European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0050OB00141.23F.0215.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der Kläger erwarb am 30. September 2015 in einem Autohaus einen Pkw der Type VW Sharan 2.0 TDI mit einem Kilometerstand von 118.000 km zum Preis von 19.600 EUR. In diesem Fahrzeug ist ein Motor mit der Kennung EA189 Euro 5 verbaut. Die Beklagte ist die Herstellerin des Fahrzeugs. Am 2. Oktober 2015 wurde dem Kläger für das Fahrzeug die Zulassung erteilt; die EG‑Übereinstimmungsbescheinigung stammt vom 9. März 2012.
[2] Das Fahrzeug hatte zunächst eine zweiteilige Software (im Folgenden: Umschaltlogik), die bewirkte, dass bei der Emissionsprüfung am Prüfstand (NEFZ) ein Betriebsmodus mit einer höheren Abgasrückführrate zum Einsatz kam als im realen Fahrbetrieb, was den Ausstoß von Stickoxid am Prüfstand optimierend beeinflusste. Eine solche „Umschaltlogik“ ist eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinn der Art 3 Z 10 und Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG . Durch das beim Fahrzeug des Klägers am 10. Mai 2017 kostenlos durchgeführte Software-Update wurde zwar die Umschaltlogik beseitigt, gleichzeitig aber ein Thermofenster implementiert, das außerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs (+ 15 Grad Celsius bis + 33 Grad Celsius) die Abgasrückführung schrittweise zurücknimmt. Außerhalb des Thermofensters kommt es daher weiterhin zu einer Erhöhung der Stickoxidwerte.
[3] Der Kläger war mit dem Fahrzeug grundsätzlich zufrieden. Ende des Jahres 2018 schloss er sich der deutschen Musterfeststellungsklage gegen die V* AG an. Aufgrund der medialen Berichterstattung sowie der veröffentlichten Erklärungen der Beklagten zum Abgasskandal war es dem Kläger vor dem Abschluss des Kaufvertrags „jedenfalls leicht erkennbar“, dass auch dieses Fahrzeug von den Manipulationen betroffen war.
[4] Der Kläger begehrt mit seiner am 6. April 2020 eingebrachten Klage von der Beklagten 19.600 EUR sA Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs, in eventu Zahlung von 6.000 EUR sA (Minderwert des Fahrzeugs in der Höhe von 30 % des Kaufpreises) und die Feststellung der Haftung für jeden künftig aus dem Kauf entstehenden Schaden. Er sei von der Beklagten vorsätzlich in die Irre geführt und geschädigt worden; die Beklagte sei daher gemäß § 874 ABGB zur Naturalrestitution verpflichtet. Sie hafte außerdem deliktisch für den von ihr aufgrund der vorsätzlich durchgeführten Manipulationen verursachten Schaden. Die Anrechnung eines Nutzungsentgelts widerspreche dem Effektivitätsgebot.
[5] Die Beklagte wendete zusammengefasst ein, sie habe keinen Irrtum des Klägers (arglistig) verursacht; dieser habe keinen Anspruch auf Schadenersatz. Allfällige Ansprüche seien jedenfalls verjährt.
[6] Das Erstgericht wies sämtliche Begehren ab.
[7] Nach dem Sachverhalt sei zwar wegen der Ausgestaltung des Thermofensters von einer unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen, hier sei aber kein Schaden des Klägers erkennbar: Er könne das Fahrzeug von Beginn an uneingeschränkt nutzen und es bestehe eine gültige Typengenehmigung. Eine Minderung des Kaufpreises lasse sich nicht errechnen, weil sämtliche Fahrzeuge dieser Kategorie damals mit der Abschalteinrichtung ausgestattet gewesen seien. Außerdem entspreche nach den Feststellungen das Thermofenster dem Stand der Technik und die Preise bei den betroffenen Fahrzeugen hätten sich durch den Abgasskandal nicht geändert.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung dagegen nicht Folge.
[9] Die Beklagte habe durch das Software-Update das Fahrzeug in einen Zustand gebracht, der dem entspreche, der bei der Übergabe an den Kläger hätte vorliegen sollen. Auch wenn das Thermofenster gegen Art 5 VO 715/2007/EG verstoße und diese Bestimmung als Schutzgesetz zu qualifizieren sei, könne der Kläger schon mangels Verschuldens der Beklagten keine Schadenersatzansprüche erheben. Zur Frage, ab wann der Kläger Kenntnis von der Umschaltlogik gehabt habe, fehlten zwar Feststellungen, allerdings sei „unbestritten“ geblieben, dass der Kläger „spätestens ab Oktober 2015 Kenntnis von der Thematik“ erlangt habe. Die mit der erst am 6. April 2020 erhobenen Klage geltend gemachten Ansprüche seien daher auch verjährt. Die Frage, ob die Beteiligung des Klägers an der deutschen Musterfeststellungsklage für die Verjährung relevant sei, müsse nicht geklärt werden, weil auch zu diesem Zeitpunkt die dreijährige Verjährungsfrist bereits abgelaufen gewesen sei. Eine Anwendung der 30‑jährigen Verjährungsfrist scheide aus, weil der Abgasskandal nach den Feststellungen keine Auswirkungen auf die Preise am Gebrauchtwagenmarkt habe; der Kläger habe daher keinen Vermögensschaden im strafrechtlichen Sinn erlitten. Feststellungen zu einem für den Kauf ursächlichen Irrtum des Klägers lägen nicht vor. Beim Kaufvertragsabschluss Ende September 2015 sei es aufgrund der medialen Berichterstattung und der Veröffentlichungen der Beklagten für den Kläger „jedenfalls leicht erkennbar“ gewesen, dass das Fahrzeug nicht manipulationsfrei gewesen sei.
[10] Die Revision sei zur Frage zulässig, ob die 30‑jährige Verjährungsfrist auch dann zur Anwendung komme, wenn betrugsspezifische Tathandlungen (nur) im Ausland qualifiziert strafbar seien; außerdem sei eine Klarstellung zur Frage geboten, wann eine die Veranlassung eines Irrtums ausschließende Situation dadurch gegeben sei, dass „dem Irrenden der Irrtum selbst hätte auffallen müssen“.
[11] In seiner Revision beantragt der Kläger die Abänderung im klagestattgebenden Sinn, hilfsweise die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen.
[12] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] Die Revision ist zulässig und im Sinn ihres Aufhebungsantrags berechtigt.
[14] 1.1 Das nach dem Software-Update beim Fahrzeug des Klägers im Dieselmotor vorhandene Thermofenster ist nach der inzwischen geklärten Rechtslage (EuGH C‑145/20 ; dazu etwa 2 Ob 5/23h mwN; 9 Ob 70/22t; 6 Ob 150/22k; 3 Ob 40/23p ua) eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art 5 VO 715/2007/EG . Dies kann den Hersteller des Fahrzeugs ersatzpflichtig machen, auch wenn der Käufer mit diesem in keinem Vertragsverhältnis steht. Ein Schaden des Käufers wäre allerdings dann zu verneinen, wenn das Fahrzeug dennoch konkret dessen Willen entsprach (10 Ob 16/23k [Rz 38]; 4 Ob 204/23p).
[15] 1.2 Hat der Schädiger vorsätzlich gehandelt, führt der Umstand, dass der Geschädigte fahrlässig gehandelt hat, nicht zu einer Schadensteilung: Die Zurechnung des Schadens zum Verantwortungsbereich des Schädigers überwiegt so stark, dass die Fahrlässigkeit des Geschädigten nicht ins Gewicht fällt (RIS‑Justiz RS0016291 [T1]). Die Ersatzpflicht des Täuschenden nach § 874 ABGB ist nicht zu mindern, wenn der Betrogene seinen Irrtum bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte vermeiden können (5 Ob 34/13f mwN).
[16] 1.3 Zum tatsächlichen Wissensstand des Klägers im Zeitpunkt des Ankaufs des Fahrzeugs am 30. September 2015 ist nichts festgestellt. Vor dem Kaufabschluss, und zwar am 20., 23. und 25. September 2015, hatten Verantwortliche der Beklagten zur Problematik der Abgasmanipulation ihrer Dieselmotoren öffentlich schriftlich Stellung genommen und Untersuchungen sowie Behebungsmaßnahmen angekündigt (Beilagen ./G, ./E und ./H). Unbestritten ist zwar offenbar, dass der Kläger nach dem Kaufabschluss, und zwar „spätestens ab 20. Oktober 2015“, Kenntnis von der „EA 189-Thematik“ erlangte. Wann ihm aber die erwähnten – von ihm selbst vorgelegten – Stellungnahmen des V*-Konzerns bekannt wurden, steht nicht fest. Damit lässt sich aber die Frage, ob der Kläger beim Ankauf des Fahrzeugs über die Beschaffenheit des in diesem verbauten Dieselmotors irrte oder nicht, auf Basis des bisherigen Sachverhalts nicht beantworten. Sollte der Kläger im Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses von den Abgasmanipulationen bei Dieselmotoren der Beklagten und (daher) gewusst haben, dass er ein vom Abgasskandal betroffenes Fahrzeug kauft, läge keine Irreführung durch die Beklagte vor; sein Klagebegehren wäre dann aus diesem Grund nicht berechtigt. Die bloße (objektive) Erkennbarkeit dieser Umstände für den Kläger (infolge der medialen Berichterstattung und der veröffentlichten Stellungnahmen aus dem V*-Konzern) schließt hingegen Schadenersatzansprüche des Klägers wegen Irreführung im Sinn des § 874 ABGB nicht aus.
[17] 1.4 Die vom Berufungsgericht erwähnte Entscheidung 8 Ob 25/10z behandelt die Irreführung von Anlegern durch eine Verkaufsbroschüre; (nur) bei „völlig offensichtlich unrichtigen Angaben eines Vertragspartners“ deren Überprüfung dem anderen Teil leicht möglich gewesen sei, gebe es Fälle, in denen keine zur Täuschung geeignete Irreführungshandlung vorgelegen sei. Für den hier zu beurteilenden Fall ist diese Entscheidung mangels eines vergleichbaren Sachverhalts nicht aussagekräftig.
[18] 2.1 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass der Geschädigte, wenn er annehmen darf, dass der aufgetretene Schaden behoben worden sei, nicht anders zu behandeln ist, als wenn er von einem – an sich vorhandenen – Schaden bisher überhaupt noch nicht Kenntnis erlangt hat, weil für ihn auch in einem solchen Fall nicht der geringste Anlass zur Klage besteht (RS0034426). Da auch die Eigentümer der vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge nach Durchführung des Software-Updates mit gutem Grund davon ausgehen durften, dass der bei Erwerb des Fahrzeugs vorliegende Mangel behoben wurde, hat der Oberste Gerichtshof inzwischen mehrfach (10 Ob 31/23s = RS0034951 [T42]; 6 Ob 181/23w; 9 Ob 33/23b;, 6 Ob 122/23v; 8 Ob 81/23d) ausgesprochen, dass die dreijährige Verjährungsfrist des § 1489 ABGB erst in dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in dem die Fahrzeughalter davon Kenntnis erlangten, dass trotz des Software-Updates nach wie vor eine unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden ist.
[19] 2.2 Hier wurde beim Fahrzeug des Klägers unstrittig das kostenlose Software-Update am 10. Mai 2017 durchgeführt, das den Mangel der verbotenen Abschalteinrichtung letztlich aber nicht behoben hat. Die mit der am 6. April 2020 eingebrachten Klage erhobenen Schadenersatzansprüche sind daher entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht verjährt. Die frühestens mit dem Software-Update beginnende dreijährige Verjährungsfrist des § 1489 ABGB war bei der Einbringung der Klage noch nicht abgelaufen. Auf eine mögliche Hemmung der Verjährung infolge der Beteiligung des Klägers am Verfahren über die deutsche Musterfeststellungsklage kommt es im vorliegenden Fall daher nicht an.
[20] 3. Im fortzusetzenden Verfahren sind daher zunächst Feststellungen darüber zu treffen, ob der Kläger im Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses am 30. September 2015 von den Abgasmanipulationen bei den von der Beklagten verkauften Dieselmotoren Kenntnis hatte. Sollte sich herausstellen, dass das Fahrzeug beim Ankauf nicht dem Willen des Klägers entsprach, weil er von den Manipulationen noch nichts wusste, so wäre bei der Beurteilung seines Hauptbegehrens auch die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung zur Berechnung des Benützungsentgelts (vgl RS0134263) zu berücksichtigen.
[21] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)