European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00152.24T.1022.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.985,47 EUR (darin 409,91 EUR USt und 1.526 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten der Rechtsmittelverfahren binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Beklagte ist Eigentümerin eines geschlossenen Hofs mit mehreren Liegenschaften. Die Grundstücke sind im Grundbuch überwiegend als landwirtschaftlich genutzte Flächen (tlw verbuschte Flächen) und Wald ausgewiesen. In dieser Gegend liegen mehrere Weiler, die erst 1962 mit einer öffentlichen Straße miteinander verbunden wurden. Vor diesem Straßenbau waren die spärlich besiedelten, nur aus wenigen Häusern bestehenden Weiler nur durch Feldwege miteinander verbunden. Einer dieser Feldwege ist der hier streitgegenständliche Weg und führt über die Grundstücke der Beklagten. Dieser Weg diente vor dem Straßenbau als kürzester und meistgenutzter Verbindungsweg zwischen zwei Weilern. Er wurde von den dortigen Bewohnern, aber auch von Dritten, die dorthin gingen, wie ein öffentlicher Weg zu allen Zwecken des Lebens ganzjährig begangen und benützt (Schulweg, Kirchgang, Gasthaus, Einkauf, Besuche, etc).
[2] Es ist in dritter Instanz unstrittig, dass zum Zeitpunkt der Errichtung der öffentlichen Straße (1962) das Recht der Allgemeinheit, den streitgegenständlichen Bereich zu begehen, bereits ersessen war.
[3] Mit der Errichtung der Straße verlor der streitgegenständliche Feldweg an Bedeutung und die Frequenz der Nutzung verringerte sich erheblich. Der Weg wurde aber auch nach dem Straßenbau noch genutzt. So benützten manche Kinder den Weg als Schulweg, dies regelmäßig in den 60iger und 70iger Jahren, in deutlich geringerer Intensität aber auch noch danach. Darüber hinaus wurde der Weg bis zum Frühjahr 2021 hauptsächlich als Spazierweg von den Bewohnern der umliegenden Weiler genützt, wobei der Weg immer wieder, aber nicht häufig begangen wurde.
[4] Seit dem Straßenbau wurden die Liegenschaften in dem Bereich neben dem Weg immer weniger gemäht, gepflegt und kultiviert, sodass immer mehr Büsche und hohe Gräser aufkamen, die in den Weg hineinwuchsen. In den 1990er Jahren nahm der Rechtsvorgänger der Beklagten Erhaltungsarbeiten auf einem Abschnitt des Weges vor. Sonst verkam der einst gut begehbare Weg zum Trampelpfad, der nun teilweise durch hohe Gräser führte und in den Äste von Büschen hineinragten, die anstelle des früheren Wiesengrases neben dem Weg wuchsen. Dessen ungeachtet wurde der Weg bis ins Frühjahr 2021 weiterhin (zB von Spaziergängern und als Schulweg) benützt.
[5] Die Beklagte legte im März 2021 vorerst Äste über den Weg und brachte später über mehrere Stellen des Weges Absperrbänder an. In seinem äußerst östlichen Teil wurde der Weg nicht derart „abgesperrt“.
[6] Mit ihrer 2021 eingebrachten Klage begehrt die klagende Gemeinde die Feststellung, dass die Beklagte als Eigentümerin der betroffenen Liegenschaften die Dienstbarkeit des Gehens in einer Breite von einem Meter über den streitgegenständlichen (und im Begehren bzw mit einem Plan näher beschriebenen) Weg zu dulden hat. Weiters begehrt die Klägerin, die Beklagte schuldig zu erkennen, in die bücherliche Einverleibung der Dienstbarkeit einzuwilligen. Sie habe das Wegerecht für die Allgemeinheit ersessen. Bis zu den erfolgten Störungshandlungen der Beklagten im Frühjahr 2021 sei nie daran zu zweifeln gewesen, dass der Weg von der Allgemeinheit benützt werden dürfe. Die Störungshandlungen der Beklagten im Frühjahr 2021 hätten dazu gedient, das Begehen des Weges zu erschweren.
[7] Die Beklagte anerkannte ein Wegerecht der Klägerin im nördlichen Teil der strittigen Wegtrasse. Darüber erging ein Teilanerkenntnisurteil. Zum übrigen Teil der Wegtrasse vertrat die Beklagte im Wesentlichen den Standpunkt, dass die Dienstbarkeit durch die Errichtung der Straße wegen des Wegfalls der Notwendigkeit bzw Bequemlichkeit nicht mehr weiterbestehe. Der Dienstbarkeitsweg sei für den ersessenen Grund, nämlich die Erschließung der Weiler, nicht mehr notwendig. Zudem würde mit der Wegtrasse ein Eingriff in die Natur vorliegen, sodass kein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung einer nicht mehr notwendigen Servitut vorliege. Eine naturschutzrechtliche Bewilligung liege nicht vor.
[8] Das Erstgericht gab der Klage auch hinsichtlich des nicht vom Teilanerkenntnisurteil umfassten Umfangs zur Gänze statt. Es ging davon aus, dass eine Dienstbarkeit nicht aus Utilitätsgründen durch bloßen Nichtgebrauch erlösche. Ein Nichtgebrauch könnte Grundlage einer Verjährung nach §§ 1479 und 1488 ABGB sein. Die entsprechenden Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Eine Verjährung nach § 1479 ABGB sei schon deshalb zu verneinen, weil der Weg bis 2021 durch die Allgemeinheit (spärlich, aber doch) benutzt worden sei.
[9] Das Berufungsgericht wies die Klage hinsichtlich des nicht vom Teilanerkenntnisurteil umfassten Umfangs ab. Es bejahte wie das Erstgericht die Ersitzung des Wegrechts für die Allgemeinheit. Die Vorschriften des (ersten) Tiroler Naturschutzgesetzes 1991 hätten auf die Ersitzung keinen Einfluss gehabt, weil die Ersitzung des Wegerechts bereits davor wirksam gewesen sei. Auch nach dem Tiroler Naturschutzgesetz sei die Ausübung eines Wegerechts durch ein Feuchtgebiet nicht verboten. Der Umstand, dass eine allfällige (vom Klagebegehren nicht umfasste) Befestigung des Weges einer naturschutzrechtlichen Bewilligung bedürfe, habe auf die Ersitzung keinen Einfluss.
[10] Die Straße biete keinen vollständigen Ersatz für den Schulweg, weil der Weg auch danach zB als Schulweg benutzt worden sei. Die Dienstbarkeit sei nicht durch bloßen Nichtgebrauch verjährt.
[11] Es fehle aber die Notwendigkeit des Weges für die Allgemeinheit. Der Weg sei nicht (mehr) als Verbindungsweg zwischen den Weilern notwendig. Eine Nutzung durch Touristen liege nicht vor. Eine regelmäßige Wegeservitut erlösche, wenn sie zwecklos wurde. Eine unregelmäßige Servitut – wie gegenständlich – setze voraus, dass die Notwendigkeit aufrecht bleibe. Die vereinzelte Nutzung des Weges sei nicht ausreichend, einen allgemeinen Vorteil des Weges zu bewahren. Der Wegfall der Notwendigkeit führe bei einer unregelmäßigen Wegedienstbarkeit zum Erlöschen des einst ersessenen Gemeingebrauchs.
[12] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und erklärte die Revision mangels Rechtsprechung ua zur Frage zulässig, ob der Wegfall der Notwendigkeit des Wegerechts zum Erlöschen einer unregelmäßigen Servitut führt.
[13] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichts dahingehend abzuändern, dass der Klage stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[14] Die Beklagte beantragt (erkennbar), die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[15] Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen ist; sie ist auch berechtigt.
[16] 1. Im Zentrum des drittinstanzlichen Verfahrens steht die Frage, ob das ersessene Wegerecht im Anlassfall wegen des Baus der öffentlichen Straße erloschen ist. Dies wurde vom Berufungsgericht im Ergebnis zu Unrecht bejaht.
[17] 2. Wegen des in § 473 ABGB normierten Utilitätsprinzips, wonach eine Grundservitut die vorteilhafte und bequemere Benützung voraussetzt, ist es konsequent, dass sie erlischt, wenn der Zweck wegfällt (Rassi in Rummel/Lukas/Geroldinger 4 § 524 ABGB Rz 8).
[18] 2.1 An das Utilitätserfordernis einer Dienstbarkeit ist dabei grundsätzlich kein strenger Maßstab anzulegen (RS0011593; RS0011589 [T5]). Nur völlige Zwecklosigkeit hindert ihr Entstehen oder lässt sie erlöschen (RS0011589; RS0011582).
[19] 2.2 Das gilt insbesondere für unregelmäßige Dienstbarkeiten, bei denen ebenfalls das Utilitätserfordernis zu beachten ist (5 Ob 87/91; 5 Ob 59/18i; 5 Ob 3/22k; Rassi in Kodek 2 § 12 GBG Rz 18 mwN). In noch höherem Maße als bei Grunddienstbarkeiten muss bei den unregelmäßigen persönlichen Dienstbarkeiten der Grundsatz gelten, dass nur völlige Zwecklosigkeit das Entstehen einer privaten Dienstbarkeit verhindern oder ihren weiteren Rechtsbestand vernichten könnte (RS0011541).
[20] 3.1 Im Anlassfall liegt eine ersessene, unregelmäßige Servitut (Wegerecht) einer Gemeinde vor (vgl RS0011562 [T3, T4, T5]).
[21] 3.2 Die jüngere Rechtsprechung knüpft auch das Erlöschen von ersessenen, unregelmäßigen Wegeservituten von Gemeinden an das Erfordernis der völligen Zwecklosigkeit (6 Ob 208/08v; 9 Ob 22/09i; 9 Ob 16/15s; 8 Ob 26/23s; vgl RS0011541 [insb T2]).
[22] 3.3 In 8 Ob 26/23s wurde etwa jüngst festgehalten, dass eine Grunddienstbarkeit nicht schon durch die Möglichkeit erlischt, die mit der Dienstbarkeit verbundenen Vorteile auch auf anderem Weg erreichen zu können (RS0011574; RS0011688 [T3]; vgl RS0011582 [T3]). Nur völlige Zwecklosigkeit oder gänzliche Unwirtschaftlichkeit für den Berechtigten können ein Erlöschen ex lege bewirken (RS0011574 [T3]). Auch dieser Entscheidung lag der Einwand der Belasteten zugrunde, dass die ersessene Servitut der Gemeinde wegen einer nun zur Verfügung stehenden Straße erloschen sei.
[23] 4. Auch im Anlassfall ist das Erlöschen der Servitut von der völligen Zwecklosigkeit abhängig zu machen.
[24] 4.1 Völlig zwecklos ist eine Dienstbarkeit nur dann, wenn sie ihren Sinn ganz verloren hat und die Ausübung der Dienstbarkeit nicht nur vorübergehend, sondern dauernd unmöglich geworden ist. Jeder auch nur einigermaßen ins Gewicht fallende Vorteil genügt für die Aufrechterhaltung des erworbenen Rechts (RS0116757). Die Zwecklosigkeit einer Wegeservitut kommt grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn eine nun zur Verfügung stehende Straße nach Lage und Beschaffenheit dem Berechtigten einen vollen Ersatz für den benützten Servitutsweg bietet (8 Ob 26/23s).
[25] 4.2 Aus den Feststellungen ergibt sich, dass das im Anlassfall gerade nicht der Fall ist. Schon wegen der Möglichkeit, dass der Weg als sicherer Spazier- und Schulweg fernab einer befahrenen Straße (und damit als Alternative zur Straße) genutzt werden kann und auch nach wie vor genutzt wird (vgl auch RS0011569), ist die für ein Erlöschen erforderliche Zwecklosigkeit hier zu verneinen. Auch das Berufungsgericht ging mit Blick auf die fortgesetzte Nutzung des Weges etwa als Schulweg davon aus, dass „die Straße keinen vollständigen Ersatz für den Servitutsweg bot“.
[26] 5. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass das ersessene Wegerecht durch den Bau der öffentlichen Straße und der damit verbundenen geringeren Nutzung des Wegs nicht erloschen ist.
[27] 6. Eine Verjährung der Dienstbarkeit liegt nicht vor.
[28] 6.1 Die Anwendung des § 1488 ABGB scheitert schon daran, dass die klagende Gemeinde mit ihrer im Herbst 2021 eingebrachten Klage ihr Recht vor Ablauf der dreijährigen Frist nach der „Sperre“ des Weges im Frühjahr 2021 gerichtlich (vgl RS0034241) geltend gemacht hat.
[29] 6.2 Auch auf § 1479 ABGB kann sich die Beklagte nicht berufen.
[30] 6.2.1 Dienstbarkeiten verjähren nach dieser Norm durch bloßen Nichtgebrauch erst in 30 Jahren. Die Verjährungsfrist beginnt, wenn die an sich mögliche Rechtsausübung unterbleibt, mit dem Beginn der Ausübungsmöglichkeit, sonst mit der letzten Ausübungshandlung (RS0108084 [T1]).
[31] 6.2.2 Die 30‑jährige Verjährung wird bereits durch eine Teilausübung des Dienstbarkeitsrechts ausgeschlossen. Eine Teilausübung liegt vor, wenn der Berechtigte Handlungen vornimmt, zu denen er nur aufgrund der Dienstbarkeit befugt ist. Es genügt, wenn ein auch nur geringer Teil der zustehenden Befugnisse ausgeübt wird. Ebenso genügt die Rechtsausübung auf einem räumlichen Teil des dienenden Grundstücks (RS0034136 [insb T2]). Eine bestimmte Qualität oder Intensität der Rechtsausübung ist somit nicht erforderlich (RS0121871 [T2]; RS0034136 [T1]).
[32] 6.2.3 Die festgestellten Nutzungen des Weges verhindern eine Verjährung nach § 1479 ABGB durch Nichtgebrauch.
[33] 7. Zum auf das Tiroler Naturschutzgesetz gestützten Einwand der Beklagten kann auf die zutreffende Rechtsansicht des Berufungsgerichts verwiesen werden. Gegenständlich geht es nicht um eine nach diesem Gesetz bewilligungspflichtige Anlage, sondern nur um die Frage, ob die gegenständliche Dienstbarkeit, die vor dem Inkrafttreten des (ersten) Tiroler Naturschutzgesetz 1991 von der Klägerin ersessen wurde, noch aufrecht und verbücherungsfähig ist. Aus dem genannten Gesetz kann kein Erlöschungsgrund abgeleitet werden.
[34] 8. Nach richtiger Ansicht ist die ersessene Servitut aufrecht, sodass dem Klagebegehren Folge zu geben war.
[35] 9. Das klagsstattgebende Ersturteil war damit wiederherzustellen. Unter Einschluss des bereits rechtskräftigen Teilanerkenntnisurteils hat die Entscheidung damit insgesamt wie aus dem Spruch des Ersturteils ersichtlich zu lauten.
[36] 10. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens stützt sich auf §§ 50, 41 ZPO.
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