European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130512
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der außerordentlichen Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Klägerin und der Beklagte heirateten am 27. 8. 2011 in Rumänien. Im Februar 2013 zogen sie gemeinsam nach Österreich. Am 16. 10. 2013 wurde ihre gemeinsame Tochter geboren. Im November 2016 zog die Klägerin in ein Frauenhaus, nachdem der Beklagte ihr gegenüber im Zuge eines Streits „handgreiflich“ geworden war. Am 20. 12. 2016 brachte sie die Scheidungsklage ein. Beide Streitparteien blieben jedoch der Verhandlung am 16. 2. 2017 fern, weil sie sich versöhnt hatten und wieder gemeinsam wohnten.
[2] Kurz darauf suchte sich die Klägerin eine Arbeit. Der Beklagte beschimpfte sie deswegen als schlechte Mutter und Ehefrau. Aufgrund wiederholter Streitigkeiten und Aufforderungen des Beklagten an die Klägerin, die Wohnung zu verlassen, zog die Klägerin im Oktober 2017 aus der Ehewohnung aus, kehrte jedoch wenige Wochen später wieder zurück. In der Folge versöhnten sich die Streitteile und kauften noch im selben Jahr eine Eigentumswohnung um 160.000 EUR, die sie renovierten und als gemeinsame Ehewohnung nutzten. Nachdem beide im September 2018 ihre Arbeit verloren hatten, suchte sich die Klägerin eine Anstellung als Kellnerin. Aufgrund dieser Arbeit kehrte sie jeweils erst nach Mitternacht in die Wohnung zurück. In der Zeit ihrer Abwesenheit war der Beklagte bei der gemeinsamen Tochter, bereitete ihr das Essen zu und brachte sie ins Bett, wobei er nebenbei Alkohol trank. Bei einem Streit im November 2018 versetzte der Beklagte der Klägerin eine Ohrfeige und packte sie fest am Arm. Die Ohrfeige wurde von der Klägerin aber nicht als ehezerstörend empfunden. In der Folge forderte der Beklagte die Klägerin erneut auf, die Wohnung zu verlassen, weshalb sie im Jänner 2019 für einige Tage zu einer Freundin zog. Am 7. 2. 2019 langte beim Erstgericht ein Verfahrenshilfeantrag der Klägerin ein. Am 19. 2. 2020 stellte sie gegenüber dem Erstgericht klar, damit die Fortsetzung des Scheidungsverfahrens zu beantragen. Für sie war die Ehe spätestens im Februar 2019 unheilbar zerrüttet. Im April 2019 zog sie aus der ehelichen Wohnung aus. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beklagte die Klägerin in der Ehewohnung abgehört hätte.
[3] Die Klägerin stützte ihre am 20. 12. 2016 erhobene Scheidungsklage darauf, dass der Beklagte sie geschlagen habe. Nach Fortsetzung des Verfahrens machte sie als weitere Scheidungsgründe geltend, der Beklagte sei immer wieder verbal gewalttätig und beschimpfe und bedrohe sie; er habe ihr im November 2018 eine Ohrfeige versetzt; er übernehme keine Verantwortung und würde, seit die Klägerin in den Nachtstunden als Kellnerin arbeite, zwar der gemeinsamen Tochter das Essen geben, sonst aber nur fernsehen und sich betrinken. Er mache ihr Vorwürfe über den Kauf der Wohnung und höre sie durch Tonaufnahmegeräte in der Ehewohnung systematisch ab. Er habe versucht, mit einer Freundin der Klägerin zu schlafen und habe die Klägerin im Jänner 2019 für mehrere Tage aus der Wohnung geworfen.
[4] Der Beklagte beantragte die Klageabweisung, hilfsweise stellte er den Antrag, gemäß § 60 Abs 3 EheG das überwiegende Verschulden der Klägerin an der Zerrüttung der Ehe auszusprechen, da sie weder koche noch wasche, ständig Schimpfwörter verwende und Gegenstände zerschlage; sie habe auch zumindest im Jahr 2016 ein außereheliches Verhältnis geführt.
[5] Die Klägerin bestreitet die Vorwürfe des Beklagten.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
[7] Rechtlich ging es davon aus, dass die Ehe spätestens im Februar 2019 auch objektiv zerrüttet gewesen sei. Dem Beklagten könne aber kein Verhalten vorgeworfen werden, das als rechtlich relevante, schwere Eheverfehlung iSd § 49 EheG zu werten sei.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und ließ die Revision mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu.
[9] Die Streitigkeiten und die „Handgreiflichkeiten“ im Jahr 2016 seien wegen der Versöhnung der Parteien nicht zu berücksichtigen. Die Auseinandersetzung und die Ohrfeige im November 2018 habe die Klägerin nicht als ehezerrüttend empfunden. Es bleibe nur die Aufforderung an sie, die Wohnung zu verlassen. Dass sie dieser Aufforderung nachgekommen sei, könne eine Verschuldensscheidung zulasten des Beklagten aber nicht begründen.
[10] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im klagestattgebenden Sinn abzuändern.
[11] Der Beklagte beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht die Rechtsprechung zur Beachtlichkeit verziehener Eheverfehlungen im Fall des Vorliegens von nicht verfristeten und verziehenen Eheverfehlungen außer Acht gelassen hat. Sie ist im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags (RS0041774 [T1]) auch berechtigt.
[13] 1. Vorauszuschicken ist, dass die durch Widerruf oder Kündigung der Prozessvollmacht herbeigeführte Aufhebung der Vollmacht gemäß § 36 Abs 1 ZPO in Rechtssachen, in denen die Vertretung durch Rechtsanwälte geboten ist, dem Prozessgegner und dem Gericht (RS0035744) gegenüber erst dann Wirksamkeit erlangt, wenn die Bestellung eines anderen Rechtsanwalts von der Partei angezeigt wird. Mangels einer derartigen Anzeige ist die bloße Mitteilung über die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses wirkungslos (RS0109541 [T4]), sodass auch alle Zustellungen an den bisherigen Bevollmächtigten zu bewirken sind (RS0035736 [T1]). Die bloßen Mitteilung der Auflösung der Vollmacht des Klagevertreters ohne Anzeige der Bestellung eines anderen Rechtsanwalts mit Schriftsätzen vom 29. 6. 2020 und vom 2. 11. 2020 entfaltet daher im Revisionsverfahren keine Wirkungen (vgl RS0035749).
[14] 2.1. Wenn das Scheidungsbegehren nach § 49 EheG zu beurteilen ist, genügt der Nachweis der Zerrüttung nicht zur Stattgebung des Klagebegehrens, sondern es bedarf eines Nachweises des Verschuldens des beklagten Ehegatten daran (RS0056761 [T1] = 5 Ob 143/10f; RS0056846 [T5]).
[15] 2.2. Eheverfehlungen sind Verstöße gegen die ehelichen Pflichten gemäß §§ 89 ff ABGB (Koch in KBB6 § 49 EheG Rz 6; Nademleinsky/Weitzenböck in Schwimann/Kodek, Prxiskommentar5 § 49 EheG Rz 1). Die gesetzten Verfehlungen müssen objektiv schwer sein und subjektiv als ehezerstörend empfunden werden (RS0056366 [T1]), wobei es genügt, dass sie zur Zerrüttung beigetragen haben (RS0056366 [T3] = 3 Ob 246/19a mwN).
[16] 2.3. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Scheidungsgrund nach § 49 EheG vorliegt, ist nicht jeder einzelne vom Kläger als Eheverfehlung geltend gemachte Tatbestand für sich allein, sondern das Gesamtverhalten des beklagten Ehegatten, soweit darin vom Kläger eine Eheverfehlung erblickt wird, zu beurteilen (RS0056171).
[17] 2.4. Das Recht auf Scheidung wegen Verschuldens erlischt, wenn der Ehegatte nicht binnen sechs Monaten die Klage erhebt (§ 57 EheG). Aus der Tatsache, dass das Verfahren in der Folge längere Zeit geruht hat, kann der Ablauf der Frist des § 57 EheG aber nicht abgeleitet werden (RS0036722).
[18] 2.5. Gemäß § 56 EheG besteht das Recht auf Scheidung nicht, wenn sich aus dem Verhalten des verletzten Ehegatten ergibt, dass er die Verfehlung des anderen verziehen oder sie als ehezerstörend nicht empfunden hat.
[19] Verzeihung ist ein innerer Vorgang, der, ohne an die Form gebunden zu sein, in dem gesamten Verhalten des gekränkten Ehegatten seinen Ausdruck finden muss (RS0057069; RS0106971). Dieser Ausdruck muss – wenn auch nur konkludent – dahin gehen, die Ehe trotz Kenntnis der Verfehlung des anderen Ehegatten fortsetzen zu wollen (RS0057069 [T3, T6]).
[20] Allerdings kann in einer Verzeihung kein Verzicht auf die Geltendmachung eines Scheidungsanspruchs wegen künftigen ehewidrigen Verhaltens gesehen werden (RS0056134). Die Wiederholung gleichartiger Verfehlungen nach der Verzeihung wiegt in der Regel sogar schwerer (RS0056171 [T1]).
[21] 2.6. Nach § 59 Abs 2 EheG können Eheverfehlungen, auf die eine Scheidungsklage nicht mehr gegründet werden kann, auch noch nach Ablauf der Fristen des § 57 EheG zur Unterstützung einer auf andere Eheverfehlungen gegründeten Scheidungsklage geltend gemacht werden.
[22] § 59 Abs 2 EheG ist analog auch auf verziehene Eheverfehlungen anwendbar (Nademleinsky/Weitzenböck in Schwimann/Kodek, Praxiskommentar5 § 59 EheG Rz 6; Stabentheiner in Rummel, ABGB³ § 59 EheG Rz 2).
[23] Sofern auch nur eine nicht verfristete und nicht verziehene Eheverfehlung vorliegt, können daher auch verfristete und verziehene Eheverfehlungen zur Unterstützung einer auf spätere Eheverfehlungen gestützten Scheidungsklage herangezogen werden (RS0056907 [T8, T9]; 5 Ob 71/19f). Die neuen Eheverfehlungen brauchen für sich allein nicht für eine Scheidung auszureichen. Sie müssen aber jedenfalls zusammen mit den verfristeten und verziehenen geltend gemachten Eheverfehlungen schwer sein, damit ein Scheidungsgrund vorliegt (RS0056907).
[24] 3.1. Diese Grundsätze haben die Vorinstanzen außer Acht gelassen, indem sie bei der Prüfung des Vorliegens einer schweren Eheverfehlung des Beklagten ausschließlich auf dessen Aufforderung an die Klägerin vom Jänner 2019, die Ehewohnung zu verlassen, abstellten.
[25] 3.2. § 90 ABGB normiert die Pflicht zur umfassenden ehelichen Lebensgemeinschaft und zum gemeinsamen Wohnen und zur anständigen Begegnung. Aus dieser Pflicht folgt auch, dass beide Ehegatten grundsätzlich zum Gebrauch der gemeinsamen Ehewohnung berechtigt sind.
[26] Die grundlose Aufforderung an den anderen Ehegatten, aus der Ehewohnung auszuziehen, ist daher als Eheverfehlung zu werten.
[27] 4.1. Im vorliegenden Fall hat bereits das Berufungsgericht die im Jänner 2019 getätigte Aufforderung des Beklagten an die Klägerin, die Ehewohnung zu verlassen, implizit als Eheverfehlung gewertet. Es hat ihr jedoch nicht das Gewicht einer zur Scheidung gemäß § 49 EheG berechtigenden schweren Eheverfehlung zugemessen.
[28] 4.2. Diese Eheverfehlung ist weder verfristet noch hat die Klägerin sie verziehen. Vielmehr spricht schon der Umstand, dass die Klägerin kurz danach die Fortsetzung des Scheidungsverfahrens beantragte, dafür, dass sie dieses – auch als Scheidungsgrund geltend gemachte – Verhalten des Beklagten als ehezerstörend empfunden hat (vgl RS0057047), auch wenn sie dem Beklagten in den Jahren davor schwerer wiegende Verfehlungen nachgesehen hat.
[29] Daher sind auch die von der Klägerin dem Beklagten in der Vergangenheit verziehenen Eheverfehlungen in die Beurteilung, ob ein Scheidungsgrund nach § 49 EheG vorliegt, einzubeziehen. Es muss daher auf das Revisionsvorbringen, in der „Versöhnung“ der Ehegatten sei jeweils keine Verzeihung gelegen, nicht eingegangen werden.
[30] 4.3. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Gesamtverhalten (vgl RS0056171) des Beklagten das Gewicht eines Scheidungsgrundes nach § 49 EheG erreicht. Dafür ist bereits die Gewaltanwendung im November 2016 ausreichend. Dass die Vorinstanzen dazu keine präziseren Feststellungen trafen, schadet im vorliegenden Fall nicht, weil es bei der Anwendung körperlicher Gewalt für die Qualifikation als schwere Eheverfehlung gemäß § 49 Abs 2 EheG nicht auf die Schwere der Beeinträchtigung (RS0057020 [T2]) und auch nicht darauf ankommt, ob es sich bei der körperlichen Misshandlung um eine Reaktionshandlung auf vorangegangenes ehewidriges Verhalten des anderen Ehegatten handelte (RS0057020).
[31] Der Beklagte hat daher jedenfalls eine schwere Eheverfehlung iSd § 49 EheG gesetzt.
[32] 5.1. Im vorliegenden Fall bedarf es dennoch der Verfahrensergänzung durch das Erstgericht, weil die Erlassung eines Teilurteils über die Scheidung der Ehe aus dem Verschulden des Beklagten (vgl RS0040735) nicht zweckmäßig erscheint. Bei Erlassung eines Teilurteils müsste nämlich im Fall eines Mitverschuldens der Klägerin der Verschuldensausspruch nachträglich ergänzt werden (vgl RS0040735), was aufgrund der gebotenen Gesamtbetrachtung der wechselseitigen Eheverfehlungen insgesamt nicht der Verfahrensökonomie dient (in diesem Sinn Deixler-Hübner in Fasching/Konecny, Zivilverfahrensgesetze³ § 391 ZPO Rz 8).
[33] 5.2. Die Vorinstanzen werden daher Feststellungen zu treffen haben, aufgrund derer eine Abwägung des Verschuldens der Streitteile an der unheilbaren Zerrüttung der Ehe möglich ist.
[34] 5.3. Bisher wurden zu dem vom Beklagten erhobenen Mitverschuldenseinwand gemäß § 60 Abs 3 EheG gar keine Feststellungen getroffen. Auch die Feststellungen zu den von der Klägerin behaupteten Eheverfehlungen sind ergänzungsbedürftig. So fehlt eine Sachverhaltsgrundlage zum Vorbringen, der Beklagte habe versucht, die Freundin der Klägerin zu verführen; auch die Feststellungen zum Alkoholkonsum des Klägers lassen dessen Ausmaß und allfällige ehezerstörende Wirkung nicht erkennen.
[35] Die Vorinstanzen werden das Verfahren daher im Sinn umfassender Feststellungen zu den von den Streitteilen erhobenen Verschuldensvorwürfen zu ergänzen haben. Dabei sind folgende Grundsätze zu beachten:
[36] 5.4. Beiderseitige Eheverfehlungen müssen in ihrem Zusammenhang gesehen werden. Es kommt daher nicht nur auf den Grad der Verwerflichkeit der einzelnen Ehewidrigkeiten an, sondern auch darauf, wie weit sie einander bedingen und welchen ursächlichen Anteil sie am Scheitern der Ehe haben (RS0057223; RS0056751). Maßgeblich ist vor allem, wer den ersten Anlass zur Zerrüttung der Ehe gegeben hat und wodurch sie in erster Linie zu einer unheilbaren wurde (RS0057361). Es sind nicht einzelne Eheverfehlungen zahlenmäßig gegenüberzustellen (RS0057158), sondern das Gesamtverhalten der Ehegatten, soweit darin eine Eheverfehlung erblickt wird, gegenüberzustellen (RS0057303). Eheverfehlungen nach unheilbarer Zerrüttung spielen mangels Kausalität für das Scheitern der Ehe grundsätzlich keine entscheidende Rolle (RS0057338; RS0056921; RS0056939).
[37] 6. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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