European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E114543
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben und das Verfahren wird eingestellt.
Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.
Begründung:
Eine Stadtgemeinde begehrt in einem Zivilprozess vom Betroffenen und seiner Ehegattin die Räumung einer von ihnen angeblich titellos genutzten, an ihre Liegenschaft angrenzenden Grundfläche zur Realisierung einer Straßenerweiterung. In diesem Verfahren haben sie in der Verhandlung vom 27. 10. 2015 sowie in insgesamt fünf Eingaben - damals noch unvertreten - zusammengefasst darauf verwiesen, dass sie die strittige Grundfläche nicht nutzen, sondern „bloß pflegen“ würden; sie hätten Bäume und Sträucher gepflanzt und einen Zaun errichtet, um einen Schutz zu schaffen vor Gefahren, die von der angrenzenden Straße ausgingen, und zwar nach einem tödlichen Verkehrsunfall im Jahr 1980. Dabei hätten sie „eine Art Bestandrecht ersessen“, weil sich bislang weder der jeweilige Bürgermeister noch ein Gemeindevertreter dagegen ausgesprochen hätten. Die „an der Tochter vollzogene Sippenhaftung“ wie auch der „Telefonterror“ eines Gemeindevertreters bedürften einer staatspolizeilichen Untersuchung „wegen NS‑Wiederbetätigung“. Die in der Verhandlung geführten Vergleichsgespräche fasste er als „Nötigung und Drohung“ auf und forderte das Erstgericht auf, diesen Vorgang zu protokollieren und das Verhandlungsprotokoll entsprechend zu berichtigen. Die Stadtgemeinde würde im Zuge der Realisierung des Straßenprojekts dem Behördenverfahren vor 50 Jahren zuwider handeln und dadurch vorsätzlich einen Rechtsbruch begehen.
Nach der fünften Eingabe und vorangegangener Zurückweisung des Protokollberichtigungsantrags verständigte das Prozessgericht erster Instanz hinsichtlich beider Beklagter das Erstgericht als Pflegschaftsgericht gemäß § 6a ZPO und setzte das Verfahren bis zu dessen Entscheidung über die Notwendigkeit der Bestellung eines Sachwalters für beide Beklagte aus. Dieser Unterbrechungsbeschluss wurde mit rechtskräftigem Beschluss des Prozessgerichts zweiter Instanz vom 27. 1. 2016 aufgehoben; gleichzeitig wurde dem Prozessgericht erster Instanz die Fortsetzung des Verfahrens aufgetragen.
Nach einem erfolglosen Clearing-Versuch hat das Erstgericht am 21. 1. 2016 den Betroffenen zur Erstanhörung gemäß § 118 AußStrG für den 2. 2. 2016 geladen.
Das Rekursgericht billigte die Einleitung des Verfahrens über die Bestellung eines Sachwalters gegen den Betroffenen durch das Erstgericht und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zu. Den Eingaben des Betroffenen wohne eine gewisse Paranoia inne. Die wiederholten Verweise auf eine Sippenhaftung und NS-Wiederbetätigung hätten mit dem Räumungsprozess nicht das Geringste gemein. Dieses über das bloße Bestreiten des gegnerischen Standpunktes weit hinausgehende Vorbringen sei durchaus auch geeignet, zu allfälligen Schäden für den Betroffenen zu führen. Aus dem (unberechtigten) Widerspruch zum Verhandlungsprotokoll ergebe sich, dass der Betroffene nicht bloß irrational vorgehe, sondern auch das der Manuduktionspflicht entsprechende Vorgehen der Erstrichterin als gegen sich gerichtet erachten würde; diese Verfolgungssymptomatik könne als weiteres Indiz für das Vorliegen einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung gesehen werden. Aus diesen Erwägungen heraus werde die Einschätzung des Prozessgerichts zweiter Instanz nicht geteilt.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen vom Betroffenen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.
1. Der Revisionsrekurs sieht in der rechtskräftig angeordneten Fortsetzung des Zivilprozesses durch das Prozessgericht zweiter Instanz einen Grund für die Einstellung des Sachwalterschaftsverfahrens.
1.1. Soweit hier eine Bindung des Pflegschaftsgerichts an die Entscheidung des Prozessgerichts zweiter Instanz releviert wird, ist Folgendes auszuführen:
Nach ständiger Rechtsprechung ist das Prozessgericht an den Beschluss des Pflegschaftsgerichts über die Einstellung des Sachwalterschaftsverfahrens und die Bestellung eines Sachwalters gebunden (RIS-Justiz RS0035228, RS0035270 [T4, T5]). Keine Bindung besteht bloß in der Frage, ob die Partei vorher prozessunfähig war (RIS-Justiz RS0035270 [T6], RS0035228 [T2]).
Der Revisionsrekurs erkennt selbst, dass die Beurteilung der Sachwalterbestellung als Hauptfrage allein dem Pflegschaftsgericht vorbehalten ist. Damit kommt aber eine Bindung des Pflegschaftsgerichts durch eine Entscheidung in einem Zivilverfahren über eine Verfahrensunterbrechung nach § 6a ZPO nicht in Betracht.
1.2. Auch die rechtskräftig angeordnete Fortsetzung des Zivilprozesses, insbesondere die aus diesem Grund vom Revisionsrekurs als entbehrlich angesehene Verständigung des Prozessgerichts nach § 6a Satz 2 ZPO durch das Pflegschaftsgericht, hindert nicht die Fortsetzung des Sachwalterbestellungsverfahrens:
§ 117 Abs 1 AußStrG verpflichtet das Gericht zum amtswegigen Verfahren, wenn sich begründete Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Sachwalters zur Wahrung der Belange des Betroffenen ergeben (RIS-Justiz RS0013479 [T3]). Gemäß § 122 Abs 1 AußStrG ist das Verfahren über die Bestellung eines Sachwalters in jeder Lage einzustellen, wenn das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Sachwalter nicht zu bestellen ist (vgl auch RIS-Justiz RS0130297).
Hier hat das Pflegschaftsgericht von Amts wegen über Mitteilung des Prozessgerichts das Sachwalterbestellungsverfahren eingeleitet. Dieses amtswegig eingeleitete Verfahren ist nach der eindeutigen Gesetzeslage nur dann einzustellen, wenn das Pflegschaftsgericht die Bestellung eines Sachwalters ‑ aus welchem Grund auch immer (Schauer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 122 Rz 4) ‑ für nicht notwendig ansieht. Die Fortsetzung des Zivilprozesses ohne Abwarten einer Verständigung nach § 6a Satz 2 ZPO über den Ausgang des Sachwalterbestellungsverfahrens ist demnach kein Grund für dessen Einstellung und würde der Amtswegigkeit des Sachwalterbestellungsverfahrens zuwider laufen.
2. Demnach ist die Einleitung und Fortsetzung des Sachwalterbestellungsverfahrens selbständig zu prüfen:
2.1. Das Verfahren zur Prüfung, ob für eine Person ein Sachwalter zu bestellen ist, darf nur eingeleitet werden, wenn begründete Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Sachwalters zur Wahrung der Belange des Betroffenen vorliegen (RIS-Justiz RS0013479 [T2]). Die bloße Behauptung der Notwendigkeit einer Sachwalterbestellung ist für die Einleitung des Verfahrens nicht hinreichend; die Anhaltspunkte müssen konkret und begründet sein; sie haben sich sowohl auf die psychische Krankheit oder geistige Behinderung als auch auf die Notwendigkeit der Sachwalterbestellung zum Schutz der betreffenden Person zu beziehen. Fehlen solche Anhaltspunkte, darf das Verfahren nicht eingeleitet werden (RIS-Justiz RS0008526). Selbst für einen sogenannten „Querulanten“ darf nur dann ein Sachwalter bestellt werden, wenn er sich durch sein „Querulieren“ selbst Schaden zufügt (RIS-Justiz RS0072687). Eine bloß potenzielle künftige Gefährdung reicht ebenso wenig aus wie das Interesse Dritter an einer Sachwalterbestellung (RIS-Justiz RS0072687 [T3, T4]). Ein allenfalls nur unschlüssiges, aber nicht absurdes Prozessvorbringen allein indiziert noch nicht eine psychische Erkrankung, genauso wenig wie beleidigende Äußerungen (6 Ob 195/98i = RIS-Justiz RS0110325).
Das mit der Anregung, ein Sachwalterbestellungsverfahren einzuleiten, befasste Gericht hat in jedem Einzelfall zu prüfen, ob der Hinweis konkrete und begründete Anhaltspunkte enthält. Dabei ist auch zu beachten, von wem der Hinweis kommt (3 Ob 55/13d mwN).
Die in § 268 Abs 1 ABGB verwendeten Begriffe der psychischen Krankheit und der geistigen Behinderung sind Rechtsbegriffe, die nicht unbedingt mit medizinischen Definitionen übereinstimmen müssen. Sie umfassen jede geistige Störung, die die gehörige Besorgung der eigenen Angelegenheiten hindert (RIS-Justiz RS0049003).
Zwar genügt für die Fortsetzung des Verfahrens grundsätzlich schon die bloße Möglichkeit, dass es nach Abschluss des Verfahrens zur Bestellung eines Sachwalters kommen kann (RIS-Justiz RS0008542). Es würde nämlich dem Zweck des eingeleiteten oder fortgesetzten Überprüfungsverfahrens widersprechen, wenn schon zu Beginn konkrete Feststellungen über vorliegende oder nicht vorliegende psychische Erkrankungen oder geistige Behinderungen sowie konkrete Gefährdungen verlangt würden. Allerdings bedarf es wenigstens eines Mindestmaßes an nachvollziehbarem Tatsachensubstrat, aus dem sich das Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte ableiten lässt (3 Ob 55/13d mwN).
2.2. An einem solchen Mindestmaß an Tatsachensubstrat fehlt es hier:
Der Betroffene ist juristischer Laie, aber es ist doch erkennbar, worauf er seine Ansicht im streitigen Verfahren stützt. Auch wenn sein Vorbringen erörterungsbedürftig ist und er Belehrungen gegenüber nicht offen ist, besteht der Eindruck, dass er in der Lage ist, seine Meinung ins gerichtliche Verfahren einzubringen und demnach seine vermeintlichen Interessen wahrzunehmen. Auch wenn sein Verhalten das Verfahren erschweren sollte, so bestehen ‑ jedenfalls zur Zeit ‑ keine konkreten Hinweise auf eine geistige Behinderung oder psychische Krankheit oder eine Gefahr eines Nachteils für ihn selbst. Damit liegen im Sinn der dargelegten Judikatur keine genügenden Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Sachwalterbestellung zum Schutz des Betroffenen vor. Das Sachwalterschaftsverfahren ist daher einzustellen (§ 122 Abs 2 AußStrG).
3. Ein Kostenzuspruch kommt im Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters grundsätzlich nicht in Betracht, da dieses Verfahren nicht für die Durchsetzung oder Abwehr widerstreitender Parteiinteressen konzipiert ist. Damit fehlt es aber an der im § 78 AußStrG vorausgesetzten kontradiktorischen Verfahrenssituation für eine Kostenersatzpflicht in diesem Verfahren (RIS-Justiz RS0120750).
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