VwGH 2013/22/0226

VwGH2013/22/022630.7.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Dr. Robl, die Hofrätin Mag. Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des O, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 22. Juli 2013, Zl. 164.822/2- III/4/13, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 8. Februar 2013 wies der Landeshauptmann von Wien den Antrag des Beschwerdeführers vom 28. Juli 2011 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die Bundesministerin für Inneres (im Folgenden: Behörde) die dagegen erhobene Berufung des Beschwerdeführers mit der Maßgabe ab, dass der genannte Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 41a Abs. 9 iVm § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurückgewiesen werde.

Begründend führte die Behörde aus, der Beschwerdeführer sei im Dezember 2003 in das Bundesgebiet eingereist und habe einen Asylantrag eingebracht. Das Asylverfahren sei mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 24. Februar 2011 verbunden mit einer Ausweisung rechtskräftig negativ beendet worden, wobei der Asylgerichtshof unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Informationen festgestellt habe, dass eine Ausweisung keinen Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle. Daraufhin habe der Beschwerdeführer am 28. Juli 2011 den gegenständlichen Antrag gestellt.

Die Behörde wies zunächst darauf hin, dass (gemäß § 44b Abs. 1 NAG) nur dann nicht mit Zurückweisung eines solchen Antrags vorzugehen sei, wenn im Hinblick auf die seit der rechtskräftigen Ausweisungsentscheidung eingetretenen maßgeblichen Sachverhaltsänderungen eine neue Beurteilung unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK erforderlich sei. Auch wenn die erstinstanzliche Behörde eine inhaltliche Prüfung vorgenommen habe, sei die Berufungsbehörde berechtigt, § 44b Abs. 1 NAG in ihre Beurteilung einzubeziehen (und somit den Antrag zurückzuweisen). Im vorliegenden Fall habe die erstinstanzliche Behörde den Antrag fälschlicherweise abgewiesen und nicht zurückgewiesen.

Der Beschwerdeführer habe seinen längeren Inlandsaufenthalt, den Hauptschulabschluss mit ausgezeichnetem Erfolg, eine Einstellungszusage und eine "angebliche Lebensgemeinschaft" mit einer österreichischen Staatsbürgerin (M A) geltend gemacht. Zu letzterem Umstand hielt die Behörde allerdings fest, dass die Beziehung nach den Angaben des Beschwerdeführers schon im Zeitpunkt der Ausweisung des Beschwerdeführers bestanden habe. Aus dem vorgelegten Schreiben der M A gehe auch nicht hervor, dass es sich bei ihr tatsächlich um die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers handle. Ein gemeinsamer Haushalt bestehe ebenfalls nicht. Von einem schützenswerten Privatleben könne diesbezüglich nicht ausgegangen werden. Weder eine bestandene Sprachprüfung noch ein Dienstvorvertrag wiesen eine derartige Bedeutung auf, dass ein maßgeblich geänderter Sachverhalt anzunehmen sei. Gleiches gelte für die vom Beschwerdeführer vorgelegten Empfehlungsschreiben. Dem vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten fast zehnjährigen Aufenthalt in Österreich hielt die Behörde entgegen, dass der Aufenthalt auf einer illegalen Einreise beruhe. Auch habe der Beschwerdeführer von einem nicht gesicherten Aufenthaltsstatus ausgehen müssen. Der Zeitablauf von etwas mehr als zwei Jahren seit der rechtskräftigen Ausweisung bewirke noch keine maßgebliche Sachverhaltsänderung.

Den vorliegenden Unterlagen könne nicht entnommen werden, dass sich die integrationsbegründenden Umstände seit der Ausweisung derart intensiviert oder geändert hätten, dass dem Beschwerdeführer der beantragte Aufenthaltstitel jedenfalls zu erteilen gewesen wäre. Es sei nicht erkennbar, dass seit der rechtskräftigen Ausweisung ein maßgeblich geänderter Sachverhalt eingetreten wäre.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass es sich beim vorliegenden, mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdefall nicht um einen Übergangsfall nach dem Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013, handelt und somit gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG idF BGBl. I Nr. 122/2013 die bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Bestimmungen des VwGG weiter anzuwenden sind.

Weiters wird festgehalten, dass sich die Beurteilung des gegenständlichen Falles im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (25. Juli 2013) nach den Bestimmungen des NAG idF BGBl. I Nr. 68/2013 richtet.

Gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG ist ein Antrag nach § 41a Abs. 9 NAG als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 NAG ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.

Eine Sachverhaltsänderung ist dann wesentlich, wenn sie für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die rechtskräftige Entscheidung gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann. Die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheides (bezogen auf § 44b Abs. 1 NAG: eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK) muss also zumindest möglich sein; in dieser Hinsicht hat die Behörde eine Prognose zu treffen. Für diese Prognose ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 29. Mai 2013, Zlen. 2011/22/0133, 0134, mwN).

Der Beschwerdeführer verweist in seinem Vorbringen auf seinen Aufenthalt in Österreich seit Dezember 2003, einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag, seine Beschäftigung als Straßenkehrer in den Jahren 2010 und 2011 sowie ein vorgelegtes Sprachdiplom. Zu der ebenfalls ins Treffen geführten Lebensgemeinschaft mit seiner österreichischen Freundin macht er geltend, dass der Asylgerichtshof bei seiner Entscheidung keine Kenntnis von dieser Beziehung gehabt habe, zumal er keine mündliche Verhandlung abgehalten und sich allein auf die Angaben in der Beschwerde vom April 2010 gestützt habe.

Zwar ist der Behörde einzuräumen, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung - ausgehend von den dort jeweils zugrunde liegenden Sachverhaltskonstellationen - festgehalten hat, eine bestandene Sprachprüfung und ein Dienstvorvertrag bzw. Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben ließen für sich genommen fallbezogen noch nicht den Schluss zu, dass eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in Rechte nach Art. 8 EMRK zumindest möglich wäre (vgl. die von der Behörde zitierten hg. Erkenntnisse vom 22. Juli 2011, Zlen. 2011/22/0138 bis 0141, sowie vom 19. Dezember 2012, Zl. 2012/22/0202).

Die Behörde hat auch grundsätzlich zutreffend darauf hingewiesen, dass den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Normen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses - ein hoher Stellenwert zukommt. Demgegenüber wurde aber in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Ausweisungen nach § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 idF vor dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2011 bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden wiederholt von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit von der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung ausgegangen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden derartige Ausweisungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung hat der Verwaltungsgerichtshof auch bei der Prüfung eines Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK im Zusammenhang mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 41a Abs. 9 NAG herangezogen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2013, Zl. 2012/22/0151, bzw. das - die Zurückweisung eines Antrags nach § 43 Abs. 3 NAG betreffende -

hg. Erkenntnis vom 9. September 2013, Zl. 2013/22/0161).

Im vorliegenden Fall hielt sich der Beschwerdeführer zum (hier maßgeblichen) Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde zwar noch nicht zehn Jahre, aber bereits über neuneinhalb Jahre in Österreich auf. Diese Aufenthaltsdauer ist entsprechend zu berücksichtigen (vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis Zl. 2012/22/0151, dem ebenfalls ein beinahe zehnjähriger Inlandsaufenthalt zugrunde lag). Es ist jedenfalls nicht hinreichend, diesbezüglich bloß auf die illegale Einreise des Beschwerdeführers hinzuweisen. Weiters ist im gegebenen Zusammenhang zu berücksichtigen, dass seit der rechtskräftigen Ausweisung knapp zweieinhalb Jahre vergangen sind.

Hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers zu seiner Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin kann es dahingestellt bleiben, ob fallbezogen das Vorliegen einer Lebensgemeinschaft und damit ein Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers anzunehmen gewesen wäre. Dem angefochtenen Bescheid lässt sich nämlich nicht einmal entnehmen, dass die Behörde dieser Beziehung im Zusammenhang mit dem Privatleben des Beschwerdeführers Bedeutung beigemessen hätte. Es ist auch nicht hinreichend, dem Beschwerdeführer entgegenzuhalten, dass die Beziehung bei einer von ihm selbst angegebenen Dauer von drei Jahren schon zum Zeitpunkt der Ausweisung bestanden habe, zumal der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren auch vorgebracht hat, dass sich die Beziehung zu M A im letzten Jahr stark intensiviert habe und tiefer geworden sei.

Vor diesem Hintergrund kann - in Verbindung mit den weiteren dargestellten, vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten Aspekten seiner vertieften Integration - im Rahmen einer Gesamtbetrachtung eine zu seinen Gunsten vorzunehmende Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten, weshalb die Zurückweisung des Antrags gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG unzulässig war. Entgegen der im angefochtenen Bescheid zum Ausdruck kommenden Annahme der Behörde kommt es für die Zulässigkeit der Zurückweisung eines Antrages gemäß § 44b Abs. 1 NAG nicht darauf an, ob dem Beschwerdeführer auf Grund der seit der rechtskräftigen Ausweisung eingetretenen Umstände ein Aufenthaltstitel jedenfalls zu erteilen gewesen wäre. Maßgeblich ist - wie bereits dargelegt - vielmehr, ob eine abweichende Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte gemäß Art. 8 EMRK zumindest möglich war.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG sowie § 1 VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455, iVm § 3 Z 1 VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 idF BGBl. II Nr. 8/2014. Da der Beschwerdeführer im Rahmen der Verfahrenshilfe von der Entrichtung der Eingabengebühr befreit worden ist, war der diesbezügliche Aufwand nicht zuzusprechen.

Wien, am 30. Juli 2014

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