Normen
AVG §66 Abs4;
AVG §68 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
AVG §66 Abs4;
AVG §68 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
Spruch:
Spruchpunkt I des angefochtenen Erkenntnisses wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 20. Jänner 2015 wies der Landeshauptmann von Wien (Behörde) den Antrag des Revisionswerbers, eines chinesischen Staatsangehörigen, vom 17. August 2012 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit § 41a Abs. 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) als unzulässig zurück.
2 Mit Spruchpunkt I des angefochtenen Erkenntnisses vom 30. März 2015 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab. Mit (jeweils so bezeichnetem) Spruchpunkt II wurde dem Revisionswerber der Ersatz bestimmter Dolmetscherkosten auferlegt und die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für unzulässig erklärt.
3 Das Verwaltungsgericht hielt - nach Darstellung der Beschwerde und der Ausführungen des Revisionswerbers im Zuge der mündlichen Verhandlung vom 23. März 2015 - fest, dass der Revisionswerber am 4. April 2004 in das Bundesgebiet eingereist sei und in der Folge einen Asylantrag gestellt habe, der mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 13. September 2010 - in Verbindung mit einer Ausweisung - rechtskräftig abgewiesen worden sei. Der - unbescholtene - Revisionswerber sei zwischen 11. August 2008 und 31. Oktober 2008 sowie 18. Dezember 2008 und 15. Mai 2009 einer unselbständigen Erwerbstätigkeit als Küchengehilfe bzw. Hilfskoch nachgegangen. Aktuell beziehe er Mittel aus der Grundversorgung. Er habe einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag (betreffend eine Beschäftigung als Hilfskoch) vorgelegt. Der Revisionswerber habe 2011 und 2012 zwei Deutschkurse besucht, sei aber (wie sich in der mündlichen Verhandlung gezeigt habe) nicht in der Lage, auf einfachste Art in deutscher Sprache zu kommunizieren. Ein Nachweis von Sprachkenntnissen auf dem Niveau A2 sei nicht erbracht worden. Der Revisionswerber habe in Österreich keine Verwandten, seinen Angaben zufolge habe er auch keine Freunde und sei nicht sozial engagiert.
4 In seinen rechtlichen Erwägungen stellte das Verwaltungsgericht zunächst die für die Antragszurückweisung nach § 44b Abs. 1 NAG maßgeblichen Bestimmungen sowie die dazu ergangene hg. Rechtsprechung dar. Es sei zu prüfen, ob seit Rechtskraft der letztinstanzlichen Ausweisungsentscheidung bis zur erstinstanzlichen Zurückweisung eine maßgebliche Sachverhaltsänderung eingetreten sei, auf Grund derer eine andere Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK möglich erscheine.
Zum Besuch der Sprachkurse durch den Revisionswerber führte das Verwaltungsgericht aus, der bloße Erwerb von Sprachkenntnissen stelle für sich genommen keine wesentliche Sachverhaltsänderung dar. Zudem seien trotz des langjährigen Aufenthaltes in Österreich de facto keine Sprachkenntnisse vorhanden. Zu den beiden vorgelegten Empfehlungsschreiben hielt das Verwaltungsgericht fest, es liege auf der Hand, dass bei einem elfjährigen Aufenthalt Bekanntschaften und Freundschaften entstünden. Eine weitergehende soziale Integration etwa durch ehrenamtliche Tätigkeiten sei nicht behauptet worden. Der Revisionswerber weise somit keinerlei soziale - und auch keine familiären - Bindungen auf. Die zeitlich befristeten Beschäftigungen als Hilfskoch hätten vor dem hier relevanten Betrachtungszeitraum stattgefunden. Die bloße Vorlage eines arbeitsrechtlichen Vorvertrages könne nicht als relevante Sachverhaltsänderung qualifiziert werden.
Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden komme in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem Verfahrensgegenstand die Rechtmäßigkeit der erfolgten Zurückweisung des Antrags mangels ausreichender Sachverhaltsänderung sei, nicht zur Anwendung.
Im Ergebnis hielt das Verwaltungsgericht fest, das in Österreich entfaltete Privat- und Familienleben des Revisionswerbers weise noch keine solche Intensität auf, dass das persönliche Interesse an einem Verbleib in Österreich stärker zu gewichten wäre als das öffentliche Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften. Die behördliche Ansicht, es sei keine maßgebliche Änderung des Sachverhaltes eingetreten, die "zu einer Unzulässigkeit (...) der Versagung des Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK führen" könne, sei nicht zu beanstanden. Die vorgebrachten Sachverhaltsänderungen wiesen keine solche Bedeutung auf, dass eine andere Beurteilung nach Art. 8 EMRK geboten wäre.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende
außerordentliche Revision.
Revisionsbeantwortung wurde keine erstattet.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und aus den nachstehenden Gründen auch berechtigt.
8 Vorauszuschicken ist, dass sich die vorliegende Revision - ungeachtet dessen, dass die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses zur Gänze beantragt wird - im Hinblick auf die Ausführungen zum Revisionspunkt und zu den Revisionsgründen erkennbar nur auf die Zurückweisung des Antrags auf Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels (Spruchpunkt I), nicht hingegen auf den auferlegten Ersatz der Dolmetscherkosten (Spruchpunkt II) bezieht.
9 Da das zugrunde liegende Verfahren nach § 41a Abs. 9 NAG vor dem 1. Oktober 2013 bei der Behörde anhängig geworden ist, hatte (auch) das Verwaltungsgericht die Bestimmungen des NAG in der Fassung vor dem BGBl. I Nr. 87/2012 anzuwenden (siehe das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2015, Ro 2014/22/0045).
10 Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG in dieser Fassung lauteten auszugsweise:
"Aufenthaltstitel ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus'
§ 41a. ...
(9) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§ 44a) oder auf begründeten Antrag (§ 44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus' zu erteilen, wenn
1. kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt,
2. dies gemäß § 11 Abs. 3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
3. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt.
...
§ 44b. (1) Liegt kein Fall des § 44a Abs. 1 vor, sind Anträge gemäß §§ 41a Abs. 9 oder 43 Abs. 3 als unzulässig zurückzuweisen, wenn
1. gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde, oder
2. rechtskräftig festgestellt wurde, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG jeweils auf Grund des § 61 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 bloß vorübergehend unzulässig ist, oder
3. die Landespolizeidirektion nach einer Befassung gemäß Abs. 2 in ihrer Beurteilung festgestellt hat, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG zulässig oder jeweils auf Grund des § 61 FPG bloß vorübergehend unzulässig ist,
und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.
..."
11 Anzumerken ist, dass das angefochtene Erkenntnis an einzelnen Stellen Formulierungen enthält, die bei einer unter Einbeziehung aller Aspekte erfolgenden Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK Verwendung finden. Dennoch lässt sich die angefochtene Entscheidung nicht als Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" deuten. Dem stehen sowohl der Spruch als auch die Begründung der angefochtenen Entscheidung entgegen, die in ihren überwiegenden Teilen darauf abstellt, ob die zu berücksichtigenden Sachverhaltsänderungen eine Neubeurteilung im Sinn des Art. 8 EMRK ermöglichen würden. Die angefochtene Entscheidung war daher allein dahingehend zu prüfen, ob fallbezogen eine Zurückweisung nach § 44b Abs. 1 Z 1 NAG erfolgen durfte. Ausgehend davon kommt auch dem abschließenden Hinweis des Verwaltungsgerichtes darauf, dass dem Revisionswerber der beantragte Aufenthaltstitel schon mangels Erfüllen des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung nicht zu erteilen gewesen wäre, keine Relevanz zu.
12 Mit einer Antragszurückweisung gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG darf nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nach Erlassung einer Ausweisung nur dann vorgegangen werden, wenn im Hinblick auf das Antragsvorbringen eine Neubeurteilung unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK nicht erforderlich ist. Ein maßgeblich geänderter Sachverhalt liegt nur dann nicht vor, wenn die geltend gemachten Umstände von vornherein keine solche Bedeutung aufweisen, die eine Neubeurteilung aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK geboten hätte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. September 2015, Ra 2015/22/0075, mwN).
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat es bei Entscheidungen über Antragszurückweisungen nach § 44b Abs. 1 Z 1 NAG bereits mehrfach als bedeutsam angesehen, wenn ein Fremder zum Zeitpunkt der (behördlichen) Erlassung der Zurückweisung - anders als zum Zeitpunkt der Erlassung der Ausweisung - mehr als zehn Jahre im Inland aufhältig war (siehe das bereits zitierte Erkenntnis Ra 2015/22/0075, sowie die hg. Erkenntnisse vom 30. Juli 2014, 2013/22/0226, vom 11. Juni 2014, Ro 2014/22/0017, vom 9. September 2013, 2013/22/0161, und vom 29. Mai 2013, 2011/22/0133, 0134). In diesem Zusammenhang hat er wiederholt auf seine Rechtsprechung zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden Bezug genommen. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sei eine Versagung eines Aufenthaltstitels im Hinblick auf Art. 8 EMRK ausnahmsweise noch als verhältnismäßig anzusehen.
Vor allem aber ist im hier vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass der Revisionswerber zum Zeitpunkt der Erlassung der Ausweisung knapp sechseinhalb Jahre in Österreich war. Hingegen sind nach der Ausweisung bis zur Erlassung der Zurückweisung durch die Behörde mehr als vier weitere Jahre vergangen. Zur Bedeutung eines Zeitablaufs von mehreren Jahren bis zu einer auf § 44b Abs. 1 NAG gestützten Zurückweisung wird auf das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Ra 2015/22/0052, Rz 14, verwiesen.
14 Ausgehend davon kann sich der Verwaltungsgerichtshof - ungeachtet dessen, dass die vom Revisionswerber ins Treffen geführten Umstände keine sehr weitgehende Vertiefung seiner Integration nahelegen - der Auffassung des Verwaltungsgerichtes, bereits die Möglichkeit einer abweichenden Beurteilung nach Art. 8 EMRK sei von vornherein ausgeschlossen, nicht anschließen. Ein maßgeblich geänderter Sachverhalt (im Sinn des § 44b Abs. 1 letzter Halbsatz NAG) liegt nämlich nicht erst dann vor, wenn die vorgebrachten Änderungen konkret dazu führen, dass der beantragte Aufenthaltstitel erteilt werden müsste.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
16 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.
Wien, am 19. April 2016
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