VwGH Ra 2015/19/0180

VwGHRa 2015/19/018015.3.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Feiel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Pürgy als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schmidt, über die Revision des M R in M E, vertreten durch Dr. Reinhard Armster, Rechtsanwalt in 2344 Maria Enzersdorf, Franz Josef-Straße 42, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juni 2015, W220 2107918-1/2E, betreffend eine Angelegenheit nach dem Asylgesetz 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
EMRK Art3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
EMRK Art3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der im Jahr 2000 geborene minderjährige Revisionswerber, Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 14. August 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er im Wesentlichen damit begründete, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Schiite zu sein. Seine Eltern seien bereits verstorben. Er habe ab einem Alter von drei Jahren mit seinem Onkel im Iran gelebt, während er in Afghanistan keine Verwandten mehr habe.

2 Mit Bescheid vom 4. Mai 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab, erkannte ihm jedoch den Status eines subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

Die Verwaltungsbehörde begründete dies zusammengefasst damit, dass kein Grund für eine Asylgewährung erkennbar sei. Dem Revisionswerber wäre in Afghanistan aber wegen des fehlenden sozialen und familiären Netzwerks eine Lebensgrundlage gänzlich entzogen, sodass eine Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK führe.

3 In seiner gegen die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten gerichteten Beschwerde, in der er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte, verwies der Revisionswerber unter Anführung verschiedener Länderberichte auf die Situation alleingelassener Kinder in Afghanistan, die im Verwaltungsverfahren nicht ermittelt worden sei. Diese seien Zwangsarbeit, Vernachlässigung und physischem sowie sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Solche Kinderrechtsverletzungen seien als asylrelevante Verfolgung zu werten. Die Gefahr einer solchen Verfolgung treffe den Revisionswerber besonders, weil er nicht nur der sozialen Gruppe der verwaisten, auf sich allein gestellten, zurückkehrenden Kinder angehöre, sondern mangels Kenntnis der Gegebenheiten in Afghanistan und wegen seines persischen Akzents auch als Ausländer gelte. Zudem sei er Angehöriger der Minderheit der Hazara.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für nicht zulässig.

5 Es stellte fest, dass der Revisionswerber, ein minderjähriger Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Hazara angehöre und schiitischen Bekenntnisses sei. Er sei verwaist und habe seit seinem dritten Lebensjahr mit seinem Onkel im Iran gelebt, wo er die Schule besucht und in der Landwirtschaft gearbeitet habe. Nicht feststellbar sei - so das Verwaltungsgericht weiter -, dass dem Revisionswerber, der keine gesundheitlichen Probleme habe, in Afghanistan eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung drohe.

Zur Lage in Afghanistan verwies es auf die im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Bescheidausführungen.

6 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht, das sich der behördlichen Beurteilung anschloss, aus, dass der Revisionswerber bei keiner Befragung einen persönlichen Fluchtgrund oder Verfolgungshandlungen in Bezug auf sein "eigentliches Heimatland Afghanistan" vorgebracht habe. Eine Rückkehr nach Afghanistan wäre ihm nach seiner Aussage nur deshalb nicht möglich, weil er dort - abgesehen von einem Cousin - niemanden mehr habe. Aus den verwaltungsbehördlichen Feststellungen zur Situation der Hazara und der schiitischen Glaubensgemeinschaft in Afghanistan lasse sich eine vom Revisionswerber behauptete Verfolgung nicht ableiten und er habe auch keine substantiierte Stellungnahme zu den ihm von der Verwaltungsbehörde im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme zur Kenntnis gebrachten Feststellungen abgegeben.

7 Das Bundesverwaltungsgericht kam davon ausgehend rechtlich zum Ergebnis, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinn von Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nicht gegeben sei, weil der Revisionswerber keine konkret gegen seine Person gerichtete Verfolgungshandlung in Bezug auf seinen Herkunftsstaat geltend gemacht habe. Weder seine Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Hazara noch jene zur religiösen Minderheit der Schiiten reiche für sich genommen aus, um von einer Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder einer bestimmten Glaubensgemeinschaft ausgehen zu müssen.

8 Der Tatbestand der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" sei ein Auffangtatbestand. Die dargestellten Risiken und Gefahren in Afghanistan würden den Revisionswerber jedoch nicht deshalb treffen, weil er ein verwaister Minderjähriger sei, sondern weil diese aufgrund ihrer exponierten Stellung leichtere Opfer seien und den allgemeinen Gefahren in ihrem Herkunftsstaat weniger entgegenzusetzen hätten als etwa junge Erwachsene oder Personen, die auf den Schutz eines familiären Netzwerks zurückgreifen könnten. Es bestehe zwar ein erhöhtes Risiko, dass Minderjährige Opfer von Kriminalität und Zwangsrekrutierung würden, diese Verfolgung treffe sie jedoch nicht, weil sie Minderjährige seien, sondern weil sie den Verfolgern leichter zur Verfügung stünden und diesen weniger entgegenzusetzen hätten. Dieser Umstand sei aber nicht asylrelevant, sondern bei der Frage, ob subsidiärer Schutz zu gewähren sei, zu berücksichtigen. Einer möglichen Gefährdung durch die schlechte Sicherheitslage und das Fehlen einer hinreichenden Lebensgrundlage sei bereits durch die Gewährung von subsidiärem Schutz Rechnung getragen worden.

9 Das Unterbleiben einer Verhandlung wurde damit begründet, dass aus dem Akteninhalt die Grundlage des bekämpften Bescheids unzweifelhaft nachvollziehbar sei und in der Beschwerde keine neuen wesentlichen Aspekte vorgebracht worden seien.

10 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dem Revisionsbeantwortungen nicht erstattet wurden, erwogen:

11 Zur Zulässigkeit wird in der außerordentlichen Revision im Wesentlichen vorgebracht, dass das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs keine Verhandlung durchgeführt habe. Im angefochtenen Erkenntnis fehle es auch an ausreichenden Feststellungen zur Lage alleinstehender, minderjähriger, rückkehrender, schiitischer Hazara und es sei in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit den dazu in der Beschwerde zitierten Länderberichten nicht erfolgt. Es fehle zudem auch noch an einer Rechtsprechung dazu, dass drohende wiederholte Menschenrechts- und/oder Kinderrechtsverletzungen (Zwangsrekrutierung, keine adäquate Unterkunft, keine Ausbildungsmöglichkeit, kein Schutz vor körperlicher oder geistiger Gewalt, keine Förderung der körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung), die nach den Länderinformationen einem vierzehnjährigen, alleinstehenden und im Iran aufgewachsenen Hazara schiitischen Glaubens in Afghanistan drohten, als eine asylrelevante Verfolgung zu qualifizieren seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe zudem nicht die nach der Rechtsprechung erforderliche Gesamtbeurteilung des Vorbringens vorgenommen, sondern einzelne Aspekte isoliert bewertet.

12 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 13 Mit Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018,

auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen des Tatbestands des geklärten Sachverhalts nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig ist:

14 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhalts ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

Diese Anforderungen wurden im vorliegenden Fall nicht beachtet:

15 Der Revisionswerber hat die behördliche Beweiswürdigung nicht nur unsubstantiiert bestritten und er hat in seiner Beschwerde insbesondere durch das Anführen spezifisch seine Situation betreffender Länderberichte einen über das Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens hinausgehenden Sachverhalt behauptet. So hat er Länderberichte zur Lage von (Waisen‑) Kindern in Afghanistan vorlegt, die über die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl getroffenen Länderfeststellungen hinausgingen und dargelegt, dass er persönlich von den darin geschilderten Gefahren bedroht wäre.

16 Schon deshalb hätte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt. Indem es dies unterlassen hat, belastete es sein Erkenntnis mit einer relevanten Mangelhaftigkeit. Eine mündliche Verhandlung kann im Übrigen auch nicht durch die Einräumung der Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme zu Länderberichten ersetzt werden; siehe dazu etwa das Erkenntnis vom 18. Juni 2015, Ra 2014/20/0145.

17 Das Verwaltungsgericht hat bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts und dessen Beurteilung aber auch die Minderjährigkeit des Revisionswerbers nicht ausreichend beachtet, und sich mit dessen Vorbringen nur unzureichend auseinandergesetzt.

18 So brachte der Revisionswerber neben seiner Gefährdung aufgrund des Umstands, dass er ein minderjähriger Waise ohne familiäre Bindung in Afghanistan sei, eine Reihe von weiteren Faktoren vor, die ein Verfolgungsrisiko erhöhen würden. Dazu zählten etwa seine Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara, zur schiitischen Glaubensrichtung sowie sein langjähriger Auslandsaufenthalt und die deshalb bestehende Sprachbarriere. Alle diese Umstände wären in ihrer Gesamtheit im Rahmen einer globalen Bewertung zu beurteilen gewesen, ohne einzelne Aspekte der Fluchtgeschichte ohne Rücksichtnahme auf andere Gesichtspunkte der Beurteilung zu Grunde zu legen (vgl. das Erkenntnis vom 21. März 2006, 2005/01/0247).

19 Bei der Beurteilung der Intensität von Verfolgungshandlungen ist zudem auf die Minderjährigkeit eines Asylwerbers Rücksicht zu nehmen (siehe dazu das Erkenntnis vom 26. Juni 1996, 95/20/0427, sowie die UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz Nr. 8 - Asylanträge von Kindern vom 22. September 2009, Rz 13).

20 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

21 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. März 2016

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