VwGH Ra 2016/22/0029

VwGHRa 2016/22/002917.10.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz sowie Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Gruber, über die Revision des S B M A in Wien, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/2, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 27. Jänner 2016, VGW- 151/071/2211/2015-14, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
MRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 21. Jänner 2015 wies der Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Behörde) den am 17. August 2012 eingebrachten Antrag des Revisionswerbers, eines tunesischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" "ab". Als Rechtsgrundlagen wurden "§ 44b Abs. 1 Z 1 NAG iVm § 41a Abs. 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG" genannt.

2 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (VwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und bestätigte den bekämpften Bescheid mit der Maßgabe, dass der auf § 41a Abs. 9 NAG gegründete Antrag gemäß § 44b Abs. 1 Z "3" (wie aus der Begründung hervorgeht, gemeint: Z 1) NAG idF vor dem BGBl. I Nr. 87/2012 zurückgewiesen werde. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt.

3 Begründend führte das VwG im Wesentlichen aus, in Ansehung der Begründung und der im Spruch des Bescheides zitierten Norm des § 44b Abs. 1 NAG, die explizit die Zurückweisung von Anträgen regle, sei davon auszugehen, dass sich die Behörde beim Abfassen des Spruches bloß im Wortlaut vergriffen habe und der Antrag des Revisionswerbers (formalrechtlich) zurück- und nicht abgewiesen worden sei. Für das VwG sei daher zu prüfen, ob seit Rechtskraft der Ausweisung des Revisionswerbers am 12. Jänner 2009 im Hinblick auf sein Privat- und Familienleben ein maßgeblich geänderter Sachverhalt hervorgekommen sei. Dies verneinte das VwG in Bezug auf das Ablegen einer Deutschprüfung und die Vorlage eines arbeitsrechtlichen Vorvertrages (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 19. September 2012, 2012/22/0138). Der Revisionswerber habe seine nachhaltige Integration in Österreich in sozialer Hinsicht seit Rechtskraft der Abweisung nicht substantiieren können; die Mitgliedschaft in einem Verein und das Spenden von Blut an das Rote Kreuz begründeten per se noch keinen Integrationswillen. Der Revisionswerber halte sich seit mehr als zwölf Jahren unrechtmäßig in Österreich auf, sei illegal unselbständigen Erwerbstätigkeiten nachgegangen und habe keine nennenswerten Integrationsschritte gesetzt. Sein Antrag sei daher zurückzuweisen gewesen.

4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

5 Die Behörde beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu abzuweisen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Der Revisionswerber bringt vor, das VwG sei, indem es seinen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" als unzulässig zurückgewiesen habe, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen (Hinweis insbesondere auf die hg. Erkenntnisse vom 30. Juli 2014, 2013/22/0226, und vom 10. Dezember 2013, 2013/22/0259). Im konkreten Fall seien seit der Ausweisungsentscheidung nunmehr sechs Jahre vergangen, die in einer Gesamtschau mit den neuen Integrationsmerkmalen (Sprachzertifikat, arbeitsrechtlicher Vorvertrag, ehrenamtliche Tätigkeit, Blut spenden und vorgelegte Empfehlungsschreiben) jedenfalls eine andere Beurteilung iSd Art. 8 EMRK ermöglicht hätten.

8 Im Hinblick darauf erweist sich die Revision als zulässig und aus den nachstehenden Gründen auch als berechtigt.

9 Der Verwaltungsgerichtshof brachte bereits wiederholt zum Ausdruck, dass für die Frage des Vorliegens eines maßgeblich geänderten Sachverhaltes im Sinn des § 44b Abs. 1 letzter Halbsatz NAG eine zwischen der rechtskräftigen Ausweisung und der Erlassung der Zurückweisung verstrichene Zeitspanne von mehreren Jahren - in Verbindung mit jeweils unterschiedlichen Aspekten einer vertieften Integration - entsprechend zu berücksichtigen sei (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 20. Juli 2016, Ra 2015/22/0055, betreffend einen Zeitablauf von sechs Jahren seit der Ausweisung und eine Gesamtaufenthaltsdauer von mehr als zehn Jahren, sowie vom 19. April 2016, Ra 2015/22/0072, betreffend einen Zeitablauf von vier Jahren seit der Ausweisung und eine Gesamtaufenthaltsdauer von etwa zehneinhalb Jahren).

10 Im vorliegenden Fall sind seit der Rechtskraft der Ausweisung bis zu der (vom Verwaltungsgericht der Sache nach als Zurückweisung gedeuteten) Entscheidung der Behörde mehr als sechs Jahre vergangen. Der Revisionswerber verwies unter anderem auf die Absolvierung der Sprachprüfung auf dem Niveau A2, einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag, seine ehrenamtliche Tätigkeit bei einer Hilfseinrichtung, seine Mitgliedschaft beim Roten Kreuz, wo er auch Blut spendete, sowie Empfehlungsschreiben. Damit zeigte er auf, dass er Schritte setzte, um seine Integration zu verbessern. Das Vorliegen dieser Umstände wurde vom VwG nicht in Zweifel gezogen. Dass der Verwaltungsgerichtshof - wie vom VwG ins Treffen geführt - in verschiedenen Konstellationen einzelne der hier maßgeblichen Aspekte für sich genommen als nicht hinreichend erachtete, um eine maßgebliche Sachverhaltsänderung zu bewirken, führt nicht dazu, dass bei einer Gesamtbetrachtung der dargestellten Umstände insbesondere in Verbindung mit der im Vergleich zur Ausweisung um sechs Jahre deutlich längeren Aufenthaltsdauer eine abweichende Beurteilung gemäß Art. 8 EMRK jedenfalls ausgeschlossen werden kann.

11 Vor diesem Hintergrund kann im Rahmen einer Gesamtbetrachtung (auch unter Einbeziehung seines Inlandsaufenthaltes seit 2003) eine zu Gunsten des Revisionswerbers vorzunehmende Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK jedenfalls nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten, weshalb sich die Zurückweisung des Antrags nach § 44b Abs. 1 Z 1 NAG als unzulässig erweist.

12 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

13 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 17. Oktober 2016

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