European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130484
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen, die im Umfang der Klagsstattgabe des Leistungsbegehrens über 25.498,80 EUR sA und des Feststellungsbegehrens in Rechtskraft erwachsen sind, werden hinsichtlich der Entscheidungen über das Rentenbegehren und die Kosten erster und zweiter Instanz aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung über das Rentenbegehren nach allfälliger Verfahrensergänzung und die Kosten an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Am 19. 6. 2014 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, bei dem er sich einen traumatischen Riss der Rotatorenmanschette der linken Schulter und eine Prellung der linken Ferse zuzog. Im Verfahren AZ 25 Cgs 77/16w des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien begehrte der Kläger von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt für die Folgen dieses Unfalls eine Versehrtenrente. Der Beklagte erstattete im Sozialrechtsverfahren ein unfallchirurgisches Sachverständigengutachten über die unfallkausalen Folgen aus dem Arbeitsunfall des Klägers, wobei er das Ausmaß der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (idF kurz: MdE) des Klägers bis 30. 4. 2016 mit über 20 % und – aufgrund einer unrichtigen Befunderhebung – ab 1. 5. 2016 mit weniger als 20 % bewertete. Das Klagebegehren wurde in der Folge in beiden Instanzen abgewiesen. Hätte der Beklagte im Sozialrechtsverfahren in seinem Gutachten korrekt die MdE des Klägers ab 1. 5. 2016 mit 20 % bewertet, wäre dem Kläger vom Gericht ab 1. 5. 2016 eine Versehrtenrente von 20 % der Vollrente in gesetzlicher Höhe zugesprochen worden. Diese Rente hätte zumindest 566,64 EUR betragen.
[2] Der Kläger nimmt mit der vorliegenden Klage den Beklagten aus dem Titel des Schadenersatzes für die fachlich unrichtige Gutachtenserstellung im Sozialrechtsverfahren in Anspruch. Er begehrt zum einen die Zahlung von 25.498,80 EUR sA an Verdienstentgang in Form der entgangenen Versehrtenrente für den Zeitraum von Mai 2016 bis Juni 2019 und zum anderen die Zahlung einer monatlichen Rente ab 1. 7. 2019 auf Lebensdauer in Höhe von 566,64 EUR (Ausgangsbetrag per 1. 1. 2016), zuzüglich zwei Renten Sonderzahlungen pro Jahr, fällig jeweils am 1. 4. und 1. 9. des Jahres, wobei die Höhe dieser Rente dem Anpassungsfaktor gemäß § 108g ASVG unterliege. Weiters begehrt der Kläger die Feststellung der Haftung des Beklagten für die ihm künftig aus der unrichtigen Gutachtenserstellung durch den Beklagten im Verfahren vor dem Arbeits‑ und Sozialgericht Wien zur AZ 25 Cgs 77/16w entstehenden Schaden. Zum Rentenbegehren brachte der Kläger vor, dass ihm im Sozialrechtsverfahren bei richtiger Befunderhebung und Gutachtenserstattung durch den Beklagten die Versehrtenrente als Dauerrente zu gewähren gewesen wäre. Durch den Entfall der Versehrtenrente entstehe ihm ein lebenslanger Schaden.
[3] Der Beklagte bestritt seine Haftung.
[4] Das Erstgericht gab sämtlichen Klagebegehren statt.
[5] Das Berufungsgericht gab der dagegen gerichteten Berufung des Beklagten teilweise Folge und wies das Begehren des Klägers auf Zahlung einer lebenslangen monatlichen Rente ab 1. 7. 2019 ab. Diesem Begehren fehle die Rechtsgrundlage, weil auch eine rechtskräftig festgestellte Versehrtenrente nach § 183 Abs 1 und 2 iVm § 209 ASVG bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse wieder wegfallen könne. Der Zuspruch einer von vornherein lebenslangen Rente sei nach dem ASVG gar nicht möglich.
[6] Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob und gegebenenfalls inwiefern im Fall einer dem Geschädigten entgehenden Dauerrente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem ASVG diesem sodann ein zivilrechtlicher Schadenersatzanspruch in Form eines Rentenzuspruchs zustehe.
[7] Gegen den abweisenden Teil der Berufungsentscheidung richtet sich dieRevision des Klägers, mit dem auf gänzliche Klagsstattgabe gerichteten Abänderungsantrag. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[8] Der Beklagte beantragte in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision des Klägers nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
[10] 1. Nach ständiger Rechtsprechung haftet ein vom Gericht bestellter Sachverständiger, der im Zivilprozess ein unrichtiges Gutachten abgibt, den Parteien gegenüber persönlich und unmittelbar nach §§ 1295, 1299 ABGB für den dadurch verursachten Schaden (RS0026319). Der Schadenersatzanspruch setzt unter anderem voraus, dass die Unrichtigkeit des Gutachtens ausschlaggebend für die die Prozesspartei beschwerende Entscheidung war (RS0026360). Entscheidend für die Frage der Kausalität ist, welchen Einfluss ein sachlich richtiges Gutachten des Sachverständigen auf die Entscheidung gehabt hätte (RS0026360 [T6]).
[11] 2. Verdienstentgangsrenten unterfallen grundsätzlich der Bestimmung des § 406 ZPO (vgl 1 Ob 211/14g Pkt II.B.; RS0104094). Demnach kann der Schädiger bei Ansprüchen auf Renten (wegen Körperbeschädigung) auch zu Leistungen verurteilt werden, welche erst nach Erlassung des Urteils fällig werden (RS0030704). Bei Verurteilung zu künftigen Rentenzahlungen ist wie bei jeder anderen Verurteilung zu künftigen Alimentationsleistungen nach § 406 2. Satz ZPO auf die Verhältnisse zur Zeit des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz abzustellen (RS0041080). Bei der Bedachtnahme auf künftige Verhältnisse ist aber auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge abzustellen. Dort, wo nach allgemeiner Lebenserwartung schon im Vorhinein mit einer Änderung der Verhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt zu rechnen ist, muss schon bei der Bemessung der Rente auf künftige Verhältnisse Bedacht genommen werden. Die ungewisse Möglichkeit des Eintritts künftiger Umstände, die die Rentenverpflichtung verändern könnten, hat hingegen außer Betracht zu bleiben (2 Ob 142/16w Pkt II. 2. mwN; RS0030897).
[12] 3. Daraus folgt, dass die zum Zeitpunkt der erstmaligen Rentenbemessung unvorhersehbaren Änderungen in einem späteren Rechtsstreit mit Klage geltend gemacht werden können, gilt doch für die Verdienstentgangsrente die clausula rebus sic stantibus (2 Ob 228/04z; vgl RS0107992; Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1325 ABGB Rz 27 und § 1327 ABGB Rz 26). Überall dort, wo wegen der Anwendbarkeit der clausula rebus sic stantibus eine nachträgliche Sachverhaltsänderung eine Neubemessung rechtfertigt, bildet eine derartige Sachverhaltsänderung einen zulässigen Anlass für eine neue diesbezügliche Klage; dies gilt nicht nur für Unterhaltsansprüche, sondern auch für Ansprüche auf Änderung oder Erlöschen von urteilsmäßig zugesprochenen Renten (2 Ob 228/04z; Klicka in Fasching/Konecny 3 III/2 § 411 ZPO Rz 98). Sollte eine Herabsetzung der geschuldeten Rente berechtigt sein, müsste dies der Beklagte mit Oppositionsklage (§ 35 EO), gegebenenfalls auch mit Feststellungsklage geltend machen (RS0000653; RS0030704 [T3, T6]; RS0119626).
[13] Dem Zuspruch der vom Kläger begehrten Rentesteht daher grundsätzlich nicht entgegen, dass die MdE des Klägers in der Zukunft möglicherweise unter das rentenfähige Ausmaß von 20 % sinkt.
[14] 4. Für eine abschließende Beurteilung des Rentenbegehrens des Klägers sind jedoch weitere Feststellungen erforderlich. Gemäß § 209 Abs 1 Satz 2 ASVG ist die Versehrtenrente spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraums als Dauerrente festzustellen. Nach den bindenden Feststellungen hat das unrichtige Gutachten des Beklagten im Sozialrechtsverfahren zwar insofern Einfluss auf die Entscheidung des Erstgerichts gehabt, als dem Kläger bei fachlich korrekter Gutachtenserstellung durch den Beklagten ab 1. 5. 2016 eine Versehrtenrente von 20 % der Vollrente in gesetzlicher Höhe zugesprochen worden wäre. Es stand zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz auch fest, dass die erhobene Einschränkung der aktiven Beweglichkeit beim Kläger, aus der sich die MdE im Wesentlichen ableitet, seit dem 1. 5. 2016 konstant besteht. Keine Feststellungen wurden aber darüber getroffen, ob die MdE des Klägers die Gewährung einer Dauerrente zur Folge gehabt hätte und daher auch in Zukunft – wie schon das Rentenbegehren des Klägers impliziert – nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge mindestens 20 % betragen wird (Zukunftsprognose). Bei positiver Festellung dieser Behauptungen des Klägers wäre das Rentenbegehren – allenfalls unter Entfall des Zusatzes „auf Lebensdauer“ – berechtigt.
[15] In dieser Hinsicht liegen sekundäre Feststellungsmängel vor, weshalb sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig erweist.
[16] In Stattgebung der Revision des Klägers waren die Entscheidungen der Vorinstanzen daher in diesem Punkt aufzuheben.
[17] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)