European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00130.24T.0910.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Teilurteil, das in seinem klagsstattgebenden Teil und hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zahlung von 2.604,60 EUR sA und eines Zinsenmehrbegehrens als unangefochten unberührt bleibt, wird hinsichtlich der Abweisung des weiteren Begehrens auf Zahlung von 23.660,23 EUR sA und des Feststellungsbegehrens im Ausmaß von 50 % aufgehoben. Die Rechtssache wird in diesem Umfang an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Klägerin stürzte am 14. Jänner 2021 auf dem Weg vom Parkplatz zu ihrer Dienststelle auf einer Abfahrtsrampe und verletzte sich. Die Nutzung dieser Rampe durch Fußgänger war weder durch die Hausordnung noch ein vor Ort angebrachtes Schild verboten. Die Rampe war zwar nicht Teil des „offiziellen Zugangs“ zum Gebäude, wurde aber von Mitarbeitern regelmäßig als solcher verwendet. Die Beklagte war mit der Verrichtung des Winterdienstes in Form einer „24 Stundenbetreuung“ beauftragt.
[2] Die Klägerin parkte ihren PKW „rechts der Abfahrt in die Tiefgarage“ und wollte die Dienststelle wie üblich auf dem kürzesten Weg über die Rampe betreten. Sie trug feste Winterstiefel mit dicken Sohlen und flachen Absätzen. Nach dem Aussteigen bemerkte sie, dass „auf dem Parkplatz flächendeckend Glatteis herrschte“. Ihr fiel vor Betreten der Rampe auf, dass diese ebenfalls glatt war, sie dachte aber nicht daran, dass sie deswegen einen anderen Weg in das Gebäude wählen könnte.
[3] Die Klägerin begehrt die Zahlung von 49.925,06 EUR sA (darin enthalten 23.754,06 EUR an Verdienstentgang) und die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden aus dem Unfall. Es treffe sie kein Mitverschulden. Sie habe die von zahlreichen Kollegen genützte Rampe verwenden dürfen, handle es sich doch um den kürzesten Weg. Es sei am gesamten Gelände spiegelglatt gewesen. Hätte die Klägerin einen anderen Weg zum Neben- oder Haupteingang gewählt, hätte sie insgesamt eine deutlich längere Strecke auf Glatteis zurücklegen müssen. Sie habe daher den risikoärmsten Weg gewählt.
[4] Zum Verdienstentgang brachte die Klägerin vor, dass ihr aufgrund des Unfalls Zulagen in Höhe von 28,38 EUR brutto pro Tag entgangen seien, was für den Zeitraum von 14. Jänner 2021 bis 30. April 2023 insgesamt 23.754,06 EUR ergebe.
[5] Die Beklagte bestreitet. Die Klägerin treffe ein Mitverschulden, weil ihr erkennbar gewesen sei, dass die Garagenabfahrt wegen besonders hohen Gefälles, fehlender Gehsteige, fehlender Eingangstüre und unterschiedlicher Asphaltbeschaffenheit nicht als Abgang geeignet gewesen sei. Die Klägerin hätte die vorgesehenen Ein‑ und Ausgänge verwenden müssen. Sie habe gerade nicht den risikoärmsten Zugang gewählt.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab, weil es bereits an rechtswidrigem Verhalten der Beklagten fehle. Auf Tatsachenebene ging das Erstgericht (teils disloziert [Ersturteil Rz 114]) davon aus, dass die Klägerin an Stelle des von ihr gewählten kürzesten Wegs über die Abfahrtsrampe nur über einen „ebenso vereisten und genau so über eine (andere) Rampe führenden längeren Weg“ zur Dienststelle gelangen hätte können.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge. Mit Teilurteil gab es dem Zahlungsbegehren mit 12.045 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Hälfte (unbekämpft) statt, ein Zahlungsmehrbegehren von 26.264,83 EUR sA wies es ebenso wie das Feststellungsmehrbegehren ab. Im Umfang eines Zahlungsbegehrens von 11.615,23 EUR sA hob das Berufungsgericht das Ersturteil ohne Rechtskraftvorbehalt auf. Das Berufungsgericht ging von einem vertragswidrigen Verhalten der Beklagten aus und bejahte deren grundsätzliche Haftung. Der Klägerin falle allerdings ein gleichteiliges Mitverschulden zur Last, weil sie den abschüssigen, nicht für den Fußgängerverkehr ausgestatteten Weg anstatt des ebenen Wegs über den Parkplatz zum Hauptgebäude gewählt habe. Sie habe damit freiwillig den Weg über die eisige abschüssige Rampe gewählt, obwohl sie gewusst habe, dass sie sich dort im Fall des Rutschens nirgendwo fest‑ oder anhalten könne.
[8] Das (ungekürzt) angemessene Schmerzengeld belaufe sich auf 15.000 EUR, für Haushaltshilfe und Pflegeleistungen sei ein ungekürzter Betrag von 8.890 EUR, für Medikamentenkosten ein ungekürzter Betrag von 200 EUR zuzusprechen.
[9] Das Erstgericht habe Verdienstentgang in Höhe von 523,60 EUR sA rechtskräftig abgewiesen. Vom verbleibenden Betrag von 23.230,46 EUR sei aufgrund des gleichteiligen Verschuldens noch über 11.615,23 EUR sA zu erkennen. Insoweit müsse eine Aufhebung der Entscheidung zur Erörterung erfolgen. Die Klägerin könne grundsätzlich den erzielbaren Nettoverdienst begehren, es seien allerdings die durch die Schadenersatzleistung selbst ausgelösten Steuern zu berücksichtigen. Da die Klägerin ihren Berechnungen den Bruttoverdienst zu Grunde lege, sei ihr Begehren unschlüssig.
[10] Gegen die Abweisung eines Zahlungsbegehrens von 23.660,23 EUR sA sowie die Abweisung des Feststellungsmehrbegehrens richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn im Umfang der Anfechtung.
[11] Die Beklagte beantragt in der ohne Freistellung eingebrachten Revisionsbeantwortung, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die außerordentliche Revision ist wegen der Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch das Berufungsgericht zulässig (5 Ob 20/09s) und im Sinn eines im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags (1 Ob 21/16v) auch berechtigt.
[13] Die Klägerin argumentiert, dass sie auf Basis der Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts keine Möglichkeit gehabt habe, den Unfall zu vermeiden. Die Annahme, dass der Klägerin eine „nicht abschüssige“ Alternative zur Verfügung gestanden wäre, sei von den Feststellungen nicht gedeckt. Im Übrigen könne der Verdienstentgang sehr wohl mit dem Bruttobetrag geltend gemacht werden.
Dazu hat der Fachsenat erwogen:
[14] 1. Unstrittig ist im Revisionsverfahren die grundsätzliche Haftung der Beklagten. Ebenso unstrittig ist die angemessene (ungekürzte) Höhe des Schmerzengeldes sowie der Kosten für Haushaltshilfe, Pflegeleistungen und Medikamente.
[15] 2. Im Zentrum der Revisionsausführungen steht die Frage, ob die Klägerin ein Mitverschulden trifft.
[16] 2.1. Die Annahme eines Mitverschuldens iSd § 1304 ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinn voraus; es genügt vielmehr eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, worunter auch die Gesundheit fällt. Schon die Sorglosigkeit gegenüber eigenen Gütern führt dazu, dass der Geschädigte wenig schutzwürdig erscheint, weshalb dem Schädiger nicht mehr der Ersatz des gesamten Schadens aufzuerlegen ist (RS0022681 [insb T14]). Beim Vorwurf der Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten kommt es entscheidend darauf an, ob der Geschädigte jene Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch (der maßstabgerechte Durchschnittsmensch) in der konkreten Lage zur Vermeidung des Schadens anzuwenden pflegt (RS0026343 [T1]). Bei der Aufteilung des Verschuldens entscheiden vor allem der Grad der Fahrlässigkeit des einzelnen Verkehrsteilnehmers, die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschriften für die Sicherheit des Verkehrs im Allgemeinen und im konkreten Fall (RS0027389; RS0026861).
[17] 2.2. Zwar ist die Frage, ob die Verschuldensteilung angemessen ist, eine bloße Ermessensentscheidung, bei der im Allgemeinen eine erhebliche Rechtsfrage nicht zu lösen ist (RS0087606). Allerdings ist im vorliegenden Fall aufzugreifen, dass die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin treffe ein gleichteiliges Mitverschulden, nicht auf den vom Erstgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen beruht. Dies führt die Klägerin in der Revision erkennbar auch ins Treffen und macht damit im Ergebnis eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens geltend (RS0043057 [insb T8]). Diese liegt darin, dass das Berufungsgericht seine rechtliche Beurteilung unter Abweichung von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts ohne Durchführung einer Beweiswiederholung getroffen hat (RS0043057 [T3]).
[18] 3. Anzumerken bleibt, dass das Berufungsgericht entgegen den Revisionsausführungen zutreffend davon ausgegangen ist, dass das Begehren der Klägerin auf Verdienstentgang, das isoliert auf dem ihr vor dem Unfall zugekommenen Bruttoverdienst für Zulagen beruht, unschlüssig geblieben ist.
[19] Der Geschädigte ist in Bezug auf seinen Verdienstentgang grundsätzlich so zu stellen, wie er stünde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Der Schaden ist daher durch eine Differenzrechnung zu ermitteln, bei der das hypothetische Einkommen ohne das schädigende Ereignis mit dem tatsächlich nach dem schädigenden Ereignis erzielten Einkommen verglichen wird. Dabei ist grundsätzlich vom Nettoschaden auszugehen, weil dem Geschädigten auch ohne Unfall nur die Nettoeinkünfte verblieben wären, also die um Steuer und sonstige Abgaben verminderten Bruttoeinkünfte. Der tatsächlich erzielte Nettoverdienst samt einer allenfalls ausbezahlten Sozialversicherungsleistung ist daher vom hypothetischen Nettoverdienst, den der Geschädigte ohne den Unfall nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge erzielt hätte, abzuziehen. Damit dem Geschädigten der Differenzbetrag ungeschmälert verbleibt, müssen ihm aber auch jene Steuern und Abgaben ersetzt werden, die durch die Schadenersatzleistung selbst entstehen. Diese ist daher so zu bemessen, dass sie unter Berücksichtigung der durch sie wieder entstehenden Abzüge dem Nettoschaden entspricht (2 Ob 184/17y Punkt 1.1. mwN; RS0031017).
[20] 4. Insgesamt war die Rechtssache damit in dem im Revisionsverfahren noch strittigen Umfang zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, das die Frage des Mitverschuldens unter Beachtung der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen neuerlich zu beurteilen haben wird.
[21] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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