausgehe, dass eine Rückführung des Revisionswerbers Art. 3 EMRK nicht verletzen werde und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung mit Art. 8 EMRK vereinbar sei.
7 Die beantragte Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben dürfen, weil betreffend die Frage der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten eine "reine Rechtsfrage (keine GFK-Gründe, Fluchtvorbringen außerhalb Afghanistans)" zu prüfen gewesen sei. Zudem sei "Parteiengehör iSd § 45 Abs. 3 AVG gewahrt" worden und es seien "dem Asylakt sämtliche entscheidungsrelevanten Grundlagen zu entnehmen (insbesondere die Einvernahmeprotokolle)".
8 Die Revision wurde vom Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zugelassen, was es mit der Verneinung der Voraussetzungen der genannten Bestimmung und dem Hinweis auf die in der Entscheidung zitierte Rechtsprechung begründete.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen gerichtete Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist (schon deshalb) zulässig und berechtigt, weil das Verwaltungsgericht, wie der Revisionswerber zu Recht aufzeigt und im Weiteren dargelegt wird, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, wann von der Durchführung einer Verhandlung Abstand genommen werden kann, abgewichen ist.
11 Nach § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Gemäß dem für die hier vorzunehmende Beurteilung allein maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG, auf den sich auch das Verwaltungsgericht berufen hat, kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich ausführlich in seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, mit dem Verständnis dieser Bestimmung auseinandergesetzt und geht seitdem in seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. dazu statt vieler die hg. Erkenntnisse vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0029, vom 2. September 2015, Ra 2014/19/0127, vom 15. März 2016, Ra 2015/19/0180, vom 18. Mai 2017, Ra 2016/20/0258, und vom 20. Juni 2017, Ra 2017/01/0039) davon aus, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:
Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
13 In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof auch bereits klargestellt, dass die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat schriftlich Stellung zu nehmen, grundsätzlich die Durchführung einer Verhandlung nicht ersetzen kann (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 16. Dezember 2014, Ra 2014/19/0101, vom 18. Juni 2015, Ra 2014/20/0145, und vom 18. Mai 2017, Ra 2016/20/0258, jeweils mwN). Dies gilt auch im Fall weiterer ergänzender Erhebungen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. Juli 2015, Ra 2015/22/0008, und das im Zusammenhang mit der Beurteilung der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich ergangene hg. Erkenntnis vom 5. Mai 2015, Ra 2014/22/0035).
14 Im gegenständlichen Fall hat das Bundesverwaltungsgericht (insbesondere) mehrere neue Beweismittel beigeschafft und sich für seine Feststellungen zur Lage in Afghanistan - nicht nur betreffend die Frage einer Existenzsicherung im Fall der Rückkehr, sondern auch in Bezug auf eine etwaig bestehende Gruppenverfolgung - zentral auf die in diesen Beweismitteln enthaltenen Ausführungen gestützt. Sohin wurden sowohl die Feststellungen einer Aktualisierung zugeführt als auch die Beweiswürdigung gegenüber den Ausführungen der Behörde nicht bloß unwesentlich ergänzt.
15 Nach dem Gesagten lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC - Letzterer ist hier zweifellos gegeben - zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. das hg. Erkenntnis vom 7. August 2017, Ra 2016/08/0171, in dem auch darauf hingewiesen wird, dass es gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts gehört, dem auch im § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, weiters das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2013, 2010/15/0196, und vom 27. Mai 2015, Ra 2014/12/0021, sowie den hg. Beschluss vom 29. Juni 2017, Ra 2017/06/0100, und - betreffend einen Fall außerhalb des Anwendungsbereiches des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC - jenen vom 15. Dezember 2015, Ra 2015/01/0241, jeweils mwN).
Demnach war das angefochtene Erkenntnis aus dem genannten Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das übrige Vorbringen in der Revision einzugehen war.
16 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47ff. VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. September 2017
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)