European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0020OB00135.17T.0322.000
Spruch:
Die außerordentlichen Revisionen werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Der 1986 geborene Kläger stürzte am 4. 9. 2009 um 5:26 Uhr in der Station Stadtpark in den Gleistrog der U‑Bahn und wurde vom einfahrenden Zug der Linie U 4 überrollt. Der Kläger wurde bei dem Unfall schwer verletzt.
Gegenstand des Rechtsstreits sind die Schadenersatzansprüche des Klägers, der ein Mitverschulden von zwei Dritteln anerkennt. Die erstbeklagte Partei ist die Betriebsunternehmerin der U-Bahn, die zweitbeklagte Partei ist ihre Komplementärin.
Die Vorinstanzen gaben mit Teil- und Teilzwischenurteil dem auf den Ersatz eines Drittels seines Schadens gerichteten Zahlungsbegehren des Klägers dem Grunde nach mit drei Fünfteln (= ein Fünftel des Gesamtschadens) statt, das Zahlungsmehrbegehren wiesen sie ab. Sie beurteilten den festgestellten Sachverhalt dahin, dass den beklagten Parteien der Beweis eines unabwendbaren Ereignisses iSd § 9 Abs 2 EKHG nicht gelungen und eine Schadensteilung im Verhältnis von 4 : 1 zu Lasten des Klägers gerechtfertigt sei. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nicht zu.
Gegen das Berufungsurteil richten sich die außerordentlichen Revisionen sämtlicher Parteien. In beiden Rechtsmitteln wird aber keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Zur Revision des Klägers:
1.1 Der Frage, wie bei der nach § 7 EKHG iVm § 1304 ABGB vorzunehmenden Schadensteilung das Mitverschulden des Klägers gegenüber der von der U-Bahn ausgehenden Betriebsgefahr zu gewichten ist, kommt keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu (vgl 2 Ob 23/91). Dem Berufungsgericht ist keine gravierende, vom Obersten Gerichtshof iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen, wenn es angesichts des besonders schwerwiegenden Fehlverhaltens des Klägers dessen Eigenverschulden mit einer Quote von vier Fünfteln angesetzt hat (vgl dazu auch Punkt 2.5).
1.2 An dieser Beurteilung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die auf dem Bahnsteig des denkmalgeschützten Stationsgebäudes vorhandene Säulenreihe für einen in die Station einfahrenden U-Bahnfahrer eine „gewisse Sichtbehinderung“ auf die sich im Nahbereich der Säulen aufhaltenden Personen mit sich bringt, während die Personen, die sich vor der Säulenreihe befinden, „voll sichtbar“ und jene nahe der Rückwand des Bahnsteigs „deutlich wahrnehmbar“ sind. Der Versuch des Klägers, aus dieser baulichen Gestaltung der Station weitere Zurechnungsgründe auf Seiten der beklagten Parteien abzuleiten, die die von ihm angestrebte Schadensteilung rechtfertigen könnten, ist vor den Vorinstanzen gescheitert. Dieses Ergebnis ist jedenfalls vertretbar:
(a) Der Kläger lässt die Rechtsansicht der Vorinstanzen unwidersprochen, dass er sich nicht auf die Haftung aus einem Beförderungsvertrag stützen kann.
(b) Voraussetzung für die Annahme einer Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht ist das bei gehöriger Sorgfalt mögliche Erkennen einer Gefahrenlage. Diese Sorgfaltspflicht darf allerdings nicht überspannt werden. Die Grenzen des Zumutbaren sind zu beachten. Im Einzelfall kommt es auf die Wahrscheinlichkeit der Schädigung an (2 Ob 223/15f mwN; RIS‑Justiz RS0023487 [T7]).
Der Kläger hat in erster Instanz nicht behauptet, geschweige denn den Beweis erbracht, dass die durch die Säulenreihe bedingte Sichtbeeinträchtigung in der Station Stadtpark in der Vergangenheit jemals für einen vergleichbaren Unfall ursächlich gewesen wäre. Die Rüge der Unterlassung von „Abwehrmaßnahmen“, wie die Schaffung von Glastrennwänden oder Bahnsteigtüren, wirft im Lichte obiger Rechtsprechung daher keine erhebliche Rechtsfrage auf.
(c) In Ermangelung eines „besonderen“, zum Betrieb der Bahn hinzutretenden Gefahrenmoments (RIS‑Justiz RS0058467) ist auch eine außergewöhnliche Betriebsgefahr nicht begründbar. Dasselbe gilt für die Berücksichtigung der Säulenreihe als „gefahrenerhöhendes Element“.
(d) Schließlich ist aus den bisher vom Obersten Gerichtshof beurteilten Unfällen mit Beteiligung einer U‑Bahn (2 Ob 262/06b und 2 Ob 265/06v [zu beiden: Karner in ZVR 2007/185, 305]) eine für den Kläger günstigere Schadensteilung nicht zu gewinnen, betraf die erste Entscheidung doch einen gänzlich anders gelagerten Fall [Fehltritt beim Aussteigen], während in letzterer [Fehltritt beim Einsteigen] die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben worden sind.
2. Zur Revision der beklagten Parteien:
2.1 Die Revisionsgründe der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurden geprüft; sie liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 dritter Satz ZPO).
2.2 Der Oberste Gerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Rechtsansicht, dass unter der sogenannten „Reaktionszeit“ die Zeitspanne zwischen dem Erfassen der Verkehrslage und der Ausführung der entsprechenden Maßnahmen durch die Betätigung der in Betracht kommenden Einrichtungen zu verstehen ist (2 Ob 113/09w mwN; 2 Ob 49/12p; RIS‑Justiz RS0074853, RS0074859). Mit dem „Erfassen der Verkehrslage“ ist, wie der Oberste Gerichtshof ebenfalls bereits klargestellt hat, die Gefahrenerkennung, also die objektive Reaktionsaufforderung gemeint (2 Ob 113/09w). Es kann auch zutreffen, dass in bestimmten Situationen die Gefährlichkeit eines Verhaltens erst nach einer gewissen Zeit der Beobachtung erkannt werden kann. Ob dies im Einzelfall anzunehmen ist, betrifft jedoch den Tatsachenbereich und ist keine Frage der rechtlichen Beurteilung (2 Ob 113/09w; vgl auch 2 Ob 49/12p).
2.3 Das Erstgericht hat dem U-Bahnfahrer zusätzlich zur Reaktionszeit eine vorgeschaltete „Gefahrenerkennungszeit“ von 0,5 sek ab dem (vollen) Sichtbarwerden des Klägers zugebilligt, die es mit dem Hinweis auf das vom Kläger vorgelegte Privatgutachten begründete. Dabei handelt es sich um eine – wenngleich disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung getroffene – Tatsachenfeststellung, an die der Oberste Gerichtshof gebunden ist. Die Auslegung dieser Feststellung durch das Berufungsgericht, der U-Bahnfahrer hätte spätestens nach Ablauf der genannten Zeitspanne das Torkeln des Klägers (die Gefahr) erkennen können (objektive Reaktionsaufforderung), steht mit der erörterten Rechtsprechung im Einklang und wirft keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf. Die von den beklagten Parteien zitierten Entscheidungen 8 Ob 2/83 ZVR 1984/260 und 2 Ob 2380/96f ergeben kein abweichendes Bild.
2.4 Die nach § 9 Abs 2 EKHG gebotene äußerste Sorgfalt erfordert auch die Einhaltung jener besonderen Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht, die die Rücksichtnahme auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer gebietet (2 Ob 68/13h; RIS‑Justiz RS0058425). Bleibt ungeklärt, ob ein nach § 9 EKHG zu berücksichtigender Umstand für die Entstehung des Unfalls ursächlich war, so geht dies zu Lasten des Halters bzw (hier) der Betriebsunternehmerin der Eisenbahn (RIS‑Justiz RS0058926). Der Oberste Gerichtshof hatte auch schon mehrfach Fälle zu beurteilen, in denen die um Sekundenbruchteile verspätete, zur Begründung eines Verschuldens nicht ausreichende Reaktion eines Fahrzeuglenkers auf einen sich verkehrswidrig verhaltenden Fußgänger das Gelingen des Entlastungsbeweises gemäß § 9 Abs 2 EKHG hinderte (vgl 2 Ob 44/06v mwN [um 0,3 sek verspätete Reaktion]).
Nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanzen hätte der U-Bahnfahrer dem Kläger eine unfallvermeidende Reaktion ermöglichen können, hätte er binnen 0,3 sek nach Ende der Reaktionszeit ein akustisches Warnsignal abgesetzt. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass den beklagten Parteien unter diesen Umständen der Beweis eines unabwendbaren Ereignisses nicht gelungen sei, hält sich im Rahmen der erörterten Judikatur.
2.5 In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist bei der nach § 7 EKHG iVm § 1304 ABGB vorzunehmenden Abwägung anerkannt, dass die gewöhnliche Betriebsgefahr selbst dann zu einer Haftung des Halters oder Betriebsunternehmers führen kann, wenn den Geschädigten ein Verschulden trifft (vgl etwa 2 Ob 73/12t mwN; 2 Ob 68/13h; 2 Ob 15/17w).
Richtig ist zwar, dass die gewöhnliche Betriebsgefahr gegenüber einem besonders krassen Verschulden des Unfallgegners auch zur Gänze in den Hintergrund treten kann. Das Berufungsgericht hat hier aber mit dem Hinweis auf die große Masse der U-Bahn und deren Unmöglichkeit, einem Hindernis auszuweichen, ausdrücklich begründet, warum es bei der Schadensteilung die Betriebsgefahr trotz des gravierenden Fehlverhaltens des Klägers mit einem Fünftel veranschlagt hat. Die beklagten Parteien gehen in ihrem Rechtsmittel auf diese Rechtsansicht mit keinem Wort ein, weshalb für den Obersten Gerichtshof kein Anlass zu ihrer Überprüfung besteht.
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