OGH 6Ob99/16a

OGH6Ob99/16a30.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers A***** B*****, vertreten durch Mag. Ute Hammerschall, Rechtsanwältin in Klagenfurt am Wörthersee, als bestellte Verfahrenshelferin, gegen die Antragsgegnerin C***** B*****, vertreten durch Dr. Claudia Krappinger, Rechtsanwältin in Feldkirchen, wegen Rückführung der minderjährigen Kinder E***** B*****, geboren am ***** 2008, und S***** B*****, geboren am ***** 2011, nach dem HKÜ über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 30. März 2016, GZ 4 R 58/16w‑100, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0060OB00099.16A.0530.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1.1. Das HKÜ strebt die Wiederherstellung der ursprünglichen Tatsachenverhältnisse nach einem „unter Ausblendung von Rechtsfragen durchgeführten Schnellverfahren“ an (RIS‑Justiz RS0074532).

1.2. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach ständiger Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf besondere Sachverhalte zu beschränken; berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst das Ziel des HKÜ nicht greifen würde (RIS‑Justiz RS0074568 [T5, T8]). Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist daher auf wirkliche schwere Gefahren zu beschränken (RIS‑Justiz RS0074568 [T8]).

1.3. Maßgeblich sind hiefür regelmäßig eine Vielzahl von Kriterien, wie insbesondere die Persönlichkeit des jeweiligen Kindes, das bisherige Verhältnis zu Vater und Mutter, die zu erwartende Behandlung beim in der Heimat verbliebenen Elternteil und die Verwurzelung in der neuen Umgebung; bloß kurzfristige Traurigkeitsgefühle in einer Umstellungsphase nach der Rückkehr können dann nicht als „seelischer Schaden“ im Sinne des Art 13 lit b HKÜ angesehen werden, wenn mit ausreichender Sicherheit zu erwarten wäre, dass das Kind nach einer gewissen Eingewöhnungszeit seine seelische Ausgeglichenheit wieder finden wird (RIS‑Justiz RS0112662 [T2]). Der bloße Wunsch des Kindes, in der bisherigen Umgebung zu bleiben, ist nicht derart gravierend, dass bei Nichterfüllung eines diesbezüglichen Wunsches eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des Übereinkommens zu bejahen wäre (RIS‑Justiz RS0074568 [T6]).

1.4. Allerdings ist eine schwerwiegende psychische Gefährdung der Minderjährigen auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst durch einen längeren Aufenthalt im Verbringungsland bedingt ist, da das konkrete Kindeswohl den Vorrang vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel hat, Kindesentführungen ganz allgemein zu verhindern (RIS‑Justiz RS0074565 [T1]).

2.1. Ob das Kindeswohl im Sinne des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet wäre, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist (RIS‑Justiz RS0074568 [T1], RS0112662).

2.2. Im vorliegenden Fall droht nach dem eingeholten umfangreichen Ergänzungsgutachten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine „ICD 10: F43.2 Anpassungsstörung“. Die Bindung der Kinder zur Mutter habe sich mittlerweile intensiviert und jene zum Vater abgeschwächt; es sei der „point of no return“ überschritten.

2.3. Bei dieser Sachlage ist aber in der Einschätzung der Vorinstanzen, die Voraussetzungen des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ lägen vor, keine vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken.

2.4. Der Oberste Gerichtshof verkennt nicht, dass dieses Ergebnis Resultat der überlangen Verfahrensdauer und der mehrfachen Aufhebungsentscheidungen durch das Rekursgericht war. Eine drohende Verletzung eines Grundrechts des rückgabeberechtigten Elternteils darf aber nicht auf dem Rücken der Kinder ausgeglichen werden (6 Ob 218/15z ErwGr 3.7).

2.5. Die Ausführungen des Revisionsrekurs‑werbers zur Pflicht des Rekursgerichts zur Verfahrensergänzung gehen ins Leere, weil im vorliegenden Revisionsrekursverfahren kein Aufhebungsbeschluss zu beurteilen ist. Vielmehr kamen das Erstgericht und das Rekursgericht im nunmehr dritten Rechtsgang zu dem Ergebnis, dass eine Rückgabe der beiden Minderjährigen das Kindeswohl gefährden würde, zumal sich die Kinder mittlerweile in der Schule eingelebt hätten.

2.6. Für gleich gelagerte Fälle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung im Verfahren nach dem HKÜ im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens grundsätzlich kein Sachverständigengutachten einzuholen ist (RIS‑Justiz RS0108469 [T3] mwN). Soweit das Rekursgericht im ersten Rechtsgang Feststellungen zur Frage aufgetragen hat, ob der Mutter bei einer Einreise in die USA eine Haftstrafe oder ein Einreiseverbot droht, ist darauf hinzuweisen, dass – wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat – es nicht darauf ankommt, ob dem Entführer im Ursprungsstaat eine Verurteilung wegen Kindesentführung und allenfalls eine Haftstrafe drohen; würde dies nämlich allein ein Rückführungshindernis darstellen, könnte das HKÜ im Verhältnis zu Ländern, die Freiheitsstrafen für derartige Entführungsfälle vorsehen, überhaupt nie zur Anwendung kommen (RIS‑Justiz RS0074568 [T13]).

3. Soweit der Revisionsrekurs meint, die Vorinstanzen hätten nicht ausreichend gewürdigt, dass in den USA eine rechtskräftige Obsorgeentscheidung zugunsten des Antragstellers vorliege, ist dem entgegenzuhalten, dass der Sorgerechtsbruch nach Art 3 HKÜ ohnehin Ausgangspunkt jeder Rückführungsanordnung sein muss. Trotz Sorgerechtsbruch kann aber die Rückführung gemäß Art 13 lit b HKÜ abgelehnt werden, wenn damit eine Kindeswohlgefährdung verbunden wäre. Der Sorgerechtsbruch ist damit zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung einer Rückführungsanordnung (vgl RIS‑Justiz RS0106625, RS0119948).

4. Zusammenfassend bringt der Revisionsrekurs daher keine Rechtsfragen der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Qualität zur Darstellung, sodass er spruchgemäß zurückzuweisen war.

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