European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00100.23H.0602.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
[1] Die Vorinstanzen verweigerten die Rückführung des 8-jährigen Kindes nach Frankreich gemäß Art 13 Abs 1 lit b HKÜ.
Rechtliche Beurteilung
[2] In seinem gegen die Entscheidung des Rekursgerichts erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt der Vater keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf:
[3] 1. Der Vater ist der Ansicht, es liege in der Entscheidung, mit der der Antrag auf Rückführung abgewiesen wurde, „faktisch“ eine Obsorgeentscheidung, woraus er eine Kompetenzüberschreitung und die Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte ableitet.
[4] Eine über die Rückgabe des Kindes getroffene Entscheidung ist aber schon kraft der Anordnung in Art 19 HKÜ nicht als Entscheidung über das Sorgerecht anzusehen (vgl auch RS0108469 [insb T1]). Mit einer ablehnenden Rückführungsentscheidung wegen Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach Art 9 (iVm Art 10) Brüssel IIb-VO auch kein automatischer Übergang der internationalen Zuständigkeit verbunden (vgl dazu Nademleinsky/Neumayr, IFR3 9. Kapitel Rz 9.68 f [Stand 1. 8. 2022, rdb.at]; Balthasar-Wach, Die Neufassung der Brüssel IIa-VO, ZfRV 2022, 20 [24 f]).
[5] Dem Revisionsrekurs ist zwar einzuräumen, dass eine zu weite Auslegung des in Art 13 Abs 1 lit b HKÜ normierten Rückführungshindernisses dem entführenden Elternteil unberechtigte Vorteile aus dessen Rechtsbruch verschaffen könnte, was den Zielen des Übereinkommens entgegenstehen würde. Dem ist dadurch zu begegnen, dass Art 13 Abs 1 lit b HKÜ als Ausnahmetatbestand eng auszulegen und auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken ist (vgl RS0074568 [T8]). Allerdings darf die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für ein Kind auch nicht aus generalpräventiven Gründen zum Schutz des – abstrakten – Kindeswohls herbeigeführt werden, nur um den Eindruck zu verhindern, Kindesentführungen würden sich doch lohnen (6 Ob 54/23v [ErwGr 1.]). Das Kindeswohl des konkret betroffenen Kindes ist damit (auch) im Verfahren über die Rückführung nach dem HKÜ die vorrangige Überlegung.
[6] Richtig mag sein, dass im Verfahren nach dem HKÜ im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens grundsätzlich kein Sachverständigengutachten einzuholen ist (6 Ob 99/16a; 6 Ob 196/16s). Dass in Einzelfällen die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens als unerlässlich angesehen wurde (5 Ob 47/09m), macht die (abschlägige) Rückführungsentscheidung aber noch nicht zu einer Sorgerechtsentscheidung. Die durch das bereits eingeholte Gutachten gewonnenen Beweisergebnisse sind zu verwerten.
[7] 2.1. Ob im jeweiligen Fall das Kindeswohl im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den konkreten Umständen abhängige Frage, die regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG darstellt (vgl RS0112662). Der Oberste Gerichtshof ist dabei – wie auch sonst – nicht Tatsacheninstanz (6 Ob 54/23v [ErwGr 3.2.]).
[8] Dass die vom Antragsteller erwähnte Möglichkeit eines Anschlussverfahrens nach Art 29 Brüssel IIb‑VO besteht, kann nicht von Einfluss auf die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Rückführung sein.
[9] 2.2. Der Vater hat zwar im – der Überprüfung der Tatsachen dienenden – Rekursverfahren die Feststellung: „Würde das Gericht eine Rückführung veranlassen, würde unter Berücksichtigung der aktuellen geistigen Entwicklung des Minderjährigen, dessen schulischem Umfeld, die tiefe und innige emotionale Beziehung zur Mutter und dem deutlichen Willen des Minderjährigen, bei der Mutter bleiben zu wollen, mit Sicherheit mit einer schwerwiegenden Gefährdung der Entwicklung des Minderjährigen zu rechnen sein“ bekämpft. Er wollte sie aber – lediglich – durch folgende Tatsache ersetzt wissen: „Eine drohende schwerwiegende Kindeswohlgefährdung im Zuge der Rückstellung des Minderjährigen am Weg von T* (in Österreich) nach Frankreich konnte nicht festgestellt werden“ (Anm: Hervorhebungen durch Vater im Rekurs) und vertrat die (unrichtige) Rechtsauffassung, es käme nur darauf an, ob eine Gefährdung des Minderjährigen während der Reise bestehe (was zu verneinen sei); eine solche Gefährdung sei der einzige Grund, weshalb es zur Abweisung des Antrags hätte kommen können. Dazu wurde ihm bereits vom Rekursgericht erläutert, dass – anders als er meint – (auch) die Umstände, in die ein Kind zurückgebracht wird, und die Folgen der Rückkehr für das Kind Beachtung zu finden haben, es also nicht so ist, dass diese ohne Bedeutung wären, solange nur gewährleistet wäre, dass dem Kind auf der Rückreise keine erhebliche Gefahr droht (vgl im Übrigen die Formulierung „nach seiner Rückkehr“ in Art 27 Abs 3 Brüssel IIb‑VO).
[10] Der weiteren Feststellung, wonach ein erneuter Wechsel des Lebensmittelpunkts nach Frankreich unweigerlich zu einer schweren Entwicklungsstörung sowie zu einer Gefährdung der Entwicklung der persönlichen Integrität des Minderjährigen führen würde, weshalb dessen Rückführung nach Frankreich als akut kindeswohlgefährdend zu charakterisieren sei, trat der Vater gar nicht entgegen und legt sie damit selbst zugrunde.
[11] Während der Vater im Rekurs den Standpunkt einnahm, es käme nur auf eine Gefährdung während der Reise an, legt er nun im Revisionsrekurs den Schwerpunkt seiner Bemängelung darauf, dass es (wiederum unrichtig) nur darauf ankäme, dass von ihm (selbst) keine Gefahr für das Kind ausgehe. Die Annahme der Verwirklichung einer schweren Gefahr bei Rückkehr in den Ursprungsstaat Frankreich breche „den Geist des HKÜ“. Es sei ohne Bedeutung, ob die Rückführung für die Mutter mit einer psychischen Belastung verbunden sei.
[12] Der zuletzt geäußerte Gedanke ist richtig, geht es doch um das Kindeswohl. Auf eine allenfalls eintretende psychische Belastung der Mutter haben die Vorinstanzen aber ohnehin keine Rücksicht genommen, sondern sich auf das Wohl des konkret betroffenen Kindes konzentriert.
[13] 2.3. Steht aber fest, dass der Wechsel nach Frankreich – was vom Vater unbekämpft geblieben ist – „unweigerlich zu einer schweren Entwicklungsstörung sowie zu einer Gefährdung der Entwicklung der persönlichen Integrität“ des Minderjährigen führen würde, dann ist die Ansicht der Vorinstanzen, darin liege ein Rückführungshindernis im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ im Einzelfall nicht korrekturbedürftig.
[14] 3.1. Weiters steht fest, dass angemessene Vorkehrungen zum Schutz des Minderjährigen nach seiner Rückkehr nach Frankreich im gegenständlichen Fall nicht gewährleistet sind und sich auch bei einer dauerhaften Rückkehr des Minderjährigen gemeinsam mit der Mutter dessen psychische Belastung derart ausprägen würde, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Intensivierung und stärkeren Chronifizierung der traumatischen und angstneurotischen Symptome käme, welche letztendlich Krankheitswert erreichen würden.
[15] 3.2. Im Rekurs hat der Vater gar nicht bemängelt, dass das Erstgericht die Möglichkeit des Bestehens angemessener Vorkehrungen nicht ausreichend geprüft habe.
[16] Ein Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens, welcher im Rekurs nicht beanstandet wurde, kann im Revisionsrekurs grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden (RS0043111 [T18, T26 zum Außerstreitverfahren]). Diese Regel kann zwar in Obsorge-, Kontaktregelungs- und Rückführungsverfahren nach dem HKÜ in Fällen der Gefährdung des Kindeswohls durchbrochen werden (RS0050037 [T4]; 8 Ob 25/16h), eine entsprechende Gefährdung des Kindeswohls durch Verbleib in Österreich wird vom Rechtsmittelwerber aber nicht behauptet, sondern wendet sich dieser vielmehr „nur“ gegen die Verletzung des Sorgerechts und des bei ihm gelegenen gewöhnlichen Aufenthalts.
[17] Der Vater wirft zwar dem Rekursgericht nun unter Berufung auf den zu 6 Ob 134/13v entschiedenen Fall (in dem aber – anders als hier – der Antragsteller begleitende Maßnahmen im Verfahren konkret genannt hatte [unter anderem etwa die Möglichkeit der Rückkehr der Kinder mit der mütterlichen Großmutter]) vor, dieses hätte insoweit von sich aus amtswegig tätig werden müssen. Seine Mitwirkungspflicht (siehe dazu schon 6 Ob 54/23v [ErwGr 5.1.]) vernachlässigt er dabei aber, obwohl die ihn als (hier zudem anwaltlich vertretene) Partei treffende Pflicht mit Art 27 Abs 3 Brüssel IIb‑VO noch verstärkt hervorgehoben wurde. Im Verfahren erster Instanz hat er lediglich vage auf unkonkretisiert gebliebene „allenfalls entsprechende Vorkehrungen“ verwiesen. Wenn der Vater auch noch im Revisionsrekurs keine einzige konkrete Maßnahme aufzeigen kann (welcher die Eignung zukommen müsste, die von den Vorinstanzen für den Obersten Gerichtshof bindend festgestellte akute Gefahr der Gefährdung des konkreten Kindeswohls bei Rückführung nach Frankreich, hintanzuhalten oder wenigstens abmildern zu können), legt er die Relevanz der behaupteten Mangelhaftigkeit (und damit das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage) im Revisionsrekurs nicht dar (vgl RS0043049 [insb T6]; RS0043027 [T13]).
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