European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00169.23P.1211.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Beide Rekurse werden zurückgewiesen.
Die von der klagenden Partei mit dem Rekurs und der Rekursbeantwortung vorgelegten Urkunden werden zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 17,27 EUR bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Der Kläger erwarb am 9. März 2011 einen Neuwagen der Marke A* um 40.929,81 EUR. In diesem Fahrzeug ist der Motor EA189 der Abgasklasse Euro 5 verbaut. Beim Kaufgespräch waren die Abgaswerte kein Thema. Der Kläger hätte auch bei Wissen/Kenntnis der Abschalteinrichtung bzw bei Wissen/Kenntnis der die Abgaswerte (NOx‑Werte) beeinflussenden Software im Prüfstand das Fahrzeug gekauft.
[2] Am 4. Jänner 2017 wurde das kostenlose Software-Update durchgeführt. Nach Aufspielen des Updates gab es kein technisches Problem mit dem Fahrzeug. Es kommt dem Kläger nur so vor, dass der Durchschnittsverbrauch bei längeren Autobahnfahrten erhöht ist und dass die Leistung im unteren Drehzahlbereich abgenommen hat. Insgesamt wurden mit dem Fahrzeug bisher ca 126.000 km zurückgelegt.
[3] Die Rekurse (§ 519 Abs 1 Z 2 ZPO) sind ungeachtet des – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruchs des Berufungsgerichts mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über die Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Eine im Zeitpunkt der Einbringung der Rechtsmittel tatsächlich aufgeworfene erhebliche Rechtsfrage fällt somit weg, wenn die erhebliche Rechtsfrage durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bereits vorher geklärt wurde (RS0112769 [T9, T11, T12]). Die Zurückweisung der Rekurse wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a ZPO iVm § 510 Abs 3 ZPO):
Rechtliche Beurteilung
I. Neuerungsverbot
[4] Die im Rahmen des Rekurses und der Rekursbeantwortung des Klägers erfolgte Urkundenvorlage sowie das dazu erstattete Vorbringen verstoßen gegen das Neuerungsverbot.
II. Rekurs des Klägers
[5] 1. Der Kläger stützt seinen schadenersatzrechtlichen Rückabwicklungsanspruch (unter anderem) auf die Verletzung der Verordnung (EG) Nr 715/2007 vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (VO 715/2007/EG ) als Schutzgesetz.
[6] 1.1. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bejahte in der Entscheidung C‑100/21 , QB gegen Mercedes Benz Group AG, den Schutz der Einzelinteressen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Kraftfahrzeugs gegenüber dem Hersteller des Fahrzeugs.
[7] 1.2. Hersteller ist nach der Legaldefinition des Art 3 Nr 27 der Richtlinie 2007/46/EG vom 5. September 2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (RL 2007/46/EG oder Rahmen‑RL) die Person oder Stelle, die gegenüber der Genehmigungsbehörde für alle Belange des Typ-genehmigungs- oder Autorisierungsverfahrens sowie für die Sicherstellung der Übereinstimmung der Produktion verantwortlich ist; diese Person oder Stelle muss nicht notwendiger Weise an allen Stufen der Herstellung des Fahrzeugs, des Systems, des Bauteils oder der selbständigen technischen Einheit, das bzw die Gegenstand des Genehmigungsverfahrens ist, unmittelbar beteiligt sein.
[8] 1.3. „Übereinstimmungsbescheinigung“ ist nach Art 3 Nr 36 RL 2007/46/EG das in Anhang IX wiedergegebene, vom Hersteller ausgestellte Dokument, mit dem bescheinigt wird, dass ein Fahrzeug aus der Baureihe eines nach dieser Richtlinie genehmigten Typs zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsakten entspricht.
[9] 1.4. Nach Art 18 Abs 1 RL 2007/46/EG hat der Hersteller „in seiner Eigenschaft als Inhaber der EG‑Typgenehmigung“ jedem Fahrzeug, das in Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ hergestellt wurde, eine Übereinstimmungsbescheinigung beizulegen. Die Übereinstimmungsbescheinigung ist nach Art 26 Abs 1 RL 2007/46/EG für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme von Fahrzeugen zwingend vorgeschrieben.
[10] 1.5. Der EuGH leitet den Schutz von Einzelinteressen des individuellen Käufers durch Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG maßgeblich aus den genannten Vorschriften über die Übereinstimmungsbescheinigung ab, weil ein Käufer aus dem Inhalt der Übereinstimmungsbescheinigung vernünftiger Weise erwarten kann, dass die unionsrechtlichen Vorschriften bei diesen Fahrzeugen eingehalten werden (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes Benz Group AG, Rz 78 ff).
[11] 1.6. Da der Hersteller eines Fahrzeugs bei der Aushändigung der Übereinstimmungsbescheinigung an den individuellen Käufer des Fahrzeugs für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme dieses Fahrzeugs die sich aus Art 5 der VO 715/2007/EG ergebenden Anforderungen beachten muss, ermöglicht diese Bescheinigung insbesondere, den Käufer davor zu schützen, dass der Hersteller seine Pflicht, im Einklang mit dieser Bestimmung stehende Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, nicht einhält (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes Benz Group AG, Rz 82).
[12] 1.7. Aus diesen Ausführungen des EuGH hat der Oberste Gerichtshof bereits gefolgert, dass ein individueller Fahrzeugkäufer nur die Person oder Stelle für einen deliktischen Schadenersatzanspruch aus der (bloß schuldhaften) Verletzung des als Schutzgesetz zu qualifizierenden Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG in Anspruch nehmen kann, die im Typgenehmigungsverfahren als Herstellerin des Fahrzeugs auftrat und die Übereinstimmungsbescheinigung ausstellte (3 Ob 40/23p; 6 Ob 161/22b). Es besteht daher kein Anlass, das vom Kläger in diesem Zusammenhang angeregte Vorabentscheidungsersuchen zu stellen.
[13] 1.8. Der vom Kläger selbst vorgelegte Datenauszug (zu dessen Heranziehung vgl RS0121557 [T3]) weist nicht die Beklagte, sondern eine andere Gesellschaft als Herstellerin des Fahrzeugs aus. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach der Kläger seinen Schadenersatzanspruch gegen die Beklagte, die nicht Herstellerin des Fahrzeugs ist, auf die Verletzung von Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG als Schutzgesetz nicht stützen kann, ist somit nicht korrekturbedürftig (vgl 6 Ob 161/22b).
[14] 2. Darüber hinaus stützt der Kläger seinen Schadenersatzanspruch auch auf §§ 874, 1295 Abs 2 ABGB und eine der Beklagten zurechenbare Vorsatztat. Dass sich aus §§ 874, 1295 Abs 2 ABGB eine Haftung der Motorenherstellerin ergeben kann, hat der Oberster Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen (vgl etwa 3 Ob 40/23p; 6 Ob 161/22b). Da zu den vom Kläger weiters geltend gemachten Anspruchsgrundlagen nur unzureichende Feststellungen vorliegen, ist die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Rechtssache sei insoweit noch nicht entscheidungsreif, nicht korrekturbedürftig.
[15] 3. Die Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht (statt das Verfahren in zweiter Instanz selbst zu ergänzen) kann zwar einen Verfahrensmangel begründen, wenn die Voraussetzungen dafür (etwa ein erheblicher Mehraufwand an Kosten oder Verfahrensverzögerungen) nicht vorliegen (RS0042125; RS0108072). Von einer unrichtigen Lösung einer Frage des Verfahrensrechts, die für die Rechtssicherheit von erheblicher Bedeutung ist, kann aber nur dann gesprochen werden, wenn eine Selbstergänzungspflicht nach der ratio des § 496 Abs 3 ZPO geradezu auf der Hand liegt, also eine gravierende Verkennung der Rechtslage vorliegt (RS0042125 [T10] = 10 ObS 125/20k mwN). Eine solche liegt hier nicht vor, weil nicht nur der Sachverhalt mit den Parteien ergänzend zu erörtern sein wird (RS0042125 [T6]), sondern auch die vorzunehmende Verfahrensergänzung einen Großteil des Beweisverfahrens zur zweiten Instanz verlagern würde (RS0042125 [T7]).
[16] 4. Der Rekurs des Klägers ist daher mangels erheblicher Rechtsfrage unzulässig.
II I. Rekurs der Beklagten
[17] 1. Die Beklagte bringt in ihrem Rekurs vor, die dreijährige Verjährungsfrist gemäß § 1489 erster Satz ABGB für die vom Kläger geltend gemachten deliktischen Schadenersatzansprüche habe spätestens im Jänner 2017 (Durchführung des Software‑Updates) begonnen, sodass die am 14. Oktober 2020 eingebrachte Klage verjährt sei. Ganz abgesehen davon, dass der Kläger die Klagsforderung auch auf § 874 ABGB sowie auf eine der Beklagten zurechenbare Vorsatztat im Sinn von § 1489 zweiter Satz ABGB stützt (vgl dazu 6 Ob 239/20w), hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass die dreijährige Verjährungsfrist gemäß § 1489 erster Satz ABGB für den Kläger zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem er davon Kenntnis erlangte, dass trotz des Software-Updates nach wie vor vom Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen sei (vgl 9 Ob 33/23b). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts steht im Einklang mit dieser Rechtsprechung.
[18] 2. Die Beklagte zieht die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass sowohl die „Umschaltlogik“ als auch das derzeit vorhandene „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinn der VO 715/2007/EG anzusehen sind, zu Recht nicht mehr in Zweifel (vgl etwa 10 Ob 2/23a; 3 Ob 40/23p; 6 Ob 158/22m).
[19] 2.1. Sie meint jedoch im Rekurs, das Klagebegehren sei aufgrund der vom Erstgericht getroffenen Feststellung, der Kläger hätte auch bei Wissen/Kenntnis der Abschalteinrichtung bzw bei Wissen/Kenntnis der die Abgaswerte (NOx‑Werte) beeinflussenden Software im Prüfstand das Fahrzeug gekauft, abzuweisen. Diese Feststellung gibt aber keine Auskunft darüber, ob der Kläger das Fahrzeug gekauft hätte, wenn er gewusst hätte, dass es sich bei der vorhandenen Software („Umschaltlogik“) um ein verbotenes Konstruktionselement handelte, das der Typgenehmigungsbehörde verschwiegen wurde, sodass nur deshalb die EG‑Typgenehmigung erteilt wurde. Ebenso wenig lässt die Feststellung erkennen, ob der Kläger die Notwendigkeit des Software‑Updates und die vom EuGH angesprochene Unsicherheit über die Nutzungsmöglichkeit des Fahrzeugs in Kauf genommen und den Neuwagen dennoch erworben hätte (vgl 10 Ob 16/23k). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts steht im Einklang mit dieser Rechtsprechung.
[20] 2.2. Darüber hinaus bringt die Beklagte im Rekurs vor, dass der Kläger keinen Anspruch auf Schadenersatz wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung habe, weil die Implementierung des Thermofensters nicht schuldhaft erfolgt sei. Ganz abgesehen davon, dass der Kläger sein Begehren auch auf § 874 ABGB stützt (vgl dazu etwa 2 Ob 5/23h; 6 Ob 84/23f), kann das von der Beklagten behauptete mangelnde Verschulden auf Basis der getroffenen Feststellungen nicht beurteilt werden (vgl 10 Ob 27/23b). Diese Rechtsansicht des Berufungsgerichts ist daher auch in diesem Punkt nicht korrekturbedürftig.
[21] 3. Mit ihren Rekursausführungen, nicht Herstellerin des Kfz zu sein, wird die Beklagte auf die Ausführungen zum Rechtsmittel des Klägers verwiesen.
[22] 4. Der Rekurs der Beklagten ist somit ebenfalls mangels erheblicher Rechtsfrage unzulässig.
I V. Ergebnis und Kostenentscheidung
[23] 1. Die Rekurse sind daher zusammengefasst zurückzuweisen.
[24] 2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Beide Parteien haben auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels des Gegners hingewiesen. Nach Saldierung ergibt sich ein Zuspruch von 17,27 EUR an den Kläger.
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